Doch das „Freilichtmuseum" steckte voller Konflikte. Mit dem Selbstbestimmungsrecht hatten die Eroberungen von 1912/13 nichts zu tun. Etwa drei Viertel der Bevölkerung Kosovos waren albanischsprachig. Im Sandzak lebten mehrheitlich Muslime (türkischer und südslawischer Sprache). Und in Vardar-Makedonien bildeten die Serben nur eine verschwindend kleine Minderheit im Norden. Verlässliche Zahlen existieren zwar nicht, aber sicher ist, dass die Mehrheit der slawischsprachigen Bevölkerung Makedoniens noch kein nationales Bewusstsein entwickelt hatte. Anders als 1878 verleibte sich Serbien nun erstmals im großen Stil Territorien ein, in denen die serbische Bevölkerung eine deutliche Minderheit darstellte. Damit verlor es seine ethnische Homogenität und wurde zu einem Vielvölkerstaat (mit über 25 % Nicht-Serben). Dies stellt die wohl wichtigste Zäsur in der serbischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts dar; Mit den Eroberungen von 1912/13 hatte die serbische Politik ihren ethnonationalen Rahmen gesprengt und die territoriale Erweiterung über die sozioökonomische Entwicklung gestellt.
Serbische Patrioten sagen: Kosovo, der Sandzak und Makedonien wurden 1912/13 „befreit".423 Aber was heißt das? Ein Gebiet ist nicht frei oder unfrei. Frei oder unfrei sind die darauflebenden Menschen, Und die waren mehrheitlich keine Serben. Dessen ungeachtet verkündete König Peter Karadjordjevic am 7. September 1913 die Annexion der eroberten Gebiete. Die Balkankriege und die internationalen Verhandlungen des Jahres 1913 wurden
in Kosovo und Teilen Makedoniens von heftigen serbisch-albanischen Kämpfen, massiven Ausschreitungen serbischer Truppen und paramilitärischer Verbände gegen die albanische und sonstige nicht-serbische Bevölkerung, von Massenflucht, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen zur Orthodoxie begleitet. In einem Bericht des österreichisch-ungarischen Generalkonsuls in Skopje von Ende Oktober 1913 heißt es: „Mich für einen Serben haltend erwähnte [ein serbischer Feldwebel], dass er an der ... Offensive gegen Luma [westlich von Prizren vom 5.-8. Oktober 1913] teilgenommen habe. (...) Während nun das
10. Regiment (...) vorrückte ..., verlegte es zugleich der zurückgebliebenen albanischen
Dorfbevölkerung den Weg nach rückwärts; sein eigenes Bataillon, dem sich eine Anzahl bewaffneter Serben aus (Prizren) angeschlossen hatte, sperrte den unglücklichen Bauern nach allen übrigen Seiten den Weg zur Flucht ab. Sobald nun ein Dorf vollkommen zerniert war, wurden die männlichen Einwohner herausgerufen, in Reih und Glied gestellt und niedergeschossen. Hierauf wurden die Häuser angezündet, die herausflüchtenden Frauen und Kinder mit Bajonetten in die brennenden Heimstätten zurückgetrieben, wo sie umkamen." In manchen Dörfern seien die Frauen gewaltsam aus den Häusern geschleppt und niedergemetzelt worden. Der Feldwebel selbst habe an der Vernichtung von ca. zehn Dörfern mitgewirkt.424 Auch die britische Reiseberichterstatterin und Krankenschwester Mary Edith Durham (1863-1944), die seit der Jahrhundertwende den Balkan durchquert und 1904 ein mit viel Verständnis, Humor und Sympathie für die Serben geschriebenes Buch Through the Lands of the Serb" veröffentlicht hatte, war irritiert von den Gewaltexzessen serbischer und montenegrinischer Kämpfer in den Balkankriegen, von der Niedermetze-lung der Frauen und Kinder und den Todesqualen, denen albanische Gefangene ausgesetzt wurden.425 Auch die diplomatischen Vertreter der europäischen Mächte berichteten ausführlich über die Gräueltaten.426 Insgesamt wurden im Verlauf des ersten Balkankrieges schätzungsweise 20.000 Albaner getötet. Und nach der Annexion des Gebiets traten rund 60.000 Muslime die Flucht an.
Die Brutalität, mit der die Balkankriege von allen Beteiligten geführt wurden, weckte weltweites Aufsehen. Im Verlauf der Kriege kam es zu den ersten ethnischen Säuberungen großen Stils in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.427 Der Schock über die
Säuberungen saß umso tiefer, als sie nur fünf Jahre nach Verabschiedung der Haager Landkriegsordnung von 1907 stattfanden. Ziel der Landkriegsordnung war es gewesen, jede Form des Krieges (den „gerechten" wie „ungerechten", den Angriffs- wie den Verteidigungskrieg) zu „zivilisieren", d. h., den Krieg in ein Regelwerk einzubinden. Zu diesem Zweck wurde klar zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung unterschieden. Aber kaum waren die Regeln erstellt, wurden sie gebrochen. Die von Zeitgenossen mit Irritation beobachtete „neue Qualität" der Balkankriege bestand darin, dass die Grenzen zwischen Kriegführenden und Zivilisten weitgehend missachtet oder gänzlich ignoriert wurden. Ein wesentlicher Grund dafür waren die Cetniks bzw. die Tradition des Bandenkriegs, der seit Ende des 19. Jahrhunderts in den von mehreren Nationalbewegungen umkämpften Gebieten des Balkanraums kontinuierlich zugenommen hatte.428 (Ein anderer Grund war das Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. jene dunkle, i.d.R. ignorierte Seite eines emanzipatorischen Projekts, das sich in sein Gegenteil verkehrte. Wo das „Volk" ethnisch - nicht politisch - verstanden wurde und wo es um den Besitz eines ethnisch gemischt besiedelten Territoriums ging, zeitigte das Selbstbestimmungsrecht mit der ihm innewohnenden Beweislast: alle oder zumindest die große Mehrheit der Bewohner eines Gebiets gehören zu „uns", auch wenn sie die „falsche" Sprache sprechen, eine „falsche" Religion haben oder irgendwie sonst vom richtigen Weg ihrer Vorfahren abgekommen sind, verheerende Konsequenzen.) Doch bleiben wir bei den Banden, den Guerilleros, unter ihnen die serbischen Cetniks,429 die von der jeweiligen Historiographie als patriotisch-nationale Formationen verherrlicht wurden und werden (gleich den Haiducken). Was die Cetniks von den Haiducken unterschied, war ihre nationale oder nationalistische Motivation und ihr höherer Organisationsgrad. Ansonsten waren die Unterschiede gering. Beide befürworteten den Einsatz von Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele; beide agierten vornehmlich aus dem Hinterhalt; beide unterschieden nicht zwischen Zivilisten und militärischen Gegnern. Die Mitglieder der eigenen Banden galten als Helden, die der Gegenseite als Verbrecher. An diesem doppelten Standard hat sich bis in die postjugoslawischen Kriege der 1990er Jahre hinein nichts geändert. Nach heutigen Maßstäben waren die irregulären Banden, egal aufweicher Seite sie kämpften, „terroristische Vereinigungen". Der (oft erzwungene) Rückhalt dieser Terrorgruppen in Teilen der eigenen Bevölkerung, ihr Rekurs auf Helfershelfer, die Verherrlichung dieser Helfer in der Popularkultur, ............
Serbische Patrioten sagen: Kosovo, der Sandzak und Makedonien wurden 1912/13 „befreit".423 Aber was heißt das? Ein Gebiet ist nicht frei oder unfrei. Frei oder unfrei sind die darauflebenden Menschen, Und die waren mehrheitlich keine Serben. Dessen ungeachtet verkündete König Peter Karadjordjevic am 7. September 1913 die Annexion der eroberten Gebiete. Die Balkankriege und die internationalen Verhandlungen des Jahres 1913 wurden
in Kosovo und Teilen Makedoniens von heftigen serbisch-albanischen Kämpfen, massiven Ausschreitungen serbischer Truppen und paramilitärischer Verbände gegen die albanische und sonstige nicht-serbische Bevölkerung, von Massenflucht, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen zur Orthodoxie begleitet. In einem Bericht des österreichisch-ungarischen Generalkonsuls in Skopje von Ende Oktober 1913 heißt es: „Mich für einen Serben haltend erwähnte [ein serbischer Feldwebel], dass er an der ... Offensive gegen Luma [westlich von Prizren vom 5.-8. Oktober 1913] teilgenommen habe. (...) Während nun das
10. Regiment (...) vorrückte ..., verlegte es zugleich der zurückgebliebenen albanischen
Dorfbevölkerung den Weg nach rückwärts; sein eigenes Bataillon, dem sich eine Anzahl bewaffneter Serben aus (Prizren) angeschlossen hatte, sperrte den unglücklichen Bauern nach allen übrigen Seiten den Weg zur Flucht ab. Sobald nun ein Dorf vollkommen zerniert war, wurden die männlichen Einwohner herausgerufen, in Reih und Glied gestellt und niedergeschossen. Hierauf wurden die Häuser angezündet, die herausflüchtenden Frauen und Kinder mit Bajonetten in die brennenden Heimstätten zurückgetrieben, wo sie umkamen." In manchen Dörfern seien die Frauen gewaltsam aus den Häusern geschleppt und niedergemetzelt worden. Der Feldwebel selbst habe an der Vernichtung von ca. zehn Dörfern mitgewirkt.424 Auch die britische Reiseberichterstatterin und Krankenschwester Mary Edith Durham (1863-1944), die seit der Jahrhundertwende den Balkan durchquert und 1904 ein mit viel Verständnis, Humor und Sympathie für die Serben geschriebenes Buch Through the Lands of the Serb" veröffentlicht hatte, war irritiert von den Gewaltexzessen serbischer und montenegrinischer Kämpfer in den Balkankriegen, von der Niedermetze-lung der Frauen und Kinder und den Todesqualen, denen albanische Gefangene ausgesetzt wurden.425 Auch die diplomatischen Vertreter der europäischen Mächte berichteten ausführlich über die Gräueltaten.426 Insgesamt wurden im Verlauf des ersten Balkankrieges schätzungsweise 20.000 Albaner getötet. Und nach der Annexion des Gebiets traten rund 60.000 Muslime die Flucht an.
Die Brutalität, mit der die Balkankriege von allen Beteiligten geführt wurden, weckte weltweites Aufsehen. Im Verlauf der Kriege kam es zu den ersten ethnischen Säuberungen großen Stils in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.427 Der Schock über die
Säuberungen saß umso tiefer, als sie nur fünf Jahre nach Verabschiedung der Haager Landkriegsordnung von 1907 stattfanden. Ziel der Landkriegsordnung war es gewesen, jede Form des Krieges (den „gerechten" wie „ungerechten", den Angriffs- wie den Verteidigungskrieg) zu „zivilisieren", d. h., den Krieg in ein Regelwerk einzubinden. Zu diesem Zweck wurde klar zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung unterschieden. Aber kaum waren die Regeln erstellt, wurden sie gebrochen. Die von Zeitgenossen mit Irritation beobachtete „neue Qualität" der Balkankriege bestand darin, dass die Grenzen zwischen Kriegführenden und Zivilisten weitgehend missachtet oder gänzlich ignoriert wurden. Ein wesentlicher Grund dafür waren die Cetniks bzw. die Tradition des Bandenkriegs, der seit Ende des 19. Jahrhunderts in den von mehreren Nationalbewegungen umkämpften Gebieten des Balkanraums kontinuierlich zugenommen hatte.428 (Ein anderer Grund war das Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. jene dunkle, i.d.R. ignorierte Seite eines emanzipatorischen Projekts, das sich in sein Gegenteil verkehrte. Wo das „Volk" ethnisch - nicht politisch - verstanden wurde und wo es um den Besitz eines ethnisch gemischt besiedelten Territoriums ging, zeitigte das Selbstbestimmungsrecht mit der ihm innewohnenden Beweislast: alle oder zumindest die große Mehrheit der Bewohner eines Gebiets gehören zu „uns", auch wenn sie die „falsche" Sprache sprechen, eine „falsche" Religion haben oder irgendwie sonst vom richtigen Weg ihrer Vorfahren abgekommen sind, verheerende Konsequenzen.) Doch bleiben wir bei den Banden, den Guerilleros, unter ihnen die serbischen Cetniks,429 die von der jeweiligen Historiographie als patriotisch-nationale Formationen verherrlicht wurden und werden (gleich den Haiducken). Was die Cetniks von den Haiducken unterschied, war ihre nationale oder nationalistische Motivation und ihr höherer Organisationsgrad. Ansonsten waren die Unterschiede gering. Beide befürworteten den Einsatz von Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele; beide agierten vornehmlich aus dem Hinterhalt; beide unterschieden nicht zwischen Zivilisten und militärischen Gegnern. Die Mitglieder der eigenen Banden galten als Helden, die der Gegenseite als Verbrecher. An diesem doppelten Standard hat sich bis in die postjugoslawischen Kriege der 1990er Jahre hinein nichts geändert. Nach heutigen Maßstäben waren die irregulären Banden, egal aufweicher Seite sie kämpften, „terroristische Vereinigungen". Der (oft erzwungene) Rückhalt dieser Terrorgruppen in Teilen der eigenen Bevölkerung, ihr Rekurs auf Helfershelfer, die Verherrlichung dieser Helfer in der Popularkultur, ............