Xhaka
DRENICE
Heucheln für Fortgeschrittene
Die Türkei bekämpft den IS – und zugleich dessen stärkste Gegner, die Kurden: Was soll das? von Özlem Topçu
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Parlament in Ankara | © Umit Bektas/Reuters
Am Dienstag, unmittelbar vor seiner Abreise nach China, erschreckte Tayyip Erdoğan noch mal eben die Weltöffentlichkeit. "Unmöglich" sei es geworden, sagte der türkische Präsident auf einer Pressekonferenz, den Friedensprozess mit der kurdischen PKK fortzusetzen. Kurz vorher hatte seine Luftwaffe kurdische Stellungen im Nordirak angegriffen, ja sogar im syrischen Kobane – ausgerechnet in jener Stadt also, aus der die Kurden unter dem Beifall der Weltöffentlichkeit die Terrortruppen des "Islamischen Staats" (IS) verjagt hatten.
Erdoğans Vorstoß war wohlkalkuliert. Zur gleichen Zeit trat der Nato-Rat zu einer von der Türkei einberufenen Sitzung zusammen, um dem Land politische Rückendeckung im Kampf gegen den IS zu geben. Über die jüngsten Luftangriffe auf die Kurden im Irak und in Syrien hingegen verlor das Militärbündnis kein offizielles Wort. Sie werden also geduldet. Auch wenn zuvor einige Bündnispartner wie Deutschland zur Mäßigung geraten hatten.
Der 2013 mit der PKK vereinbarte Waffenstillstand ist damit zerrissen. Und die Türkei hat sich in die paradoxe Situation begeben, sowohl den IS als auch dessen härtesten Gegner zu bekämpfen – die PKK sowie ihr syrisches Pendant, die PYD.
Die syrischen Kurden hatten in den vergangenen Monaten zusammen mit Rebellen der Freien Syrischen Armee dem IS dermaßen zugesetzt, dass bereits über eine mögliche Rückeroberung von Rakka spekuliert wurde, der faktischen Hauptstadt des Kalifats. Vorausgesetzt, die kurdisch-arabische Koalition würde ausreichend von den USA und der Türkei unterstützt. Seitdem Ankara mit amerikanischem Einverständnis kurdische Stellungen beschießt, ist es damit erst einmal aus.
Die raue Kriegswirklichkeit wird erweisen, wie unhaltbar die türkische Position auf Dauer ist. Denn wer soll die von Ankara und Washington angestrebte "IS-freie Zone" erobern und halten, wenn nicht die Kurden? Mit Kampfflugzeugen allein geht das nicht, Bodentruppen wiederum wollen weder die USA noch die Türkei nach Syrien entsenden; die groß angekündigte moderate Rebellentruppe schließlich, die unter den Fittichen des Pentagon irgendwann gegen das Kalifat marschieren soll, besteht bislang bloß aus 60 Mann.
Vor den jüngsten türkischen Attacken auf die kurdischen Stellungen gab es durchaus Hoffnung auf ein Umdenken in Ankara. Vor allem nach dem Selbstmordattentat vom 20. Juli. Ihm fielen in der Grenzstadt Suruç 32 Anhänger einer sozialistischen Jugendbewegung zum Opfer, die in der syrischen Stadt Kobane beim Wiederaufbau helfen wollten. Es war der erste Anschlag in der Türkei, den die Regierung dem IS anlastete. Nun reihte sie sich – nach langem Zögern, viel internationaler Kritik und Spekulationen darüber, ob sie die Augen vor dem IS im eigenen Land verschließe, ja ihn gar unterstütze – in das Bündnis gegen die Dschihadisten ein. Endlich griffen türkische Luftwaffe und Artillerie syrische IS-Stellungen an, endlich gestattete Ankara der US-Luftwaffe, von der Basis Incirlik aus Angriffe gegen den IS zu fliegen.
Damit ist die Türkei Teil der Anti-IS-Koalition geworden. Und schwächt sie doch zugleich, indem sie gegen die Kurden kämpft. Wie um alles in der Welt kommt dieses Paradox zustande? Die Antwort ist bitter: aus Gründen der Innenpolitik.
Über sein Motiv hatte Erdoğan schon einmal Auskunft gegeben: "Wir werden es niemals zulassen, dass an unserer Grenze im Süden, im Norden Syriens, ein kurdischer Staat gegründet wird. Koste es, was es wolle." So kommentierte das Staatsoberhaupt vor vier Wochen den Erfolg kurdischer Einheiten, die – von der US-Luftwaffe unterstützt – den IS aus der syrischen Stadt Tal Abjad verdrängt hatten.
Erdoğans Äußerung brachte auf den Punkt, wie seine Regierung über die Veränderungen in der Region denkt. Während der Bürgerkrieg Syrien zerfleischte, gelang es den Kurden in dessen Norden im Winter 2013/14 nämlich, ein großes Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie nannten es "Rojava" und etablierten dort eine Selbstverwaltung, an der alle ethnischen Gruppen teilhaben sollten. Ausgerechnet die Kurden, diese ewigen Verlierer im Nahen Osten, als einziges großes Volk in der Zeit der Staatengründungen 1919 bis 1932 leer ausgegangen und über lange Zeit hinweg unterdrückt, hatten auf einmal ein Stück der Landkarte neu gezeichnet. Von nun an galt Rojava, das aus den Kantonen Afrin, Kobane und Cizre besteht, als das sicherste Gebiet im Kriegsland Syrien.
Bis der IS nach Kobane vorrückte. Im Herbst 2014 schaute die ganze Welt wochenlang auf diese kleine Stadt, deren Namen vorher wohl die wenigsten jemals gehört hatten, und verfolgte den Kampf der Kurden gegen den IS.
Besonders eine Hauptstadt schaute aufmerksam hin, als sich abzeichnete, dass die Kurden dem IS standhalten würden. Wenn den Regierungsvertretern in Ankara nicht vorher schon angesichts der einen oder anderen Flagge in kurdischen Farben oder mit dem Konterfei des PKK-Führers Abdullah Öcalan an der syrisch-türkischen Grenze mulmig wurde, dann spätestens jetzt. Denn so sah es nun aus: Die Kurden waren die Helden, Kobane war ihr Symbol und die türkische Regierung mit all ihren Panzern an der Grenze nur ein untätiger Zuschauer ohne Plan.
Die Angst vor dem "kurdischen Korridor"
Die raue Kriegswirklichkeit wird erweisen, wie unhaltbar die türkische Position auf Dauer ist.
Womöglich hatte die Regierung darauf gehofft, dass die militanten Islamisten und Kurden einander neutralisierten. Die Kurden halten die Islamisten von der türkischen Grenze fern, die Islamisten dämmen die kurdischen Autonomiebestrebungen in Rojava ein – so war wohl das Kalkül. Nur ging es nicht auf. Stattdessen wurden die Kurden stark und stärker, und der IS trug den Krieg mit dem Anschlag von Suruç auf türkisches Territorium. Anstatt auf beiden Spielfeldern zu gewinnen, verlor Ankara auf beiden gleichzeitig.
Auf Kobane folgte Tal Abjad. Mit der Eroberung dieser Grenzstadt war das ewig staatenlose Volk der Kurden dem schon deutlich näher gekommen, was "kurdischer Korridor" genannt wird: ein Streifen vom äußersten Nordosten Syriens westwärts hinunter zum Mittelmeer. Nach der Einnahme Tal Abjads war ein großes Loch dieses Korridors gestopft.
In Ankara wuchs die Nervosität. Diese Kurden schienen unaufhaltsam zu sein. Und das nach der Wahl im Juni, bei der erstmals die prokurdische Partei HDP ins türkische Parlament gewählt wurde – mit dem Versprechen, nicht nur die Interessen der Kurden zu vertreten, sondern eine demokratische Partei für die gesamte Türkei zu sein. Noch dazu eine Partei, die Erdoğans Wunsch entgegentritt, ein Präsidialsystem zu errichten, das ihm als Staatsoberhaupt mehr Macht zusprechen würde.
Natürlich machte sich die HDP sofort stark für Kobane und die Sache der Kurden in Syrien. Zugleich versprach sie, alles dafür zu tun, dass der in der Türkei populäre Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und den Kurden fortgesetzt werde. Etwas perplex sprach der Staatspräsident jetzt davon, dass es gar kein Kurdenproblem gebe.
Die Kurden waren stark geworden, nicht nur in Syrien, nicht nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit, sondern auch im Inneren der Türkei. Sie waren mit der HDP, diesem Zusammenschluss kurdischer und linker türkischer Gruppen, auch für Nichtkurden wählbar geworden und hatten Anteil daran, dass Erdoğans Regierungspartei AKP zehn Prozentpunkte verlor – was eine Sensation war, hatte die AKP doch zuvor ihren Stimmenanteil von Wahl zu Wahl immer nur gesteigert. Solche Demütigung wird nicht vergessen.
Und Erdoğans Partei hat ein Mittel in der Hand, das sie nun wieder hervorholt: die Nähe der HDP zur PKK. Es ist kein Geheimnis, dass da eine Beziehung besteht. Über die PKK sagte der HDP-Chef Selahattin Demirtaş vor Kurzem in einem Interview mit der ZEIT: "Das ist die politische Bewegung, aus der ich komme." So viel unerschrockene Offenheit ist keine Selbstverständlichkeit in der Türkei. Denn dass die HDP nicht nur als parlamentarisches Pendant der PKK, sondern auch als ein Motor der Integration der Kurdenbewegung in der türkischen Politik verstanden werden kann, erschließt sich nicht unbedingt jenen, die in diesem Konflikt nur Freund oder Feind kennen.
Am vergangenen Dienstag brachte Erdoğan die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten wegen ihrer PKK-Nähe ins Spiel. Sein Premierminister Davutoğlu forderte von der HDP, sie müsse sich endlich entscheiden: zwischen Gewalt und Frieden. Nun stimmt es zwar, dass es der HDP nicht gelingt, sich selbstkritisch mit ihrer PKK-Nähe auseinanderzusetzen. Dennoch enthält die Regierungspropaganda einen gewissen Widerspruch, um nicht zu sagen Heuchelei: Denn just mithilfe der HDP hat die Regierung seit drei Jahren mit dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan über eine Lösung des Konflikts verhandelt. Die prokurdische Partei fungierte als Vermittler und durfte regelmäßig eine Delegation zum Kurdenführer auf die Gefängnisinsel İmralı schicken. Es gab gemeinsame Pressekonferenzen mit Regierungsvertretern, auf denen Verlautbarungen des Staatsfeindes Öcalan verlesen wurden.
Ihn in die Verhandlungen einzubeziehen war damals eine kluge und mutige Entscheidung der Regierung, denn ohne Öcalan ist dieser schon 30 Jahre währende Konflikt, der 40.000 Menschenleben forderte, nicht zu lösen. Doch offenbar sind der Regierung die Kurden zuletzt zu stark geworden. Seit geraumer Zeit klagt die HDP-Verhandlungsdelegation, dass sie nicht mehr zu Öcalan vorgelassen werde.
Stattdessen schießt sich die Regierungspartei auf die HDP ein. Wieder ist, wie schon am Wahlabend, von Neuwahlen die Rede. Der Grund liegt auf der Hand: Indem der Staat einen klaren Frontverlauf herstellt, könnte er den Punktgewinn der HDP wieder zunichtemachen. Zwar will die türkische Gesellschaft den Friedensprozess mit den Kurden – sollte sich aber eine Regierung dazu entschließen, gegen die bewaffnete PKK-Truppe vorzugehen, kann sie gleichwohl sicher sein, von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt zu werden. Diesen Feind kennt man schließlich seit 30 Jahren allzu gut, anders als den IS, den man kaum begreifen kann. Der Kurdenkonflikt ist konkret, seinetwegen durchlebt jede Mutter, jeder Vater schlaflose Nächte, wenn der Sohn den Wehrdienst absolvieren muss und dabei womöglich im Osten bei Anti-Terror-Operationen eingesetzt wird.
Eine entschlossene Regierung, stark und autoritär, die für die nationale Sicherheit kämpft: Da gehen die meisten Türken mit, ob Anhänger der AKP oder nicht. Zumal die andere Seite ebenfalls in die alten Reflexe zurückfällt. Darauf deuten neuerliche Hinrichtungen von Polizisten hin, Anschläge auf türkische Soldaten, Entführungen, Wegelagerei. Zu einigen dieser Verbrechen bekennt sich die PKK, zu anderen nicht.
Zwischen diesen Fronten wird die HDP zerrieben. Die AKP verlangt von ihr, die PKK zu entwaffnen – was nicht einmal die zweitgrößte Nato-Armee in 30 Jahren Konflikt geschafft hat. Er könne den lieben langen Tag von Entwaffnung reden, sagte der HDP-Chef Demirtaş kürzlich, aber entschieden werde das von Öcalan. Prompt protestierte das PKK-Hauptquartier gegen derlei Einmischungen.
Indem sich die Regierung und die PKK wieder in diesen Konflikt stürzen, begeben sie sich einer historischen Chance. Denn wen gäbe es sonst derzeit als Partner der Türken außer ihrem wohlbekannten Gegenspieler? Die meisten Länder in der Region kommen dafür nicht infrage. Andererseits ist die Türkei wahrlich stark genug, um mit den Kurden als Bündnis- und Geschäftspartnern umzugehen. Beispiel Nordirak: Dort hat sich de facto ein Kurdenstaat gebildet, und die türkische Nation besteht immer noch. Er gefährdet sie nicht. Im Gegenteil, sie braucht ihn für den Kampf gegen den IS.
Klug wäre es, ginge die Türkei jetzt auf die politische Partei der Kurden zu. Das würde deren gemäßigte Strömung stärken. Und irgendwann könnte der militärische Arm der PKK überflüssig werden, der momentan so viel Zulauf haben soll wie lange nicht mehr. Eine solche Kurdenpolitik wäre im recht verstandenen Interesse der Türkei.
Umso wichtiger, ihr das mit Nachdruck zu sagen, und zwar so, dass auch die türkische Öffentlichkeit es hört. Gewiss, die Aufgabe der Nato war das nicht, die musste Solidarität zeigen. Aber dass die in der Nato verbreitete Kritik am harten antikurdischen Kurs Erdoğans ins informelle Beiprogramm rutschte, war keine diplomatische Glanzleistung. Schließlich sind alle Mitgliedsstaaten am Niederringen des IS interessiert.
Mitarbeit: Andrea Böhm
http://www.zeit.de/2015/31/tuerkei-is-kurden-tayyip-erdogan/seite-2
Die Türkei bekämpft den IS – und zugleich dessen stärkste Gegner, die Kurden: Was soll das? von Özlem Topçu
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Parlament in Ankara | © Umit Bektas/Reuters
Am Dienstag, unmittelbar vor seiner Abreise nach China, erschreckte Tayyip Erdoğan noch mal eben die Weltöffentlichkeit. "Unmöglich" sei es geworden, sagte der türkische Präsident auf einer Pressekonferenz, den Friedensprozess mit der kurdischen PKK fortzusetzen. Kurz vorher hatte seine Luftwaffe kurdische Stellungen im Nordirak angegriffen, ja sogar im syrischen Kobane – ausgerechnet in jener Stadt also, aus der die Kurden unter dem Beifall der Weltöffentlichkeit die Terrortruppen des "Islamischen Staats" (IS) verjagt hatten.
Erdoğans Vorstoß war wohlkalkuliert. Zur gleichen Zeit trat der Nato-Rat zu einer von der Türkei einberufenen Sitzung zusammen, um dem Land politische Rückendeckung im Kampf gegen den IS zu geben. Über die jüngsten Luftangriffe auf die Kurden im Irak und in Syrien hingegen verlor das Militärbündnis kein offizielles Wort. Sie werden also geduldet. Auch wenn zuvor einige Bündnispartner wie Deutschland zur Mäßigung geraten hatten.
Der 2013 mit der PKK vereinbarte Waffenstillstand ist damit zerrissen. Und die Türkei hat sich in die paradoxe Situation begeben, sowohl den IS als auch dessen härtesten Gegner zu bekämpfen – die PKK sowie ihr syrisches Pendant, die PYD.
Die syrischen Kurden hatten in den vergangenen Monaten zusammen mit Rebellen der Freien Syrischen Armee dem IS dermaßen zugesetzt, dass bereits über eine mögliche Rückeroberung von Rakka spekuliert wurde, der faktischen Hauptstadt des Kalifats. Vorausgesetzt, die kurdisch-arabische Koalition würde ausreichend von den USA und der Türkei unterstützt. Seitdem Ankara mit amerikanischem Einverständnis kurdische Stellungen beschießt, ist es damit erst einmal aus.
Die raue Kriegswirklichkeit wird erweisen, wie unhaltbar die türkische Position auf Dauer ist. Denn wer soll die von Ankara und Washington angestrebte "IS-freie Zone" erobern und halten, wenn nicht die Kurden? Mit Kampfflugzeugen allein geht das nicht, Bodentruppen wiederum wollen weder die USA noch die Türkei nach Syrien entsenden; die groß angekündigte moderate Rebellentruppe schließlich, die unter den Fittichen des Pentagon irgendwann gegen das Kalifat marschieren soll, besteht bislang bloß aus 60 Mann.
Vor den jüngsten türkischen Attacken auf die kurdischen Stellungen gab es durchaus Hoffnung auf ein Umdenken in Ankara. Vor allem nach dem Selbstmordattentat vom 20. Juli. Ihm fielen in der Grenzstadt Suruç 32 Anhänger einer sozialistischen Jugendbewegung zum Opfer, die in der syrischen Stadt Kobane beim Wiederaufbau helfen wollten. Es war der erste Anschlag in der Türkei, den die Regierung dem IS anlastete. Nun reihte sie sich – nach langem Zögern, viel internationaler Kritik und Spekulationen darüber, ob sie die Augen vor dem IS im eigenen Land verschließe, ja ihn gar unterstütze – in das Bündnis gegen die Dschihadisten ein. Endlich griffen türkische Luftwaffe und Artillerie syrische IS-Stellungen an, endlich gestattete Ankara der US-Luftwaffe, von der Basis Incirlik aus Angriffe gegen den IS zu fliegen.
Damit ist die Türkei Teil der Anti-IS-Koalition geworden. Und schwächt sie doch zugleich, indem sie gegen die Kurden kämpft. Wie um alles in der Welt kommt dieses Paradox zustande? Die Antwort ist bitter: aus Gründen der Innenpolitik.
Über sein Motiv hatte Erdoğan schon einmal Auskunft gegeben: "Wir werden es niemals zulassen, dass an unserer Grenze im Süden, im Norden Syriens, ein kurdischer Staat gegründet wird. Koste es, was es wolle." So kommentierte das Staatsoberhaupt vor vier Wochen den Erfolg kurdischer Einheiten, die – von der US-Luftwaffe unterstützt – den IS aus der syrischen Stadt Tal Abjad verdrängt hatten.
Erdoğans Äußerung brachte auf den Punkt, wie seine Regierung über die Veränderungen in der Region denkt. Während der Bürgerkrieg Syrien zerfleischte, gelang es den Kurden in dessen Norden im Winter 2013/14 nämlich, ein großes Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie nannten es "Rojava" und etablierten dort eine Selbstverwaltung, an der alle ethnischen Gruppen teilhaben sollten. Ausgerechnet die Kurden, diese ewigen Verlierer im Nahen Osten, als einziges großes Volk in der Zeit der Staatengründungen 1919 bis 1932 leer ausgegangen und über lange Zeit hinweg unterdrückt, hatten auf einmal ein Stück der Landkarte neu gezeichnet. Von nun an galt Rojava, das aus den Kantonen Afrin, Kobane und Cizre besteht, als das sicherste Gebiet im Kriegsland Syrien.
Bis der IS nach Kobane vorrückte. Im Herbst 2014 schaute die ganze Welt wochenlang auf diese kleine Stadt, deren Namen vorher wohl die wenigsten jemals gehört hatten, und verfolgte den Kampf der Kurden gegen den IS.
Besonders eine Hauptstadt schaute aufmerksam hin, als sich abzeichnete, dass die Kurden dem IS standhalten würden. Wenn den Regierungsvertretern in Ankara nicht vorher schon angesichts der einen oder anderen Flagge in kurdischen Farben oder mit dem Konterfei des PKK-Führers Abdullah Öcalan an der syrisch-türkischen Grenze mulmig wurde, dann spätestens jetzt. Denn so sah es nun aus: Die Kurden waren die Helden, Kobane war ihr Symbol und die türkische Regierung mit all ihren Panzern an der Grenze nur ein untätiger Zuschauer ohne Plan.
Die Angst vor dem "kurdischen Korridor"
Die raue Kriegswirklichkeit wird erweisen, wie unhaltbar die türkische Position auf Dauer ist.
Womöglich hatte die Regierung darauf gehofft, dass die militanten Islamisten und Kurden einander neutralisierten. Die Kurden halten die Islamisten von der türkischen Grenze fern, die Islamisten dämmen die kurdischen Autonomiebestrebungen in Rojava ein – so war wohl das Kalkül. Nur ging es nicht auf. Stattdessen wurden die Kurden stark und stärker, und der IS trug den Krieg mit dem Anschlag von Suruç auf türkisches Territorium. Anstatt auf beiden Spielfeldern zu gewinnen, verlor Ankara auf beiden gleichzeitig.
Auf Kobane folgte Tal Abjad. Mit der Eroberung dieser Grenzstadt war das ewig staatenlose Volk der Kurden dem schon deutlich näher gekommen, was "kurdischer Korridor" genannt wird: ein Streifen vom äußersten Nordosten Syriens westwärts hinunter zum Mittelmeer. Nach der Einnahme Tal Abjads war ein großes Loch dieses Korridors gestopft.
In Ankara wuchs die Nervosität. Diese Kurden schienen unaufhaltsam zu sein. Und das nach der Wahl im Juni, bei der erstmals die prokurdische Partei HDP ins türkische Parlament gewählt wurde – mit dem Versprechen, nicht nur die Interessen der Kurden zu vertreten, sondern eine demokratische Partei für die gesamte Türkei zu sein. Noch dazu eine Partei, die Erdoğans Wunsch entgegentritt, ein Präsidialsystem zu errichten, das ihm als Staatsoberhaupt mehr Macht zusprechen würde.
Natürlich machte sich die HDP sofort stark für Kobane und die Sache der Kurden in Syrien. Zugleich versprach sie, alles dafür zu tun, dass der in der Türkei populäre Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und den Kurden fortgesetzt werde. Etwas perplex sprach der Staatspräsident jetzt davon, dass es gar kein Kurdenproblem gebe.
Die Kurden waren stark geworden, nicht nur in Syrien, nicht nur vor den Augen der Weltöffentlichkeit, sondern auch im Inneren der Türkei. Sie waren mit der HDP, diesem Zusammenschluss kurdischer und linker türkischer Gruppen, auch für Nichtkurden wählbar geworden und hatten Anteil daran, dass Erdoğans Regierungspartei AKP zehn Prozentpunkte verlor – was eine Sensation war, hatte die AKP doch zuvor ihren Stimmenanteil von Wahl zu Wahl immer nur gesteigert. Solche Demütigung wird nicht vergessen.
Und Erdoğans Partei hat ein Mittel in der Hand, das sie nun wieder hervorholt: die Nähe der HDP zur PKK. Es ist kein Geheimnis, dass da eine Beziehung besteht. Über die PKK sagte der HDP-Chef Selahattin Demirtaş vor Kurzem in einem Interview mit der ZEIT: "Das ist die politische Bewegung, aus der ich komme." So viel unerschrockene Offenheit ist keine Selbstverständlichkeit in der Türkei. Denn dass die HDP nicht nur als parlamentarisches Pendant der PKK, sondern auch als ein Motor der Integration der Kurdenbewegung in der türkischen Politik verstanden werden kann, erschließt sich nicht unbedingt jenen, die in diesem Konflikt nur Freund oder Feind kennen.
Am vergangenen Dienstag brachte Erdoğan die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten wegen ihrer PKK-Nähe ins Spiel. Sein Premierminister Davutoğlu forderte von der HDP, sie müsse sich endlich entscheiden: zwischen Gewalt und Frieden. Nun stimmt es zwar, dass es der HDP nicht gelingt, sich selbstkritisch mit ihrer PKK-Nähe auseinanderzusetzen. Dennoch enthält die Regierungspropaganda einen gewissen Widerspruch, um nicht zu sagen Heuchelei: Denn just mithilfe der HDP hat die Regierung seit drei Jahren mit dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan über eine Lösung des Konflikts verhandelt. Die prokurdische Partei fungierte als Vermittler und durfte regelmäßig eine Delegation zum Kurdenführer auf die Gefängnisinsel İmralı schicken. Es gab gemeinsame Pressekonferenzen mit Regierungsvertretern, auf denen Verlautbarungen des Staatsfeindes Öcalan verlesen wurden.
Ihn in die Verhandlungen einzubeziehen war damals eine kluge und mutige Entscheidung der Regierung, denn ohne Öcalan ist dieser schon 30 Jahre währende Konflikt, der 40.000 Menschenleben forderte, nicht zu lösen. Doch offenbar sind der Regierung die Kurden zuletzt zu stark geworden. Seit geraumer Zeit klagt die HDP-Verhandlungsdelegation, dass sie nicht mehr zu Öcalan vorgelassen werde.
Stattdessen schießt sich die Regierungspartei auf die HDP ein. Wieder ist, wie schon am Wahlabend, von Neuwahlen die Rede. Der Grund liegt auf der Hand: Indem der Staat einen klaren Frontverlauf herstellt, könnte er den Punktgewinn der HDP wieder zunichtemachen. Zwar will die türkische Gesellschaft den Friedensprozess mit den Kurden – sollte sich aber eine Regierung dazu entschließen, gegen die bewaffnete PKK-Truppe vorzugehen, kann sie gleichwohl sicher sein, von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt zu werden. Diesen Feind kennt man schließlich seit 30 Jahren allzu gut, anders als den IS, den man kaum begreifen kann. Der Kurdenkonflikt ist konkret, seinetwegen durchlebt jede Mutter, jeder Vater schlaflose Nächte, wenn der Sohn den Wehrdienst absolvieren muss und dabei womöglich im Osten bei Anti-Terror-Operationen eingesetzt wird.
Eine entschlossene Regierung, stark und autoritär, die für die nationale Sicherheit kämpft: Da gehen die meisten Türken mit, ob Anhänger der AKP oder nicht. Zumal die andere Seite ebenfalls in die alten Reflexe zurückfällt. Darauf deuten neuerliche Hinrichtungen von Polizisten hin, Anschläge auf türkische Soldaten, Entführungen, Wegelagerei. Zu einigen dieser Verbrechen bekennt sich die PKK, zu anderen nicht.
Zwischen diesen Fronten wird die HDP zerrieben. Die AKP verlangt von ihr, die PKK zu entwaffnen – was nicht einmal die zweitgrößte Nato-Armee in 30 Jahren Konflikt geschafft hat. Er könne den lieben langen Tag von Entwaffnung reden, sagte der HDP-Chef Demirtaş kürzlich, aber entschieden werde das von Öcalan. Prompt protestierte das PKK-Hauptquartier gegen derlei Einmischungen.
Indem sich die Regierung und die PKK wieder in diesen Konflikt stürzen, begeben sie sich einer historischen Chance. Denn wen gäbe es sonst derzeit als Partner der Türken außer ihrem wohlbekannten Gegenspieler? Die meisten Länder in der Region kommen dafür nicht infrage. Andererseits ist die Türkei wahrlich stark genug, um mit den Kurden als Bündnis- und Geschäftspartnern umzugehen. Beispiel Nordirak: Dort hat sich de facto ein Kurdenstaat gebildet, und die türkische Nation besteht immer noch. Er gefährdet sie nicht. Im Gegenteil, sie braucht ihn für den Kampf gegen den IS.
Klug wäre es, ginge die Türkei jetzt auf die politische Partei der Kurden zu. Das würde deren gemäßigte Strömung stärken. Und irgendwann könnte der militärische Arm der PKK überflüssig werden, der momentan so viel Zulauf haben soll wie lange nicht mehr. Eine solche Kurdenpolitik wäre im recht verstandenen Interesse der Türkei.
Umso wichtiger, ihr das mit Nachdruck zu sagen, und zwar so, dass auch die türkische Öffentlichkeit es hört. Gewiss, die Aufgabe der Nato war das nicht, die musste Solidarität zeigen. Aber dass die in der Nato verbreitete Kritik am harten antikurdischen Kurs Erdoğans ins informelle Beiprogramm rutschte, war keine diplomatische Glanzleistung. Schließlich sind alle Mitgliedsstaaten am Niederringen des IS interessiert.
Mitarbeit: Andrea Böhm
http://www.zeit.de/2015/31/tuerkei-is-kurden-tayyip-erdogan/seite-2