Fidel Castro hat seine von einem Journalisten zitierte Selbstkritik abgestritten. Gescheitert sei nicht das kubanische Modell, sondern der Kapitalismus.
Peter Gaupp, San José de Costa Rica
Die Welt ist wieder in Ordnung. Noch vor drei Tagen musste man annehmen, Kubas 84-jähriger pensionierter Revo- lutionschef Fidel Castro spiele neuerdings die charakterfremde Rolle des Selbstkritikers. Altersweisheit eines von der Zigarre zur Mittelmeerdiät Bekehrten, Symptom metaphysischen Gruselns nach seiner Streifkollision mit dem Tod oder wahrheitsbeflissene Arbeit am eigenen Bild in der Geschichte?, fragte man sich. Nun hat Castro selbst das Rätsel gelöst: Es war ein Missverständnis.
Missverstanden
Zur ganzen Aufregung hatte ein Gespräch Fidels mit Jeffrey Goldberg von der Zeitschrift «The Atlantic» geführt. Dieser zitierte letzte Woche auf seinem Blog den Satz: «Es funktioniert nicht einmal bei uns selbst», mit dem Castro die Frage nach der Gültigkeit des kubanischen Modells für andere Länder beantwortet habe. Goldberg, von Fidel in dessen «Reflexionen» auf der Webseite Cubadebate.cu als bester Kenner des israelischen Denkens gelobt und flugs nach Havanna eingeladen, wollte dem «geistig scharfen», aber «physisch fragilen» Rekonvaleszenten nicht nahetreten und versäumte es, sich zu erkundigen, welches Modell denn der Insel besser bekäme. Er mutmasste bloss nachträglich, die Äusserung sei wohl als Ansporn an den Bruder und Präsidenten Raúl zu verstehen, die Dominanz des Staates in der Wirtschaft zu überdenken und das System zu reformieren.
Am Freitag hat Castro, in Uniform einen Text ins Mikrofon lesend, in der Universität von Havanna die Dinge richtiggestellt. Es amüsiere ihn, dass seine Formulierung wörtlich genommen worden sei, sagte er; in Wirklichkeit habe seine Antwort exakt das Gegenteil dessen bedeutet, was Goldberg verstanden habe: Die ganze Welt wisse ja, dass nach seiner Überzeugung das kapitalistische System weder in den USA noch sonst wo funktioniere, sondern zu immer schlimmeren Krisen führe.
Das Dementi war auch zur Beruhigung des kubanischen Publikums gedacht, das zwar von den offiziellen Medien nichts, aber auf Umwegen doch allerlei über Fidels seltsame Äusserung erfahren hatte und seinen Ohren nicht trauen wollte. Die Fidelologen mögen nun werweissen, ob Castro ein missverstandener Ironiker sei, ob ihm ein freudscher Versprecher unterlaufen sei oder ob er auf diese, ihm allein als «lider máximo» zustehende Weise eine unangenehme Wahrheit habe aussprechen wollen, die er sogleich wieder dementieren musste. Unter den kubanischen Exilierten in Florida ist der Gedanke populär, der alte Mann sei einfach nicht mehr Herr seiner Worte. Der Polemiker Carlos Alberto Montaner hat beim Gerontokraten von Havanna schon seit längerem «senile Demenz» diagnostiziert.
Seitenhieb gegen Jelzin
Sicher ist freilich, dass Fidel sich nicht zur Selbstkritik berufen fühlt und sie, wo unvermeidlich, nur widerstrebend übt. Das zeigen zwei Beispiele. Da Castro sich heute mit Vorliebe als Warner vor einer Nuklearkatastrophe im Gefolge des Streits zwischen den USA und Iran in Szene setzt, stände es ihm schlecht an, sein Verhalten in der Raketenkrise 1962 zu verteidigen, als er die Sowjetführung zum Einsatz auf Kuba stationierter Atomwaffen gegen die Vereinigten Staaten animierte, falls diese die Insel angriffen. Gegenüber Goldberg meinte Fidel, im Rückblick sei das der Mühe überhaupt nicht wert gewesen. Am Freitag erklärte er diese Worte als «Hinweis auf den Verrat eines in Alkohol getränkten russischen Präsidenten (Boris Jelzin), der den USA die wichtigsten militärischen Geheimnisse seines Landes übergab». Frustration also, nicht Asche aufs eigene Haupt.
«Wichtigeres zu tun gehabt»
Als vollends heuchlerisch erweist sich die Übernahme der Verantwortung für die Behandlung der kubanischen Homosexuellen, die in den ersten Jahrzehnten des Regimes in Arbeitslager gesteckt und ins Exil abgeschoben wurden. Er sei damals eben mit dringenderen Problemen beschäftigt gewesen, erklärt Castro im Internet; natürlich habe er persönlich keine Vorurteile. Tatsache ist, dass Fidel die Schwulen zu Feinden der Revolution erklärt und damit grünes Licht zu ihrer Verfolgung gegeben hatte; im Jahr 1980 liess er sie, zusammen mit Tausenden von andern «asozialen Elementen», nach Florida abschieben. Dass er sich überhaupt auf dieses Thema einliess, liegt an seiner Nichte Mariela, einer Tochter Raúl Castros, die als Direktorin des Nationalen Zentrums für Sexualerziehung eine Kampagne gegen die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten, unter anderem in der Kommunistischen Partei Kubas, führt.
Fidel dementiert seine selbstkritischen Reflexionen (International, NZZ Online)
Soviel dazu.