Kyrie Eleison
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Amokfahrt durch Grazer Innenstadt
Drei Tote – Lenker des Fahrzeugs bereits festgenommen
Graz – Der ramponierte grüne Geländewagen steht wie ein Geisterfahrzeug vor dem Polizeiwachzimmer in der Schmiedgasse. An der Beifahrerseite hängt ein leichter weißgrauer Damenschal, unter dem Auto baumelt ein Turnschuh. Ein Scheinwerfer leuchtet noch hinter dem zerquetschten Blech heraus. Wo der Wagen steht, ist es still, die Straße am Anfang und Ende abgesperrt. Es ist kurz nach halb zwei am Samstagnachmittag und ein Beamter warnt den STANDARD und einen Kollegen vom ORF, nicht zu nahe ran zu gehen: "Wir wissen noch nicht, was da sonst drinnen ist."
Die Parallelstraße der Schmiedgasse ist die wichtigste Einkaufsstraße mit Fußgängerzone der Stadt: Die Herrengasse. Hier spielte sich nur eineinhalb Stunden zuvor die Hölle ab. Der Fahrer des Geländewagens raste mit rund 100 kmh die Straße, die den Jakominiplatz und den Hauptplatz verbindet hinunter – offenbar auf der Jagd nach Fußgängern. Die Straße war voll, es war ein sonniger Samstag, viele Menschen saßen in den Straßencafés. Drei Tote sind bisher bestätigt. Ein Todesopfer ist ein vierjähriger Bub, ein 25-jähriger Mann und eine 28-jährige Frau. 34 Menschen wurden verletzt, davon waren am Samstagabend noch immer sechs Personen in Lebensgefahr.
foto: apa/elmar gubisch
In der Innenstadt bot sich ein Bild wie nach einem Anschlag, der Hauptplatz und die Herrengasse wurden großräumig abgesperrt.
Der Grazer Bürgermeister, Siegfried Nagl, war selbst auf seiner Vespa in der Altstadt unterwegs und beobachtete, wie der Fahrer absichtlich eine Frau niederfuhr. Der Mann dürfte schon am Kaiser Josef Platz losgerast sein. Der Lenker hatte allerdings schon zuvor auf seiner Fahrt mehrere Fußgänger niedergestoßen. Da Rettungskräfte zu diesem Zeitpunkt schon in der ganzen Innenstadt im Einsatz waren, blieb der Schwerverletzte am Markt vorerst nur notdürftig versorgt.
In denselben Minuten, einige hundert Meter entfernt, landete ein Rettungshubschrauber am Rasen vor der Grazer Oper. In der Nähe des Operncafes hatte der Amokfahrer ebenfalls Passanten mit seinem Auto attackiert. Der Mann fuhr anschließend mit seinem Geländewagen in die Hamerlinggasse und weiter in die Herrengasse.
In der Innenstadt bot sich ein Bild wie nach einem Anschlag, der Hauptplatz und die Herrengasse wurden großräumig abgesperrt, weinende Menschen lehnten den Hauswänden, auf der Straße lag ein zerbeultes Kinderfahrrad. Die Amokfahrt durch mehrere Straßenzüge in der Innenstadt hat fünf Minuten gedauert. Danach stellte sich der Täter.
"Ich war gerade in der Apotheke in der Herrengasse Ecke Stempfergasse, berichtet die Kunstgeschichtestudentin Joana T. dem STANDARD, "plötzlich habe ich nur mehr Schreie gehört, wir sind hinausgelaufen und haben Menschen herum liegen sehen, der Wagen ist Richtung Hauptplatz weitergerast". Auf Höhe Murgasse soll der Wagen dann laut einer Augenzeugin der APA ins Schleudern gekommen sein.
foto: standard/schmidt
Die Rettungskräfte aus der gesamten Region wurden in Graz zusammengezogen.
Der Mann ist ein 26-jähriger Kraftfahrer mit österreichischer Staatsbürgerschaft und "bosnischem Bezug" aus dem Bezirk Graz-Umgebung, der bereits zuvor "als gewaltbereit in Erscheinung getreten" sei, sagte Landespolizeidirektor Josef Klamminger bei einer Pressekonferenz am späten Nachmittag. Der Mann ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er wurde nach häuslicher Gewalt am 28. Mai von seinem Wohnsitz weggewiesen. Laut Polizei werden politische, religiöse oder extremistische Motive aufgrund seiner Vorgeschichte ausgeschlossen. Es handelte sich um einen Einzeltäter, wobei nun ein psychologisches Gutachten eingeholt werde, sagte Klamminger.
In den beiden Stunden danach wurde es immer ruhiger in der Herrengasse. Nur die Sirenen von Polizeiautos und Krankenwagen verstummten nicht. Und überall stehen betroffene Menschen. Schweigend oder weinend oder sie erzählen sich leise, was sie gehört oder gesehen haben.
Krisenstab eingerichtet
"Wir sind alle gefordert, das Miteinander zu suchen und Gräben nicht aufzubauen, so der steirische Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer in einer Pressekonferenz am Samstagnachmittag. Sein Stellvertreter Michael Schickhofer (SPÖ) sagte: "Es tut unendlich weh, für mich als Familienvater nicht zu fassen, was hier passiert ist. Es wurde alles getan, um die Verletzten sofort zu versorgen." Die Versorgungskette habe funktioniert, 84 Rettungswägen, Ärzte, die als Passanten unterwegs waren, halfen sofort. Vier Hubschrauber waren im Einsatz, die Verletzten wurden in Spitälern in Graz, Klagenfurt und Oberwart gebracht. Die Kriseninterventionsteams waren und sind im Einsatz.
Nagl: "Ich konnte ausweichen"
Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl war selbst im Visier des Mannes, der auf seiner Amokfahrt drei Menschen tötete. Er sieht bei der Pressekonferenz sichtlich mitgenommen aus.
Nach der Pressekonferenz erzählte er dem STANDARD von den traumatischen Erlebnissen: "Ich war in der Zweigelgasse mit meiner Vespa unterwegs als es einen furchtbaren Kracher gemacht hat. Ich hab nur gedacht: ein Unfall! Dann hab ich aber gesehen wie das Auto den Linienbus auf dem Gehsteig überholt hat und direkt auf ein Paar zugerast ist. Die beiden sind durch die Luft gewirbelt worden. Er war sofort tot. Dann ist er weiter gefahren, auf die nächste Person zu, die hatte Glück, das sie eine Betonsäule geschützt hat. Auf mich ist er auch losgefahren, ich hab sein verbissenes Gesicht gesehen, das war ein Wahnsinn. Ich konnte ausweichen. Dann hab ich gehofft er fahrt in Richtung Autobahn raus aus der Stadt, aber er ist in die Stadt gefahren ...." Dem Bürgermeister kommen kurz die Tränen.
Er habe dann "sofort die Polizei angerufen, mir war klar, das war kein Unfall. Es war wahnsinnig schnell ein Sanitäter da und die Rettung. Man hat versucht der Frau des Paares zu helfen. Aber sie hat schon so einen Blick gehabt .... Und überall war Blut." Auf die Frage, ob auch er sich vom Kriseninterventionszentrum betreuen ließ, winkt Nagl mit zittriger Hand ab, "es geht schon, ich werde hier gebraucht. Ich hab schon einmal so etwas Ähnliches in New York erlebt. Ich habe Glück gehabt."
foto: apa
"Graz trägt Trauer"
Am Abend fand in der Stadtpfarrkirche ein Gedenkgottestdienst unter Beteiligung der Landesregierung statt. Bundesregierung, Bundespräsident, Parteichefs und oberste Kirchenvertreter verurteilten die Amokfahrt. Auf Facebook und Twitter zeigten Menschen ihre Anteilnahme. "Graz trägt Trauer. Unsere Gedanken sind bei den Opfern der Amokfahrt in der Herrengasse", hieß es auf einem Bild, das viele teilten.
(cms, mue, koli, seb, 20.6.2015)
Amokfahrt durch Grazer Innenstadt - Amokfahrt in Graz - derStandard.at ? Panorama