Ricky
Gesperrt
Der Anschlag auf Fenerbahces Mannschaftsbus schockt eine ganze fußballverrückte Nation. Er zeigt die tiefe Zerrissenheit zwischen den Fans, den Klubs und dem Verband. Und dennoch kam dieser Angriff nicht ganz unerwartet.
"Dieses Attentat war ein Attentat auf unser Land!" Der Schock bei Fenerbahce Istanbul sitzt wenige Tage nach den Schüssen auf den eigenen Mannschaftsbus noch immer tief. Bezeichnend, dass Vorstandsmitglied Sekip Mosturoglu den Angriff, bei dem Busfahrer Ufuk Kiran schwer verletzt wurde und zeitweise in Lebensgefahr schwebte, mit einem terroristischen Akt gleichsetzt.
In einer politisch turbulenten Zeit verschwimmt in der Türkei die Grenze zwischen Fanatismus und Terrorismus. Doch dieser Akt des Verbrechens, dieser geplante Überfall, übertrifft alles Dagewesene – selbst in der Türkei, mit all ihren Skandalen um das runde Leder. Der türkische Fußball steht dieser Tage mehr denn je am Abgrund.
"Dieser Anschlag kam leider nicht ganz unerwartet. Letztendlich hängt vieles mit dem blinden Fanatismus der türkischen Anhänger und dem noch ungeklärten Manipulationsverfahren zusammen. Die türkische Presse gießt zudem weiter Öl ins Feuer und ist alles andere als deeskalierend. Der Volkssport Nummer eins wird zu ernst, leider sogar auch zu persönlich genommen", meint Erdem Ufak, Sportjournalist und Experte des türkischen Fußballs.
[h=2]Ein hoher Preis[/h]Seit dem Manipulationsskandal aus dem Jahr 2011 sind tiefe Gräben zwischen den Vereinen entstanden. Fenerbahce durfte trotz zweijähriger Europapokal-Sperre den Titel behalten, der Meisterschaftszweite Trabzonspor zog vergebens von einer juristischen Instanz zur nächsten, um den Meisterpokal doch noch in die Schwarzmeerregion zu holen.
Der Funke, der das Pulverfass um diese Streitfrage zum Explodieren bringen sollte, war längst entfacht. Hohe Vereinsfunktionäre und auch die Klubpräsidenten trugen ihren Streit in der Öffentlichkeit aus, bezichtigten sich gegenseitig der Lüge und schürten so den Hass der eigenen Fans auf die Anhänger des Rivalen.
Die Profis untereinander, in der Nationalmannschaft Mitspieler, ließen sich vom Zwist anstecken: Rudelbildungen, Provokationen und Platzverweise, Spielunterbrechungen oder sogar Abbrüche, verbale und physische Übergriffe der Zuschauer auf die Akteure wurden ständige Begleiter in den jeweiligen Duellen. Auswärtsspiele in Trabzon sind für Fenerbahce zum Spießrutenlauf geworden, mehrmals wurde der Mannschaftsbus vor und nach der Begegnung mit Steinen beworfen.
[h=2]Rat- und machtloser Verband[/h]Immer an vorderster Front waren die mächtigen Fanklubs, die mit Hetztiraden die Stimmung im Vorfeld einer Partie geschickt zu lenken vermochten. Der türkische Fußballverband TFF war ohnmächtig angesichts der immensen Steigerung an Gewaltausbrüchen in den Stadien, reagierte unbeholfen mit Geldstrafen und Platzsperren, ohne aber die erhoffte Wirkung zu erzielen.
Gespalten haben den türkischen Fußball auch die regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2012: Während die Fanklubs der traditionell kemalistisch-orientierten Vereine Fenerbahce und Besiktas Abertausende Anhänger für die landesweiten Demonstrationen mobilisieren konnten, distanzierte sich Galatasaray, der dritte Istanbuler Spitzenklub, auch auf Druck der Regierung recht früh und schnell von den Protesten.
In der Folge wurde die Liga phasenweise zum Schauplatz politischer Anschauungen. So wurden Porträts von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in Fenerbahces Stadion verteilt, während in Galatasarays Arena osmanische Symbole hochgehalten wurden – nach Auffassung gegnerischer Fans ein Zeichen der Ablehnung der säkularen, republikanischen Türkei.
[h=2]Nationalelf als Ort der Drohungen[/h]Das Spiegelbild dieser unsäglichen Zustände, die sportliche Aspekte längst in den Hintergrund rücken, ist die türkische Nationalmannschaft. Zuletzt nahm man 2008 an einem internationalen Turnier teil, damals scheiterten die Türken bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz dank immenser Willenskraft erst im Halbfinale an Deutschland (2:3).
Die Qualifikation für die EM 2016 in Frankreich ist zwar erst zur Hälfte ausgespielt, doch scheint das Turnier erneut ohne die Türken stattzufinden: Nur fünf Punkte aus fünf Partien verbuchten die Bosporus-Kicker in der Gruppe A, acht Punkte beträgt der Rückstand auf Tabellenführer Island, sieben Punkte auf den Zweiten Tschechien. Zuletzt trotzte man dem WM-Dritten Niederlande ein 1:1 in Amsterdam ab, doch dass der Weltranglisten-52. die restlichen fünf Partien gewinnt, scheint angesichts der internen Querelen fast ausgeschlossen.
Die "Pistolen-Affäre", in der Gökhan Töre (Besiktas) seine Mitspieler Hakan Calhanoglu und Ömer Toprak (beide Bayer Leverkusen) mit einer Pistole im Teamhotel bedroht hat, ist nur eines der vielen dunklen Kapitel. Die Spieler haben entsprechend ihrer Klubzugehörigkeit Grüppchen gebildet, die Rivalität innerhalb der Vereine ist zu groß, als dass man sich im Nationalteam für ein gemeinsames Ziel verbünden könnte.
[h=2]Sportliche Aspekte sind irrelevant[/h]
Selbst die Akteure, die im Ausland groß geworden sind oder dort ihr Geld verdienen, haben sich dem Klima der Abneigung angepasst. Homogenität? Fehlanzeige. Nationaltrainer Fatih Terim befeuerte diese Stimmung zusätzlich mit seinem miserablen Krisenmanagement in der Causa "Töre", als die Mannschaft unfreiwillig für den von Terim begnadigten Übeltäter Partei ergreifen musste.
"Enorm problematisch ist auch die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, von der sich die Spieler stark beeinflussen lassen. Die Zuschauer denken auch bei Länderspielen in Vereinskategorien und suchen sich ganz genau aus, wen sie unterstützen – und wen nicht", so Experte Ufak. Nationaltorhüter Volkan Demirel etwa, eine Ikone bei Fenerbahce, ist im EM-Qualifikationsspiel gegen Kasachstan (3:1) in Galatasarays Arena derart wüst von den Fans beschimpft worden, dass er das Feld vorzeitig verlassen wollte. Grund dafür waren seine äußerst provokanten Auftritte in der Liga, als Fenerbahce auf Galatasaray traf.
In Anbetracht dieser Zustände überrascht es nicht, dass größte sportliche Mühen kaum Früchte tragen können. Fragen wie die nach der taktischen Ausrichtung oder einem ausgearbeiteten Konzept zur Jugendförderung stellen sich nicht. Dass sich Türkeis Fußball dem nahenden Untergang kaum entziehen kann, hat der Anschlag auf Fenerbahces Teambus deutlich gezeigt.
Quelle: Nach dem Attentat: Der türkische Fußball steht am Abgrund - DIE WELT
Eine Schande
"Dieses Attentat war ein Attentat auf unser Land!" Der Schock bei Fenerbahce Istanbul sitzt wenige Tage nach den Schüssen auf den eigenen Mannschaftsbus noch immer tief. Bezeichnend, dass Vorstandsmitglied Sekip Mosturoglu den Angriff, bei dem Busfahrer Ufuk Kiran schwer verletzt wurde und zeitweise in Lebensgefahr schwebte, mit einem terroristischen Akt gleichsetzt.
In einer politisch turbulenten Zeit verschwimmt in der Türkei die Grenze zwischen Fanatismus und Terrorismus. Doch dieser Akt des Verbrechens, dieser geplante Überfall, übertrifft alles Dagewesene – selbst in der Türkei, mit all ihren Skandalen um das runde Leder. Der türkische Fußball steht dieser Tage mehr denn je am Abgrund.
"Dieser Anschlag kam leider nicht ganz unerwartet. Letztendlich hängt vieles mit dem blinden Fanatismus der türkischen Anhänger und dem noch ungeklärten Manipulationsverfahren zusammen. Die türkische Presse gießt zudem weiter Öl ins Feuer und ist alles andere als deeskalierend. Der Volkssport Nummer eins wird zu ernst, leider sogar auch zu persönlich genommen", meint Erdem Ufak, Sportjournalist und Experte des türkischen Fußballs.
[h=2]Ein hoher Preis[/h]Seit dem Manipulationsskandal aus dem Jahr 2011 sind tiefe Gräben zwischen den Vereinen entstanden. Fenerbahce durfte trotz zweijähriger Europapokal-Sperre den Titel behalten, der Meisterschaftszweite Trabzonspor zog vergebens von einer juristischen Instanz zur nächsten, um den Meisterpokal doch noch in die Schwarzmeerregion zu holen.
Der Funke, der das Pulverfass um diese Streitfrage zum Explodieren bringen sollte, war längst entfacht. Hohe Vereinsfunktionäre und auch die Klubpräsidenten trugen ihren Streit in der Öffentlichkeit aus, bezichtigten sich gegenseitig der Lüge und schürten so den Hass der eigenen Fans auf die Anhänger des Rivalen.
Die Profis untereinander, in der Nationalmannschaft Mitspieler, ließen sich vom Zwist anstecken: Rudelbildungen, Provokationen und Platzverweise, Spielunterbrechungen oder sogar Abbrüche, verbale und physische Übergriffe der Zuschauer auf die Akteure wurden ständige Begleiter in den jeweiligen Duellen. Auswärtsspiele in Trabzon sind für Fenerbahce zum Spießrutenlauf geworden, mehrmals wurde der Mannschaftsbus vor und nach der Begegnung mit Steinen beworfen.
[h=2]Rat- und machtloser Verband[/h]Immer an vorderster Front waren die mächtigen Fanklubs, die mit Hetztiraden die Stimmung im Vorfeld einer Partie geschickt zu lenken vermochten. Der türkische Fußballverband TFF war ohnmächtig angesichts der immensen Steigerung an Gewaltausbrüchen in den Stadien, reagierte unbeholfen mit Geldstrafen und Platzsperren, ohne aber die erhoffte Wirkung zu erzielen.
Gespalten haben den türkischen Fußball auch die regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2012: Während die Fanklubs der traditionell kemalistisch-orientierten Vereine Fenerbahce und Besiktas Abertausende Anhänger für die landesweiten Demonstrationen mobilisieren konnten, distanzierte sich Galatasaray, der dritte Istanbuler Spitzenklub, auch auf Druck der Regierung recht früh und schnell von den Protesten.
In der Folge wurde die Liga phasenweise zum Schauplatz politischer Anschauungen. So wurden Porträts von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in Fenerbahces Stadion verteilt, während in Galatasarays Arena osmanische Symbole hochgehalten wurden – nach Auffassung gegnerischer Fans ein Zeichen der Ablehnung der säkularen, republikanischen Türkei.
[h=2]Nationalelf als Ort der Drohungen[/h]Das Spiegelbild dieser unsäglichen Zustände, die sportliche Aspekte längst in den Hintergrund rücken, ist die türkische Nationalmannschaft. Zuletzt nahm man 2008 an einem internationalen Turnier teil, damals scheiterten die Türken bei der Europameisterschaft in Österreich und der Schweiz dank immenser Willenskraft erst im Halbfinale an Deutschland (2:3).
Die Qualifikation für die EM 2016 in Frankreich ist zwar erst zur Hälfte ausgespielt, doch scheint das Turnier erneut ohne die Türken stattzufinden: Nur fünf Punkte aus fünf Partien verbuchten die Bosporus-Kicker in der Gruppe A, acht Punkte beträgt der Rückstand auf Tabellenführer Island, sieben Punkte auf den Zweiten Tschechien. Zuletzt trotzte man dem WM-Dritten Niederlande ein 1:1 in Amsterdam ab, doch dass der Weltranglisten-52. die restlichen fünf Partien gewinnt, scheint angesichts der internen Querelen fast ausgeschlossen.
Die "Pistolen-Affäre", in der Gökhan Töre (Besiktas) seine Mitspieler Hakan Calhanoglu und Ömer Toprak (beide Bayer Leverkusen) mit einer Pistole im Teamhotel bedroht hat, ist nur eines der vielen dunklen Kapitel. Die Spieler haben entsprechend ihrer Klubzugehörigkeit Grüppchen gebildet, die Rivalität innerhalb der Vereine ist zu groß, als dass man sich im Nationalteam für ein gemeinsames Ziel verbünden könnte.
[h=2]Sportliche Aspekte sind irrelevant[/h]
Selbst die Akteure, die im Ausland groß geworden sind oder dort ihr Geld verdienen, haben sich dem Klima der Abneigung angepasst. Homogenität? Fehlanzeige. Nationaltrainer Fatih Terim befeuerte diese Stimmung zusätzlich mit seinem miserablen Krisenmanagement in der Causa "Töre", als die Mannschaft unfreiwillig für den von Terim begnadigten Übeltäter Partei ergreifen musste.
"Enorm problematisch ist auch die Erwartungshaltung der Öffentlichkeit, von der sich die Spieler stark beeinflussen lassen. Die Zuschauer denken auch bei Länderspielen in Vereinskategorien und suchen sich ganz genau aus, wen sie unterstützen – und wen nicht", so Experte Ufak. Nationaltorhüter Volkan Demirel etwa, eine Ikone bei Fenerbahce, ist im EM-Qualifikationsspiel gegen Kasachstan (3:1) in Galatasarays Arena derart wüst von den Fans beschimpft worden, dass er das Feld vorzeitig verlassen wollte. Grund dafür waren seine äußerst provokanten Auftritte in der Liga, als Fenerbahce auf Galatasaray traf.
In Anbetracht dieser Zustände überrascht es nicht, dass größte sportliche Mühen kaum Früchte tragen können. Fragen wie die nach der taktischen Ausrichtung oder einem ausgearbeiteten Konzept zur Jugendförderung stellen sich nicht. Dass sich Türkeis Fußball dem nahenden Untergang kaum entziehen kann, hat der Anschlag auf Fenerbahces Teambus deutlich gezeigt.
Quelle: Nach dem Attentat: Der türkische Fußball steht am Abgrund - DIE WELT
Eine Schande