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Aufstand im Warschauer Getto

Marcin

Spitzen-Poster
Aufstand im Warschauer Getto Der Maulwurf unter dem Karussell

18.04.2013 · „Er berührt die Körper der Begrabenen, er zählt, wühlt weiter“, heißt es in einem Gedicht über das Verhältnis der Polen zum Aufstand im Warschauer Getto 1943. Zum Jahrestag diskutiert Polen über seine Geschichte zwischen Gleichgültigkeit und heldenhafter Hilfe.

Von Konrad Schuller, Warschau




© Archiv Am Ende des Aufstands: Deutsche SS-Soldaten führen eine Gruppe von Juden aus dem Warschauer Getto - in die Vernichtungslager



Dies muss der Ort sein: die Kreuzung Miodowastraße und Swietojerska. Rossmann hat auf, die Millennium-Bank wirbt mit Billigkrediten, und vor das Krasinski-Palais haben sie Straßenkunst hingestellt, geflügelte Blechpferdchen in Orange und Grün. Vor siebzig Jahren stand hier das Warschauer Getto in Flammen. Hier war die Mauer, die es vom Rest der Stadt trennte, und hier, gleich außerhalb, muss dieser Rummel gewesen sein, das Karussell, welches Czeslaw Milosz zu seinem furchtbaren Gedicht „Campo di Fiori“ inspirierte: „Der Wind von den brennenden Häusern blies in die Kleider der Mädchen, die fröhliche Menge lachte an diesem schönen Warschauer Sonntag.“ Am 19. April 1943 hatte der Aufstand im Getto begonnen, die größte jüdische Erhebung des Zweiten Weltkriegs. Als Milosz dann jenen „schönen Sonntag“ erlebte, hatten die Deutschen schon begonnen, die Häuser abzureißen, die Bewohner zu töten. Am 16. Mai schrieb der SS- und Polizeiführer Jürgen Stroop in seinen Tagesbericht: „Das ehemalige jüdische Wohnviertel in Warschau besteht nicht mehr.“


Nach dem Krieg haben sich auf den Trümmern zuerst die Blocks des Sozialismus ausgebreitet, und bis heute verrät allenfalls die Reklame an den Litfaßsäulen, dass es mit der Volksrepublik der Kommunisten mittlerweile ebenso vorbei ist wie mit dem „Generalgouvernement“ der Nazis. Wer allerdings weitergeht, die Swietojerska entlang, ins Innere des alten Sperrbezirks, wird bald auf eine atemberaubende Neuerung treffen: Glas und schwingender Beton des 21. Jahrhunderts, das „Museum der Geschichte der Juden in Polen“, frisch erbaut vom polnischen Staat, der Stadt Warschau und internationalen Spendern, darunter die Bundesregierung. An diesem Freitag öffnet es seine Pforten. Die ständige Ausstellung über tausend Jahre jüdischen Lebens in Polen soll Ende 2013 hinzukommen.


Es gab Solidarität, und es gab Gleichgültigkeit

Der Aufstand im Warschauer Getto gehörte zum fürchterlichen Ende dieser Geschichte. Hitler hatte Polen zum Hauptschauplatz des Holocaust gemacht. Auschwitz, Treblinka, Majdanek standen hier, die großen Vernichtungslager, und die Hälfte der etwa sechs Millionen ermordeten Juden waren polnische Bürger. Das Getto aber war der Vorhof der Vernichtung. Auf einer beklemmend kleinen Fläche, kaum größer als das Tempelhofer Flugfeld in Berlin, pressten die Deutschen 460.000 Menschen zusammen - verhungert, krank, verängstigt. Die Bevölkerungsdichte betrug das Dreißigfache des heutigen Berliner Durchschnitts, es stank nach Verwesung, auf den Gehsteigen lagen Tote. Die Massentransporte in die Gaskammern von Treblinka terrorisierten die, welche noch lebten.


Der Aufstand war das dramatische Ende dieser Hölle. Die Deutschen hatten gerade zu einer neuen Deportationswelle angesetzt, da stießen sie auf Widerstand. Ein paar hundert, vielleicht tausend junge Frauen und Männer, oft halbe Kinder, schossen auf die SS, verteidigten Haus für Haus. Es ist nicht klar, ob sie auf Rettung hofften oder ob es ihnen, wie Marek Edelman, einer der wenigen Überlebenden, sich später ausdrückte, nur darum ging, „die Art des Sterbens zu wählen“ - in den Gaskammern oder im Kampf. In der Tat haben nur wenige von ihnen entkommen können. Der junge Kommandeur des Aufstands, Mordechai Anielewicz, und seine letzten Kämpfer töteten sich am 8. Mai 1943, umzingelt in ihrem unterirdischen Versteck.


Und die Polen? Die Warschauer, die damals an der Gettomauer in die Flammen starrten? Das Bild ist uneindeutig. Es gab Denunziation und Verrat an versteckten Juden, und es gab heroische Hilfe. Es gab Solidarität, und es gab Gleichgültigkeit. Der Zwiespalt betraf alle, bis hin zu den Soldaten der polnischen Heimatarmee (AK) im Untergrund. Deren gut organisierte Einheiten überließen den kämpfenden Juden zwar ein paar Waffen und griffen während des Aufstands vereinzelt deutsche Posten an. Insgesamt aber war der Beistand des polnischen Untergrunds so halbherzig, dass Szmul Zygielbojm, der Vertreter der Juden bei der Londoner Exilregierung, sich noch während der Kämpfe aus Protest das Leben nahm.



„Wir wollen nicht sein wie Pilatus“

Auch wer dem Getto entkam, konnte nicht immer auf Hilfe rechnen. Versteckte Juden wurden regelmäßig erpresst, ausgeplündert und denunziert, manchmal aus Habgier, manchmal aber auch aus einem weitverbreiteten Antisemitismus heraus, der sich vor dem Krieg auch in Polen festgesetzt hatte. In manchen Fällen, etwa im Dorf Jedwabne, wo polnische Bauern unter deutscher Aufsicht Hunderte von Juden in einer Scheune verbrannten, kam es zu Pogromen.


Die andere Seite ist, dass Juden zur Zeit des Holocaust nirgendwo so viel Hilfe gefunden haben wie in Polen. Allein in Warschau versteckten mutige Bürger nach manchen Schätzungen trotz drohender Todesstrafe etwa 27.000 Menschen. Die Heimatarmee vollstreckte Hinrichtungen an Denunzianten. Ihr geheimer „Rat für Judenhilfe“ (Zegota), zu dem auch der spätere Außenminister Wladyslaw Bartoszewski gehörte, verschaffte Zehntausenden falsche Papiere und schmuggelte 2500 jüdische Kinder aus dem Getto.





Denunziation, Gleichgültigkeit, Hilfe - erst alles zugleich ergibt das vollständige Bild. „Manche haben uns nur als Lumpen betrachtet, die aus brennenden Häusern sprangen“, hat Icchak Cukierman, einer der Getto-Kämpfer, später über die Warschauer gesagt. „Aber ich habe auch... weinende Polen gesehen. Sie standen und weinten.“ Manchmal ging der Zwiespalt mitten durch die Person. Etwa beim Kanalinspektor Leopold Socha aus Lemberg (Lwiw), dem die Regisseurin Agnieszka Holland in ihrem Film „In der Finsternis“ ein Denkmal gesetzt hat. Socha hatte in der Kanalisation versteckten Juden zuerst nur gegen Geld helfen wollen. Später aber, als sie nichts mehr hatten, schützte er sie unter Lebensgefahr weiter. Sogar erklärte Antisemiten konnten zu heroischen Rettern werden - etwa Zofia Kossak-Szatkowska, eine der wichtigsten Figuren der Judenhilfe. Sie hielt Juden zwar für „Feinde Polens“, war aber zugleich überzeugt, angesichts des „Gemetzels an Millionen wehrloser Menschen“ dürfe niemand passiv bleiben. Alle Feindschaft ändere nichts an der christlichen „Pflicht, das Verbrechen zu verurteilen“. - „Wir wollen nicht sein wie Pilatus“, schrieb die Gründerin der Zegota.


Die Prüfung des Gewissens blieb den Dichtern überlassen

Siebzig Jahre später hat Polen sich in eine Welle der Aufarbeitung gestürzt. Die kommunistischen Jahre waren nicht gut gewesen. Schon gleich nach dem Krieg war es zu Pogromen gegen die überlebenden Juden gekommen, später, im Jahr 1968, wanderten von denen, die übriggeblieben waren, viele aus, weil die Kommunistische Partei eine antisemitische Kampagne gegen „Zionisten“ entfesselte. Heute leben in Polen noch einige zehntausend Juden, die genaue Zahl ist unbekannt.


Die Prüfung des Gewissens blieb damals den Dichtern überlassen und der Opposition im Untergrund. Czeslaw Milosz, der später den Nobelpreis erhielt, hatte seine verzweifelten Verse vom Karussell an der Gettomauer schon 1943 geschrieben, unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe, und noch im selben Jahr schickte er ein weiteres Gedicht hinterher, das den Titel trug „Der arme Christ schaut auf das Getto“. „Ameisen“ und „Bienen“ sind in diesem makabren Poem zugange, um eine eingestürzte Welt aus Ruinen und Verwesung einzuspinnen, zu zersetzen. Zugleich aber gräbt unter der Erde ein „Maulwurf“ seine Gänge, ein „Wächter“, dem nichts entgeht. „Er berührt die Körper der Begrabenen, er zählt, wühlt weiter, erkennt die Menschenasche am regenbogenfarbenen Dunst“, schreibt Milosz - und er endet mit einem Geständnis, das wie kein anderes das tief verstörte Verhältnis der Polen zum Holocaust erhellt: Ich habe „Angst“, so gesteht er, vor dem Wächter-Maulwurf, „große Angst“: „Was sage ich ihm?... Er wird mich zu den Gehilfen des Todes zählen.“


Miloszs „Maulwurf“ als Leitmotiv

Das Bild hatte ungeheure Wirkung. Bis heute ist die Angst vor dem „Wächter“ hinter jeder jener Protestnoten zu spüren, welche polnische Botschafter seit Jahren ausschleudern, wenn in den Zeitungen der Welt das missverständliche Wort von den „polnischen Konzentrationslagern“ auftaucht oder wenn das ZDF Partisanen der Heimatarmee als Antisemiten darstellt. Die Sorge, zu den „Gehilfen des Todes“ zu zählen, hat Polen nie verlassen.

Der Literaturkritiker Jan Blonski war es dann, der Miloszs „Maulwurf“ in den letzten Jahren des Kommunismus zum Leitmotiv machte. In seinem bahnbrechenden Essay „Die armen Polen schauen aufs Getto“ kam er 1987 auf ihn zurück, auf seine beharrliche Frage, warum die Polen denn „ruhig zugesehen“ hätten, als die Juden starben - und „wir“, fährt Blonski fort, die Polen, würden dann „fühlen, dass etwas nicht in Ordnung ist“, dass sie „die Pflichten der Barmherzigkeit und der Brüderlichkeit“ vernachlässigt haben.


Die Solidarność hat damals dieses Signal aufgenommen, und bis heute wirkt Blonskis Aufruf nach. Ein Jahr später, 1988, kurz vor dem Kollaps des Kommunismus, beging der Solidarność-Führer Lech Walesa den 45. Jahrestag des Gettoaufstands zusammen mit dem überlebenden Marek Edelman. Nach der Wende hat dann Präsident Aleksander Kwasniewski für das Pogrom von Jedwabne um Vergebung gebeten. Filme und Bücher haben das Verhältnis zwischen Juden und Polen ausgeleuchtet, und an diesem Freitag wird mit dem neuen Museum der jüdischen Geschichte die verlorene „Schwesternation“ der Polen (ein Wort des Nationaldichters Adam Mickiewicz) in der Gedenktopographie Warschaus ihren Platz finden.


Die pluralistische Tradition der alten Adelsrepublik

Und der polnische Antisemitismus? Den gibt es noch, trotz allem; erst kürzlich hat eine Umfrage ergeben, dass 40 Prozent der polnischen Mittelschüler keine jüdischen Schulkameraden wollen. Andererseits sind die Zahlen seit dem Ende des Kommunismus immer besser geworden, und Polen hat nach 1989 immerhin drei jüdische Außenminister gehabt.


Vor dem bevorstehenden Jahrestag ist nun eine Frage wieder gestellt worden, die schon damals eine Rolle spielte, als das Getto brannte. War die Unterscheidung zwischen „Juden“ und „Polen“ nicht immer ein politischer Irrtum gewesen? Hatten nicht die jüdischen Kämpfer, als sich an der Gettomauer noch fröhlich das Karussell drehte, neben der blau-weißen jüdischen Fahne auch das polnische Weiß-Rot gehisst? Hatte nicht Marek Edelman, der berühmteste Überlebende, nach der Niederlage bei den „Polen“ weitergekämpft, bei der Heimatarmee? War er nicht Jahrzehnte später wie jeder gute Pole bei der Solidarność gewesen und sogar interniert worden? Kurzum: Waren die Männer und Frauen im Getto nicht, wie die „Gazeta Wyborcza“ unlängst fragte, „Polen im republikanischen Sinne“?



Der Gedanke ist in den vergangenen Tagen ungezählte Male variiert worden, und zwar nicht im Sinne einer billigen „Eingemeindung“ der Juden in einem uniformen Klassenkonzept, wie das noch die Kommunisten versucht hatten, sondern im Rückgriff auf die pluralistische Tradition der alten „jagiellonischen“ Adelsrepublik, als sich neben Polen auch Litauer, Ukrainer, Deutsche und eben auch Juden zur überethnischen Staatsnation zählten. Der bekannteste Fürsprecher solcher Gedanken ist heute Wladyslaw Bartoszewski, der Mitbegründer der Zegota. Kürzlich hat er gesagt, eine so „romantische“, also im altpolnischen Sinne ebenso chancenlose wie begeisterte Revolte wie den Gettoaufstand hätten eben nur „polnische“ Juden inszenieren können. „Ich wiederhole: polnische. In keinem anderen... Land wäre so ein polnisch-jüdischer Wahnsinn möglich gewesen.“


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