Epilog: Antisemitismus ohne Juden in Serbien?
Jugoslawien hat im Zweiten Weltkrieg 1,7 Millionen Todesopfer gebracht, darunter 82 Prozent (in Serbien 85 Prozent) der 82.000 Juden, die nach jüngsten Angaben der jüdischen Gemeinden im alten Königreich gelebt haben. Von den wenigen Überlebenden sind 1948 schätzungsweise 8.000 in den (gerade geschaffenen) Staat Israel übergesiedelt. Das war im Prinzip problemlos möglich, da sich das UN-Gründungsmitglied Jugoslawien hierbei keine Blöße geben wollte, war im Detail aber an den Verzicht auf den „immobilen“ Besitz (Land, Grundstücke und Bauten) und die Staatsbürgerschaft des Ausreisewilligen gebunden.
Eine letzte Ausreisewelle folgte eingangs der 1990-er Jahre, als Jugoslawien zerbrach und in fast allen Nachfolgestaaten blutige Kriege tobten. So sind beispielsweise im Krieg in Bosnien-Hercegovina (1992-1995) 1.077 Juden nach Serbien geflohen, von wo sie zumeist in andere Länder weitergingen; Ende 2003 lebten in Belgrad noch 239 bosnische Juden.
Èedomir Prlinèeviæ.
Èedomir Prlinèeviæ.
1999 wurden die wenigen Juden, die im Kosovo lebten, nahezu gänzlich von den dortigen Albanern vertrieben. Damit setzten die Kosovo-Albaner gegenwärtig das Werk der SS fort, die im April 1942 die Juden von Mitrovica und Prishtina, zusammen schätzungsweise 150, nach Belgrad deportierte und dort umbrachte. Später kam einige zurück und bildeten in Prishtina eine jüdische Gemeinde von rund 100 Mitgliedern, die von Čedomir Prlinčević (Bild) geführt wurde. Seit 1999 gibt es in der kosovarischen Hauptstadt keinen einzigen Juden mehr, und ihr gesamter Besitz wurde von Albanern geraubt.[13] So wurde es in den Medien berichtet, wozu Aleksandar Lebl präzisierend bemerkte: „Die Juden aus Prishtina durften einen Teil ihres Besitzes mitnehmen; gegenwärtig werden ihnen ihre Immobilien zurückgegeben, die sie (falls sie nicht zurückkehren) verkaufen oder dem staatlichen Aufkauf anbieten können“.
Es ist schwer, zum Leben der Juden in Serbien und auf dem ganzen Balkan exakte Zahlen zu ermitteln. Beispielsweise waren im Kosovo einige Juden durch familiäre Bande mit Albanern verbunden und haben sich bei Volkszählungen nicht mehr als Juden deklariert. Sie taten es erst dann wieder, als sie nach 1999 von Albanern vertrieben wurden. Genauere Angaben, aus denen wenigstens ein Überblick über die Situation nach dem Krieg zu entnehmen war, lieferte die Volkszählung vom 15.März 1948, nach welcher Jugoslawien genau 15.772.107 Einwohner zählte.[14] Zu den Juden wurden folgende Zahlen ermittelt:
Region Zahl
Jugoslawien total
6.861
Serbien
4.649
Kroatien
712
Slowenien
25
Bosnien
1.147
Makedonien
319
Montenegro
9
Aber auch wenn es keinen einzigen Juden mehr in Serbien gäbe, könnte dort sehr wohl Antisemitismus auftreten. Antisemitismus kommt sehr gut ohne Juden aus – je weniger Juden es gibt, die die hirnverbrannten Behauptungen der Antisemiten durch gelebte Mitbürgerlichkeit widerlegen könnten, desto besser! Nach diesem Prinzip verfährt etwa der kroatische Antisemitismus, der vermutlich nicht nur der „lebendigste“ im gegenwärtigen Europa ist, sondern auch einen Großteil der Gründungsideologie der gegenwärtigen Republik Kroatien ausmachte. Diese ist das Werk des Kriegsverbrechers Franjo Tudjman (1922-1999). Dieser war nicht nur „glücklich, daß meine Frau keine Serbin oder Jüdin ist“, verfasste nicht nur antisemitische Pamphlete nach „Stürmer“-Manier[15], er hat seinen „Staat“ exakt dem faschistischen NDH nachgebildet, den er als „die Erfüllung der historischen Sehnsüchte aller Kroaten“ pries.
Gemessen an solchen „Vorbildern“, ist Serbien nichts vorzuwerfen. Zu konstatieren ist höchstens eine Geistesverwirrung sui generis, die jedoch erklärbar ist: Die serbischen Juden sind – ohne ihr Zutun, ja nicht einmal persönlich betroffen – durch politische Entschlüsse wechselnder Belgrader Regime „ins Gerede“ gekommen, was sie misstrauisch und vorsichtig gemacht hat. Den ersten dieser Entschlüsse traf Tito 1967, als er die diplomatischen Beziehungen zu Israel, das gerade die zum Judenmord größten Ausmaßes entschlossenen Araber glänzend besiegt hatte, abbrach. Zweieinhalb Jahrzehnte später probierte der Belgrader Diktator Slobodan Milošević das Gegenteil: Von Embargos der internationalen Gemeinschaft bedrängt, versuchte der serbische Warlord, durch demonstrativ projüdische Aktionen das Wohlwollen amerikanischer Juden zu gewinnen. Damals schossen „Serbisch-jüdische Freundschaftsgesellschaften“ (Društva srpsko-jevrejskog prijateljstva) förmlich aus dem Boden. Auf dem Papier bestehen diese Gesellschaften immer noch, tatsächlich sind sie längst verschieden. Aber den bleibenden Schaden davon hatten die wenigen Juden, die in Serbien noch lebten.
Titos und Miloševićs konträre Schachzüge hatten einen identischen Effekt – bei manchen Serben den Eindruck zu erwecken, Juden seien „etwas Besonderes“. Und es blieb den Einzelnen überlassen, diese scheinbare jüdische Singularität auf ihre Weise zu interpretieren und zu instrumentalisieren. Dafür boten sich zwei Lesarten an. Die eine besagte, daß die Juden, exakt wie die Serben, ein auserwähltes und „himmlisches Volk“ seien. Das Postulat von den Serben als „himmlischem Volk“ (nebeski narod) ist – seit der (angeblich) verloren und tatsächlich nie stattgehabten „Schlacht auf dem Amselfeld“ von 1389 – fester Bestandteil der Theologie der Serbischen Orthodoxen Kirche (SPC), und eine solche nationalistisch-mystische Identifikation konnte den Juden natürlich nicht gefallen. Genauso wenig gefiel ihnen die zweite Lesart von den Juden als den Drahtziehern und Finanziers einer „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“ gegen „das serbische Volk“, die auch hinter der NATO-Aktion um das Kosovo von 1999 steckten.
Das mentale Grundproblem der Serben ist seit Jahrhunderten und nach zahllosen verlorenen Kämpfen ihr Image als „Volk, das seine Niederlagen feiert“. Sie schufen kompensatorische ethnokulturelle („himmlisches Volk“ nach dem Verlust des irdischen Reichs) und nationalreligiöse Ideologien („Kreuzesfeier“ als Ausdruck eines horizontalen „Bandes um alle Serben“ und eines vertikalen Direktbezugs zu Gott) zur Selbstbestätigung. Diese konnten sie nicht nur niemandem vermitteln (und werden deshalb seit langen Zeiten als „Störenfriede“ empfunden und angeklagt) – sie müssen zudem damit leben, daß nationalistische Narren wie Dobrica Ćosić („Vater der Nation“) mit autodestruktiven Slogans wie „Serbien gewinnt im Krieg und verliert im Frieden“ einer mentalen Bankrotterklärung Vorschub leisten. Serbien hat noch niemals allein einen Krieg gewonnen und in noch keinem Frieden etwas verloren. Und vielleicht oder gewiß ist es einer Aufgabe der Juden in Serbien, Die Serben über diesen Grundfehler ihrer Existenz aufzuklären – und das gesamte Ausland über die eigentliche Natur der Serben.
Antisemitische Graffitis in Serbien.
Antisemitische Graffitis in Serbien.
Wer sucht, der findet – in Serbien antisemitische Äußerungen, Publikationen, Organisationen, Graffitis etc. Dazu anonyme Briefe und telefonische Drohungen, besorgte Berichte von Helsinki-Komitees und anderes mehr. Repräsentativ für die Serben ist es nicht, aber kann es gefährlich werden? Aca Singer, Präsident der jüdischen Gemeinden in Serbien, registrierte derartiges eher verwundert: „Für das soziale und politische Leben des Landes sind wir so bedeutungslos, daß es uns überrascht, überhaupt zur Zielscheibe von Druck und Angriffen geworden zu sein“. Der Verband jüdischer Gemeinden in Serbien und Montenegro hat seit langem eine „Kommission zur Beobachtung des Antisemitismus“ (Komisija za praćenje antisemitizma) gebildet, die von dem Belgrader Aleksandar Lebl geleitet wird und gelegentlich, d.h. ohne formale Abmachung mit dem Belgrader „Zentrum für Menschenrechte“ unter Vojin Dimitrijević kooperiert.
Anfang 2004 erschien in Belgrad eine Report mit demographischen Angaben zu den Angehörigen der 29 ethnischen Minderheiten, die in Serbien leben. Die Juden sind mit Abstand die gebildetste Volksgruppe: Analphabeten null, Akademiker 48,5 Prozent ihrer Population. Aber ihr Altersdurchschnitt liegt noch weit über dem der letzten serbischen Deutschen (53,02%): Nach über einem halben Jahrtausend jüdischer Präsenz in Serbien kann das endgültige Ende jeden Tag erfolgen!
Autor: Wolf Oschlies