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Frankreichs Trauma
Die grausame Trennung von Algerien
Mit brutaler Härte versuchte Paris acht Jahre lang die Unabhängigkeit Algeriens zu verhindern. Vor 50 Jahren endete der Krieg, dessen Wunden noch immer nicht verheilt sind.
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20 Minuten Online - Die grausame Trennung von Algerien - History
Infografik:
Die Entkolonialisation Afrikas
Als sich vor einem Jahr die arabischen Völker gegen ihre Despoten erhoben, blieb es vor allem in einem Land relativ ruhig. Zwar kam es auch in Algerien zu vereinzelten Protesten, doch ein Aufstand auf breiter Front fand nicht statt. Dabei wären die Voraussetzungen vorhanden: Eine junge Bevölkerung mit fehlenden Perspektiven auf der einen, ein verknöchertes, autoritäres Regime auf der anderen Seite. Doch die Aufhebung des seit 19 Jahren bestehenden Ausnahmezustands blieb die einzige nennenswerte Massnahme.
Nun besitzt der Maghreb-Staat grosse Ölvorkommen, mit denen sich die schlimmsten sozialen Härten lindern lassen. Die eigentliche Erklärung für den fehlenden revolutionären Funken aber findet man in der Vergangenheit. Seit 1848 war Algerien eine französische Kolonie. Nach und nach strömten Siedler aus Europa ins Land. Die so genannten «Pieds-noirs» (Schwarzfüsse) und ihre Nachfahren bildeten eine starke Minderheit im mehrheitlich arabisch-muslimischen Land. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber meldete die einheimische Bevölkerung wie in vielen Teilen der Welt ihren Anspruch auf Unabhängigkeit an.
Während sich die Briten mehr oder weniger fatalistisch dem Verlust ihres Empire fügten, taten sich die Franzosen schwer mit dem Ende als «Grande Nation». In Indochina etwa klammerten sie sich an ihre Vorherrschaft, bis sie 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu ein zweites Waterloo erlebten. Algerien aber wollten sie keinesfalls hergeben, sie betrachteten es als integralen Bestandteil der Republik, einfach jenseits des Mittelmeers. Es war pure Heuchelei, denn faktisch bestand eine Apartheid: Araber und Berber waren Menschen zweite Klasse.
Der «schmutzige Krieg»
Am 1. November 1954, dem Toussaint sanglante (blutigen Allerheiligen), verübte die neu gegründete Nationale Befreiungsfront (FLN) eine Serie von Bombenanschlägen – es war der Auftakt zum Algerienkrieg, der sich über beinahe acht Jahre hinziehen und zum vielleicht blutigsten Kapitel der gesamten Entkolonialisierung entwickeln sollte. Frankreich stockte seine Truppen sukzessive auf rund 500 000 Mann auf, die einen «schmutzigen Krieg» gegen die FLN führten, in dem es auf beiden Seiten zu Übergriffen der grausamsten Art kam.
Es galt, die «Algérie française» um jeden Preis zu verteidigen. Den Franzosen war dafür so gut wie jedes Mittel recht, sie schreckten auch nicht davor zurück, Verdächtige systematisch und brutal zu foltern. Daran beteiligt war auch ein Fallschirmjäger namens Jean-Marie Le Pen, der Gründer des rechtsextremen Front National (FN), obwohl er dies später abstritt. Die FLN konnte damit zwar geschwächt, aber nicht besiegt werden, weshalb die Kolonialmacht rund 1,5 Millionen Algerier in eigentliche Konzentrationslager «umsiedelte».
De Gaulle hat verstanden
Der Algerienkrieg führte in Frankreich zum Ende der notorisch instabilen 4. Republik. Am 1. Juni 1958 wurde General Charles de Gaulle, der Held des Zweiten Weltkriegs, zum Regierungschef ernannt. Schon drei Tage später reiste er nach Algier, wo er von den Pieds-noirs begeistert gefeiert wurde. «Je vous ai compris!» rief er ihnen zu. Tatsächlich intensivierte er vorerst den Krieg und brachte die FLN damit an den Rand der Niederlage.
Doch de Gaulle, der visionäre Pragmatiker, hatte vor allem eines verstanden: Frankreich konnte diesen Krieg langfristig nicht gewinnen. Schon im Oktober 1958 bot er der FLN einen «Frieden der Tapferen» an. Ein Jahr später proklamierte er als Staatspräsident erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Algerier. In den Augen der Algerienfranzosen wurde der General damit vom Helden zum Verräter. Im Januar 1960 kam es in Algier zum so genannten «Barrikadenaufstand», bei dem erstmals Franzosen gegen Franzosen kämpften.
Das Massaker von Paris
Im Mutterland war man des Krieges längst überdrüssig. Am 8. Januar 1961 votierten 75 Prozent der Franzosen in einer Volksabstimmung für ein unabhängiges Algerien. Als Folge davon gründeten abtrünnige Soldaten und Siedler die Organisation de l’armée secerte (OAS), die unter dem Motto «L’Algérie est française et le restera» (Algerien ist französisch und wird es bleiben) eine beispiellose Terrorkampagne gegen Algerier und «Verräter» aus den eigenen Reihen lancierte. Am 22. April 1961 putschten vier der OAS nahe stehende Generäle in Algier gegen de Gaulle. Der Coup scheiterte an mangelnder Unterstützung.
De Gaulle trieb die Unabhängigkeit Algeriens danach voran, doch noch am 17. Oktober 1961 mündete eine friedliche Kundgebung von Algeriern in das «Massaker von Paris». Der Pariser Polizeichef Maurice Papon, der später als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher entlarvt wurde, liess in die Menge feuern. Die Leichen der Opfer wurden teilweise in die Seine geworfen. Mindestens 200 Menschen sollen ums Leben gekommen sein. Die genau Zahl ist bis heute unklar, denn das Massaker war in Frankreich lange ein absolutes Tabu.
Flucht in die fremde Heimat
Der Algerienkrieg endete am 18. März 1962 mit der Unterzeichnung eines Abkommens im Kurort Evian am Genfersee. Er hatte rund 35 000 Franzosen und mindestens zehn Mal so viele Algerier das Leben gekostet. Einen Tag später trat der Waffenstillstand in Kraft. Die OAS aber dachte nicht ans Aufgeben. Am 22. August 1962 feuerten mehrere Attentäter in Petit-Clamart bei Paris mit Maschinenpistolen auf die Limousine von Charles de Gaulle. Wie durch ein Wunder blieben der General und seine Frau unverletzt. Erst nachdem mehrere OAS-Anführer standrechtlich erschossen wurden, war die Geheimarmee am Ende.
Am 1. Juli 1962 stimmten 99,72 Prozent der Algerier für die Unabhängigkeit, zwei Tage später wurde sie von Präsident de Gaulle anerkannt. Die Pieds-noirs flüchteten aus Angst vor Racheakten scharenweise in eine «Heimat», die ihnen fremd war. Die Mehrheit liess sich in Südfrankreich nieder, wo viele bis heute ihre Ressentiments kultivieren. Nicht umsonst bilden die Algerienfranzosen einen gewichtigen Teil der Wähler des Front National. Wirklich schlimm kam es aber für die rund 150 000 Algerier, die auf Seiten Frankreichs gekämpft hatten, die so genannten Harkis. Ein grosser Teil wurde grausam ermordet.
Vom Unabhängigkeits- zum Bürgerkrieg
30 Jahre später fand Algeriens blutige Geschichte eine Fortsetzung: Nachdem die Armee Ende 1991 den Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) bei der ersten freien Wahl verhindert hatte, entfachten religiöse Extremisten der Groupe Islamique Armé (GIA) einen zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg, der mindestens 150 000 Todesopfer forderte. Bis heute kommt es sporadisch zu Anschlägen. Das doppelte Trauma von Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg gilt als Hauptgrund, warum die Algerier vor Aufständen aller Art zurückschrecken.
Das Verhältnis zur einstigen Kolonialmacht ist bis heute belastet, die Wunden sind auch 50 Jahre nach Kriegsende kaum verheilt. Lange tat sich Frankreich schwer mit seiner blutigen Vergangenheit. Erst 1999 wurden die «Ereignisse» in einem von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetz offiziell als Krieg anerkannt. Auf eine Entschuldigung aber warten die Algerier bis heute – vergeblich. Erst kürzlich sagte Präsident Nicolas Sarkozy in einem Interview, dass Frankreich den Algerienkrieg «nicht bereuen» müsse. Damit buhlt er um die Wähler des Front National – zu einer Versöhnung mit Algerien trägt er aber nicht bei.
Die grausame Trennung von Algerien
Mit brutaler Härte versuchte Paris acht Jahre lang die Unabhängigkeit Algeriens zu verhindern. Vor 50 Jahren endete der Krieg, dessen Wunden noch immer nicht verheilt sind.
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Infografik:
Die Entkolonialisation Afrikas
Als sich vor einem Jahr die arabischen Völker gegen ihre Despoten erhoben, blieb es vor allem in einem Land relativ ruhig. Zwar kam es auch in Algerien zu vereinzelten Protesten, doch ein Aufstand auf breiter Front fand nicht statt. Dabei wären die Voraussetzungen vorhanden: Eine junge Bevölkerung mit fehlenden Perspektiven auf der einen, ein verknöchertes, autoritäres Regime auf der anderen Seite. Doch die Aufhebung des seit 19 Jahren bestehenden Ausnahmezustands blieb die einzige nennenswerte Massnahme.
Nun besitzt der Maghreb-Staat grosse Ölvorkommen, mit denen sich die schlimmsten sozialen Härten lindern lassen. Die eigentliche Erklärung für den fehlenden revolutionären Funken aber findet man in der Vergangenheit. Seit 1848 war Algerien eine französische Kolonie. Nach und nach strömten Siedler aus Europa ins Land. Die so genannten «Pieds-noirs» (Schwarzfüsse) und ihre Nachfahren bildeten eine starke Minderheit im mehrheitlich arabisch-muslimischen Land. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber meldete die einheimische Bevölkerung wie in vielen Teilen der Welt ihren Anspruch auf Unabhängigkeit an.
Während sich die Briten mehr oder weniger fatalistisch dem Verlust ihres Empire fügten, taten sich die Franzosen schwer mit dem Ende als «Grande Nation». In Indochina etwa klammerten sie sich an ihre Vorherrschaft, bis sie 1954 in der Schlacht von Dien Bien Phu ein zweites Waterloo erlebten. Algerien aber wollten sie keinesfalls hergeben, sie betrachteten es als integralen Bestandteil der Republik, einfach jenseits des Mittelmeers. Es war pure Heuchelei, denn faktisch bestand eine Apartheid: Araber und Berber waren Menschen zweite Klasse.
Der «schmutzige Krieg»
Am 1. November 1954, dem Toussaint sanglante (blutigen Allerheiligen), verübte die neu gegründete Nationale Befreiungsfront (FLN) eine Serie von Bombenanschlägen – es war der Auftakt zum Algerienkrieg, der sich über beinahe acht Jahre hinziehen und zum vielleicht blutigsten Kapitel der gesamten Entkolonialisierung entwickeln sollte. Frankreich stockte seine Truppen sukzessive auf rund 500 000 Mann auf, die einen «schmutzigen Krieg» gegen die FLN führten, in dem es auf beiden Seiten zu Übergriffen der grausamsten Art kam.
Es galt, die «Algérie française» um jeden Preis zu verteidigen. Den Franzosen war dafür so gut wie jedes Mittel recht, sie schreckten auch nicht davor zurück, Verdächtige systematisch und brutal zu foltern. Daran beteiligt war auch ein Fallschirmjäger namens Jean-Marie Le Pen, der Gründer des rechtsextremen Front National (FN), obwohl er dies später abstritt. Die FLN konnte damit zwar geschwächt, aber nicht besiegt werden, weshalb die Kolonialmacht rund 1,5 Millionen Algerier in eigentliche Konzentrationslager «umsiedelte».
De Gaulle hat verstanden
Der Algerienkrieg führte in Frankreich zum Ende der notorisch instabilen 4. Republik. Am 1. Juni 1958 wurde General Charles de Gaulle, der Held des Zweiten Weltkriegs, zum Regierungschef ernannt. Schon drei Tage später reiste er nach Algier, wo er von den Pieds-noirs begeistert gefeiert wurde. «Je vous ai compris!» rief er ihnen zu. Tatsächlich intensivierte er vorerst den Krieg und brachte die FLN damit an den Rand der Niederlage.
Doch de Gaulle, der visionäre Pragmatiker, hatte vor allem eines verstanden: Frankreich konnte diesen Krieg langfristig nicht gewinnen. Schon im Oktober 1958 bot er der FLN einen «Frieden der Tapferen» an. Ein Jahr später proklamierte er als Staatspräsident erstmals das Selbstbestimmungsrecht der Algerier. In den Augen der Algerienfranzosen wurde der General damit vom Helden zum Verräter. Im Januar 1960 kam es in Algier zum so genannten «Barrikadenaufstand», bei dem erstmals Franzosen gegen Franzosen kämpften.
Das Massaker von Paris
Im Mutterland war man des Krieges längst überdrüssig. Am 8. Januar 1961 votierten 75 Prozent der Franzosen in einer Volksabstimmung für ein unabhängiges Algerien. Als Folge davon gründeten abtrünnige Soldaten und Siedler die Organisation de l’armée secerte (OAS), die unter dem Motto «L’Algérie est française et le restera» (Algerien ist französisch und wird es bleiben) eine beispiellose Terrorkampagne gegen Algerier und «Verräter» aus den eigenen Reihen lancierte. Am 22. April 1961 putschten vier der OAS nahe stehende Generäle in Algier gegen de Gaulle. Der Coup scheiterte an mangelnder Unterstützung.
De Gaulle trieb die Unabhängigkeit Algeriens danach voran, doch noch am 17. Oktober 1961 mündete eine friedliche Kundgebung von Algeriern in das «Massaker von Paris». Der Pariser Polizeichef Maurice Papon, der später als Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher entlarvt wurde, liess in die Menge feuern. Die Leichen der Opfer wurden teilweise in die Seine geworfen. Mindestens 200 Menschen sollen ums Leben gekommen sein. Die genau Zahl ist bis heute unklar, denn das Massaker war in Frankreich lange ein absolutes Tabu.
Flucht in die fremde Heimat
Der Algerienkrieg endete am 18. März 1962 mit der Unterzeichnung eines Abkommens im Kurort Evian am Genfersee. Er hatte rund 35 000 Franzosen und mindestens zehn Mal so viele Algerier das Leben gekostet. Einen Tag später trat der Waffenstillstand in Kraft. Die OAS aber dachte nicht ans Aufgeben. Am 22. August 1962 feuerten mehrere Attentäter in Petit-Clamart bei Paris mit Maschinenpistolen auf die Limousine von Charles de Gaulle. Wie durch ein Wunder blieben der General und seine Frau unverletzt. Erst nachdem mehrere OAS-Anführer standrechtlich erschossen wurden, war die Geheimarmee am Ende.
Am 1. Juli 1962 stimmten 99,72 Prozent der Algerier für die Unabhängigkeit, zwei Tage später wurde sie von Präsident de Gaulle anerkannt. Die Pieds-noirs flüchteten aus Angst vor Racheakten scharenweise in eine «Heimat», die ihnen fremd war. Die Mehrheit liess sich in Südfrankreich nieder, wo viele bis heute ihre Ressentiments kultivieren. Nicht umsonst bilden die Algerienfranzosen einen gewichtigen Teil der Wähler des Front National. Wirklich schlimm kam es aber für die rund 150 000 Algerier, die auf Seiten Frankreichs gekämpft hatten, die so genannten Harkis. Ein grosser Teil wurde grausam ermordet.
Vom Unabhängigkeits- zum Bürgerkrieg
30 Jahre später fand Algeriens blutige Geschichte eine Fortsetzung: Nachdem die Armee Ende 1991 den Sieg der Islamischen Heilsfront (FIS) bei der ersten freien Wahl verhindert hatte, entfachten religiöse Extremisten der Groupe Islamique Armé (GIA) einen zehn Jahre dauernden Bürgerkrieg, der mindestens 150 000 Todesopfer forderte. Bis heute kommt es sporadisch zu Anschlägen. Das doppelte Trauma von Unabhängigkeits- und Bürgerkrieg gilt als Hauptgrund, warum die Algerier vor Aufständen aller Art zurückschrecken.
Das Verhältnis zur einstigen Kolonialmacht ist bis heute belastet, die Wunden sind auch 50 Jahre nach Kriegsende kaum verheilt. Lange tat sich Frankreich schwer mit seiner blutigen Vergangenheit. Erst 1999 wurden die «Ereignisse» in einem von der Nationalversammlung verabschiedeten Gesetz offiziell als Krieg anerkannt. Auf eine Entschuldigung aber warten die Algerier bis heute – vergeblich. Erst kürzlich sagte Präsident Nicolas Sarkozy in einem Interview, dass Frankreich den Algerienkrieg «nicht bereuen» müsse. Damit buhlt er um die Wähler des Front National – zu einer Versöhnung mit Algerien trägt er aber nicht bei.