Geschwistermord in Berlin
27.07.2011
Geschwistermord
Die verlorene Ehre der Familie Sürücü
Von Barbara Hans
Mit drei Kopfschüssen tötete Ayhan Sürücü seine Schwester Hatun - warum? Eine Dokumentation rekonstruiert nun die Familiengeschichte des kurdischen Clans in Berlin und Anatolien, entlarvt Doppelmoral und falsches Ehrverständnis. Die Reporter sprachen auch mit dem Mörder.
Hamburg - Der Mann, der seine Schwester erschoss, um die Ehre der Familie zu retten, hat gute Manieren. Ayhan Sürücü bereitet seinen Gästen einen herzlichen Empfang, kocht Tee, spricht höflich. Das macht man so. "Ich war mit mir selbst zufrieden, weil ich diesen Entschluss, den ich schon lange in mir getragen habe, endlich gemacht habe", sagt der heute 25-Jährige, Dreitagebart, kurze Haare, schwarz-grauer Ringelpullover. Im Hintergrund sieht man die vergitterten Fenster der JVA Berlin-Charlottenburg.
Sechs Jahre und sechs Monate ist es her, dass Ayhan Sürücü seine Schwester tötete, an der Bushaltestelle Oberlandstraße in Berlin Tempelhof, durch drei Schüsse in ihren Kopf. "Ich schlafe mit jedem, mit dem ich will", soll Hatun Sürücü an jenem Abend gesagt haben. Sie wusste nicht, dass ihr kleiner Bruder eine Waffe bei sich trug. Dass sie in Gefahr war, wusste sie sehr wohl. Sie selbst hatte sich an das Jugendamt gewandt, ihre Probleme in einem Brief beschrieben, um Hilfe gebeten. Doch sie suchte auch immer wieder den Kontakt zu ihrer Familie, zu ihren acht Geschwistern, zu den Eltern, die in einer Vier-Zimmer-Wohnung am Kottbusser Tor in Berlin lebten.
Nach der achten Klasse meldete der Vater Hatun vom Gymnasium ab, sie war zu aufmüpfig. Die Eltern verheirateten ihre älteste Tochter in der Türkei mit einem Cousin, 1999 wurde sie schwanger. Hatun zerstritt sich mit der Familie ihres Mannes, kehrte mit ihrem Sohn Can nach Berlin zurück. Dort zog sie zunächst wieder in die Wohnung ihrer Eltern, aber lange hielt sie die Enge nicht aus. Bei der Familie zu leben hieß zugleich, sich ihren Regeln unterzuordnen. Frauen mussten sich in anderen Zimmern aufhalten als Männer, Kopftuch war Pflicht.
Ayhan nimmt die Schuld auf sich - die Brüder flüchten ins Ausland
Doch Hatun legte das Kopftuch ab, zog mit ihrem Sohn in ein Mutter-Kind-Heim, holte ihren Hauptschulabschluss nach, begann eine Lehre als Elektroinstallateurin.
"Sie lebte zu offen, was ihre Beziehungen zu Männern angeht", sagt Ayhan Sürücü, der Mörder seiner Schwester, heute, Jahre nach der Tat. Die Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll haben ihn getroffen, interviewt und in einer eindrucksvollen Dokumentation die Geschichte der Familie Sürücü rekonstruiert.
Sie haben das ostanatolische Dorf besucht, aus dem die Eltern stammen, in dem die Menschen noch heute in Steinhütten leben - und doch fortschrittlicher denken als ihre Landsleute am Kottbusser Tor. Es ist die Annäherung an eine Familie, die in den siebziger Jahren nach Deutschland kam, um ihr Glück zu finden - und doch ihre alten Denk- und Wertemuster konservierte, sich schließlich selbst zerstörte.
Ayhan Sürücü benennt seine Tat nicht. "Ich bin davon ausgegangen, dass die das gutheißen", sagt er, und meint seine Familie. "Hinter dem Begriff 'Ehre' stand in Klammern immer 'Frau'."
Ayhans Freundin Melek sagte im Mordprozess als Zeugin aus - und belastete seine Brüder schwer. Sie sollen die Waffe besorgt, den Plan mit geschmiedet haben. Heute werden sie mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Vor Gericht nahm Ayhan die Schuld allein auf sich. Melek ist untergetaucht, zu groß ist die Gefahr, die von den freien Sürücü-Brüdern ausgeht. "So lange sie nicht dafür bezahlen, habe ich keine Ruhe", wird sie in dem Film zitiert.
"Ich konnte nichts anderes lernen"
In Istanbul haben die Filmemacher Hatuns Bruder Mutlu getroffen. Eine Beteiligung an der Tat hat er stets bestritten. Der Film zeigt ihn auf einem Teppich betend, auf der Couch mit seinen beiden Kindern. In Deutschland hat er Abitur gemacht, sogar beim Bund gedient. Heute lebt er in Freiheit. Und Sicherheit: Die Türkei liefert ihre eigenen Staatsbürger nicht aus.
Er sagt Sätze wie: "Wenn man Allah verehrt, ist man ein freier Mensch, auch wenn man im Gefängnis sitzt." Was hat Hatun falsch gemacht, warum musste sie sterben? "Der Lebenswandel", sagt Mutlu. "Warum möchte man sich so schön anziehen? Rausgehen? Um Männer anzumachen." Mutlu sagt, er heiße die Tat nicht gut. Selbstjustiz sei verboten im Koran. Dann setzt er nach: "Unzucht aber auch."
Die Dokumentation zeigt eine Familie, die nie in Deutschland angekommen ist. Ayhan und sein Bruder sprechen über Schuld, Ehre, Reue. Allein: Es fällt schwer, ihnen das vermeintliche Bedauern abzunehmen. Sie sprechen über ihre Schwester wie eine Fremde. Scheinbar regungslos, sachlich, distanziert. Hatuns jüngere Schwester wird gefragt, ob sie "böse sei" auf Ayhan, auf die Tat. "Weiß ich nicht", lautet ihre Antwort.
Ayhan sagt, er habe "den größten Fehler" seines Lebens begangen. "Aber ich konnte auch nichts anderes lernen."
Und Mutlu, der Bruder im Untergrund? Er bete für seine Schwester, sagt er. "Dass Allah ihr vergibt, die Sünde."
"Verlorene Ehre - Der Irrweg der Familie Sürücü": Ein Film von Matthias Deiß und Jo Goll. Mittwoch, 27. Juli 2011, 23.00 Uhr in der ARD und am 22. August, 21.00 Uhr im RBB
Das Buch "Ehrenmord - Ein deutsches Schicksal" ist erschienen bei Hoffmann und Campe.