Land der Skipetaren, Land der Blutrache
In Albanien ist die Blutrache noch immer üblich. Viele Menschen trauen sich oft jahrelang nicht aus dem Haus.
Mit der Blutrache regelte man auch im 15. Jahrhundert Streitigkeiten. In Albanien ist das heute noch üblich. Die aus dem Mittelalter stammenden Blutrache, nach der jeder gewaltsame Tod eines Menschen mit der Ermordung eines Familienmitglieds des Täters "gesühnt" werden muss, ist im Süden des Balkans noch immer nicht ausgestorben. Allein im kleinen Albanien lebten im vergangenen Jahr 320 Familien mit der Angst, dass einer von ihnen der Blutrache zum Opfer fällt, berichtete das "Nationale Versöhnungskomitee".
Schweigen
Das albanische Sozialministerium hatte für das Jahr 2003 nicht weniger als 1.024 Kinder gezählt, die aus Furcht vor ihrer Ermordung im selbst gewählten Hausarrest lebten. Verlässliche Zahlen über die Opfer der Blutrache gibt es nicht. Oft hüllen sich alle Beteiligten in Schweigen, meist ist ihr soziales Umfeld Teil der blutigen Auseinandersetzung.
Für 2003 wurde die Zahl der Fälle von Blutrache in Albanien auf 1.370 Familien mit rund 7.000 Menschen geschätzt. Die meisten von ihnen trauten sich oft Jahre lang nicht aus dem Haus, weil sie mit ihrer Ermordung rechneten. Kinder gingen nicht in die Schule und blieben Analphabeten, die Großfamilie machte alle Besorgungen für die wie Gefangene im eigenen Haus lebenden Verwandten.
1.200 Blutracheopfer
Blutrache kann nicht nur durch Mord und Totschlag, sondern auch durch Familienkonflikte über Eigentumsfragen, Ehebruch, Ehrverletzungen von Clanmitgliedern, ja selbst durch Verkehrsunfälle ausgelöst werden. Allein zwischen 1991 und 1998 sind in Albanien rund 1.200 Menschen Opfer der Blutrache geworden, berichteten die Medien. Auch unter den Albanern im benachbarten Kosovo sind immer wieder Fälle von Blutrache bekannt geworden. Nach dieser Denkweise kann die von "Schande" befleckte "Ehre der ganzen Familie" nur durch das Blut der Gegenseite wieder hergestellt werden.
15. Jahrhundert
Begründet liegt die Blutrache in den als Gewohnheitsrecht aufgeschriebenen "Gesetzen" des albanischen Adeligen Lek Dukagjini, der im 15. Jahrhundert lebte. Soziologen erklären die grausamen Riten damit, dass über viele Jahrhunderte keine Staatsmacht die Clans in den Gebirgsregionen unter Kontrolle bringen konnte. Mit der Blutrache regelten die Bergstämme ihre Streitigkeiten. Folgerichtig liegt auch heute noch eine Hochburg der Blutrache in den unwegsamen Gebirgszonen Nordalbaniens um die Stadt Shkodra.
Blutrache verjährt nie. Es sind Fälle bekannt geworden, dass Morde mit Mord gerächt wurden, die 40 und 50 Jahre zurück lagen. Seit den neunziger Jahren hatte es vorübergehend große Erfolge bei Versöhnungsaktionen gegeben. Zur feierlichen "Blutvergebung" waren im Kosovo zeitweise bis zu 100.000 Menschen erschienen. Der pensionierte Volkskunde-Professor Antun Cetta konnte 1990 allein in nur vier Monaten 1.200 in Blutrache verfeindete Familien aussöhnen. Die Bemühungen zur Hilfe von außen sind geblieben. Erst im vergangenen November haben sich Europa-Abgeordnete in Tirana damit beschäftigt.
Artikel vom 20.08.2006, 12:23 | dpa | grü
http://www.kurier.at/nachrichten/ausland/24321.php?from/nachrichten/ausland/24318