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Yunan
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[h=1]Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat[/h]Ulrike Herrmann 17.09.2013
[h=2]Der Staat ist im Kapitalismus allgegenwärtig. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich, dass sich die Frage stellt, warum Marktliberale dies hartnäckig ignorieren[/h]Neoliberale erwecken stets den Eindruck, als ob die Wirtschaft vom Staat geknebelt würde und sich von dieser politischen Diktatur mühsamst befreien müsste. Historisch ist dies ein völlig schiefes Bild: Wo immer es Frühformen des Kapitalismus gab – da hatten diese frühen Kapitalisten auch politisch das Sagen.
Sehr typisch sind die mittelalterlichen Hansestädte Hamburg, Lübeck oder Bremen, deren prächtige Rathäuser noch heute davon zeugen, dass dort einst mächtige Senatoren tagten. Diese Patrizier waren natürlich nicht durchs breite Volk gewählt, sondern stammten aus dem erlauchten Kreis der großen Kaufleute, die die Politik der unabhängigen Stadtstaaten danach ausrichteten, was dem Fernhandel und damit ihrer Schatulle förderlich war.
Dieses Muster war in allen großen Handelsmetropolen zu beobachten. Auch in den italienischen Stadtstaaten Venedig, Florenz und Genua regierte die Geldaristokratie. Besonders berühmt wurde die Florentiner Bankiersfamilie Medici, der es sogar gelang, sich zu Großherzögen der Toskana aufzuschwingen. Nach der Entdeckung Amerikas 1492 verlagerte sich der Handel zwar gen Westen, aber auch in Antwerpen und später Amsterdam galt, dass die Kaufleute ihre Städte regierten. "Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war", fasst der französische Historiker Fernand Braudel dieses Phänomen zusammen.
Die Handelsstädte waren der Fläche nach zwar klein, aber sie waren regionale und manchmal sogar globale Großmächte. Sowohl Venedig wie Genua besaßen zahlreiche Kolonien im Mittelmeerraum, und die Amsterdamer Kaufleute dehnten ihren Einfluss bis nach Indonesien aus, indem 1602 die Niederländische Ostindien-Kompanie gegründet und mit staatlicher Herrschaftsgewalt ausgestattet wurde. Politische Macht und wirtschaftliche Interessen waren nicht zu trennen.
Bis ins 17. Jahrhundert dominierten die großen Handelsstädte den weltweiten Handel, doch sie lagen wie kleine kapitalistische Inseln in einem weiten Meer von Feudalstaaten. Im 18. Jahrhundert ändert sich dies. Erstmals wurde ein ganzer Nationalstaat von Kapitalinteressen regiert: England. Die schon erwähnte "Glorious Revolution" von 1688/89 war das Symbol für diesen Wandel; die "Bill of Rights" sicherte dem Parlament umfassende Rechte zu, die die Macht des Königs beschnitten. Formal wurde England damit zur konstitutionellen Monarchie, doch war das Stimmrecht daran gekoppelt, dass man ein Mindestvermögen besaß.
Eine kleine Elite, die vor allem aus dem Landadel, aber auch aus Kaufleuten bestand, dominierte das englische Parlament und sorgte dafür, dass die britische Politik ihre wirtschaftlichen Interessen bediente. Nicht zufällig hatten sie sich dafür auch den richtigen König ausgesucht: Nachdem die Briten 1688 ihren katholischen König Jakob II. gestürzt hatten, trugen sie die Krone Wilhelm III. von Oranien-Nassau an, der gleichzeitig der Statthalter der Niederlande war.
Allerdings wäre es falsch zu behaupten, dass die englischen Kaufleute bis dahin unter ihren Monarchen gelitten hätten. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert gehörte es zum Programm der englischen Könige, die Wirtschaft zu fördern, wie Adam Smith 1776 bezeugt:
Seit der Herrschaft von Elisabeth hat sich die englische Gesetzgebung besonders um die Interessen des Handels und der Manufakturen bemüht, und in Wirklichkeit gibt es kein Land in Europa, Holland nicht ausgenommen, wo das Recht dieser Art von Industrie so gewogen ist.
Das englische Beispiel machte bald Schule, denn auch anderen europäischen Monarchen war deutlich, dass sie ihre Wirtschaft fördern mussten, wenn sie die permanenten Kriege in Europa überstehen wollten. Armeen waren teuer und ließen sich nur durch eine prosperierende Ökonomie finanzieren. Ab dem 17. Jahrhundert kam daher europaweit der sogenannte "Merkantilismus" in Mode, der zwar nie ein geschlossenes theoretisches Konzept darstellte, aber in fast allen Ländern dazu führte, dass die Herrscher bemüht waren, Manufakturen zu gründen und die Exporte ihres Landes zu steigern. Wieder war die Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft eng: Die meisten Könige hatten bürgerliche Berater, die ihnen erklärten, wie das Handelsleben funktionierte. Legendär wurde der russische Zar Peter der Große, der 1697 sogar unter falschem Namen nach Holland reiste, um in Zaandam auf einer Werft zu arbeiten und die Wirtschaft dieser reichen Handelsnation zu studieren.
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Der Text wurden dem gerade im Westend-Verlag erschienenem Buch "Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen" entnommen (288 Seiten, 19,99 Euro). Die Autorin Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz.
Ulrike Herrmann macht in ihrem Buch deutlich: Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern im Kapitalismus – was nicht das Gleiche ist. Dieser Kapitalismus ist zwar sehr dynamisch, aber ohne den Staat nicht lebensfähig. Solche Zusammenhänge werden jedoch von Wählern, Unternehmern und Politikern permanent missverstanden, was zu dramatischen Fehlentscheidungen führt, die uns alle betreffen. Deswegen gilt: Nur wer weiß, wie der "Sieg des Kapitals" verlaufen ist und verläuft, kann die Lügen der Lobbyisten entlarven.
Auch die Geburt des modernen Kapitalismus verdankt sich staatlicher Hilfe
Diese kurze historische Skizze zeigt bereits, dass der Kapitalismus nicht gegen den Staat entstanden ist, sondern immer Staatshilfe genossen hat. Allerdings wandelte sich die Rolle des Staates im 19. Jahrhundert fundamental, als mit der Industrialisierung der moderne Kapitalismus einsetzte. Der Merkantilismus hatte sich abgemüht, in einer weitgehend stagnierenden Wirtschaft Wachstum zu erzeugen. Mit der Industrialisierung stellte sich das Problem genau umgekehrt: Nun gab es zwar Wachstum, aber die rasante technische Entwicklung hatte ungeahnte gesellschaftliche Folgen, die nur der Staat bewältigen konnte.
Damit sich der Kapitalismus entfalten konnte, war es notwendig, die Bevölkerung besser auszubilden, Universitäten zu gründen und die Forschung zu finanzieren. Die explodierenden Städte mussten geplant und verwaltet, Straßen und Eisenbahnen gebaut werden. Potentiell gefährliche Produkte wie neue Medikamente mussten überwacht, die Sicherheit der Fabriken kontrolliert und Umweltschäden vermieden werden. Der Staat war plötzlich überall gefragt. Zudem hätten zentrale technische Entwicklungen gar nicht stattfinden können, wenn der Staat nicht mitgezogen hätte. Ein Beispiel: Für die Deutsche Edison-Gesellschaft (später AEG) lohnte es sich nur, ins Elektrizitätsgeschäft einzusteigen, weil die Stadt Berlin als sicherer Kunde zur Verfügung stand und 1884 einen Konzessionsvertrag mit der Firma abschloss.
Vor allem aber musste der Staat dafür sorgen, dass die Bevölkerung den technischen Wandel aushalten konnte. "Wohlstand für alle" klingt zwar gut, aber der ständige Produktivitätsfortschritt ist auch eine Zumutung. Wissen veraltet, einst sichere Arbeitsplätze verschwinden, und im Wettstreit um die besten Jobs kann nicht jeder siegen. Der Soziologe Karl Otto Hondrich hat die Dialektik des Fortschritts sehr schön beschrieben:
Wettbewerb erzeugt Ungleichheit Sogar wenn alle ihre Leistung steigern, sind einige zum Scheitern verdammt. Der Erfolg des einen ist der Misserfolg des anderen. Leistungssteigerung führt – später oder früher, dort oder hier – zu Leistungsversagen. Dieses Leistungsversagungsgesetz ist das fundamentale Paradox der Wettbewerbsgesellschaft, eine Fortschrittsfalle, aus der es kein Entrinnen gibt. … Jede individuelle Leistungssteigerung im Wettbewerb beruht auf einer kollektiven Vorleistung: Die Gesellschaft muss ja sagen zum Leistungsversagen!
Das Ergebnis ist bekannt: Alle westlichen Länder haben eine staatliche Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe eingeführt, um wenigstens die größten Härten des Kapitalismus abzufedern. Die wachsende Bedeutung des Staates spiegelt sich in der sogenannten Staatsquote wider, die den Anteil öffentlicher Ausgaben an der jährlichen Wirtschaftsleistung misst, und diese Staatsquote ist rasant gestiegen. Lag sie im Kaiserreich noch bei fünf bis sieben Prozent, hatte sie in der Weimarer Republik schon 15 bis 20 Prozent erreicht – und 2011 betrug sie in Deutschland 45,3 Prozent.
Auf den ersten Blick könnte dies nahelegen, dass die Staatsausgaben ständig steil nach oben klettern würden. Tatsächlich jedoch verharren sie seit fast 40 Jahren auf einem fast unveränderten Niveau. In Deutschland belief sich die Staatsquote 1975 auch schon auf 48,8 Prozent – und seither musste sogar noch eine Wiedervereinigung finanziert werden. Die Sorge ist also gänzlich unbegründet, dass ein Moloch namens Staat das angeblich zarte Pflänzchen namens Kapitalismus restlos zermalmen könnte.
Vor allem aber ist die neoliberale Grundannahme falsch, dass Wachstum nur möglich sei, wenn sich der Staat möglichst aus der Wirtschaft heraushält. Obwohl Österreich die stattliche Staatsquote von 50,5 Prozent aufweist, ist es in den vergangenen Jahren stärker gewachsen als Deutschland. Zwischen 2001 und 2010 legte die österreichische Wirtschaft jährlich im Durchschnitt um 1,6 Prozent zu, während es die Bundesrepublik nur auf 0,9 Prozent brachte. Die Schweiz wiederum scheint zunächst den gegenteiligen Fall darzustellen, weil sie ein durchschnittliches Wachstum von 1,7 Prozent erzielte, obwohl ihre Staatsquote nur bei 34,5 Prozent liegt.
Allerdings führt es etwas in die Irre, nur die absoluten Wachstumsraten zu vergleichen. Denn es bleibt ja die Frage, auf wie viele Köpfe die Wirtschaftsleistung zu verteilen ist – und da zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen den drei Staaten. In Deutschland nahm die Zahl der Bürger leicht ab und liegt jetzt bei 80,2 Millionen, während die Schweiz im vergangenen Jahrzehnt rund 800.000 Menschen hinzugewonnen hat und nun auf etwa acht Millionen Einwohner kommt, was einem Zuwachs von über zehn Prozent entspricht. Nach Österreich sind in der gleichen Zeit 400.000 Menschen eingewandert, so dass dort die Zahl der Bürger um fünf Prozent auf 8,4 Millionen angestiegen ist. Mehr Menschen bedeuten jedoch mehr Konsum. Es ist völlig logisch, dass eine Wirtschaft wächst, wenn zusätzliche Einwanderer zu versorgen sind.
Um dies genauer vorzurechnen: Seit 2000 betrug das Schweizer Wirtschaftswachstum kumuliert etwa 21 Prozent. Da gleichzeitig die Bevölkerung um über zehn Prozent zunahm, handelte es sich zur Hälfte um ein "Breitenwachstum". Pro Kopf war das Plus also nur halb so hoch und betrug etwa 0,85 Prozent. Diese Ziffer erinnert genau an den Durchschnittswert von Deutschland, das bei leicht sinkender Bevölkerung auf 0,9 Prozent kam. Am besten schnitt pro Kopf Österreich ab, obwohl es von den drei Ländern die höchste Staatsquote besitzt.
Zudem stellt sich die Frage, wie es den Schweizern überhaupt gelungen ist, ihre Staatsquote auf erstaunliche 34,5 Prozent zu drücken. Schließlich schwankt diese in fast allen anderen westeuropäischen Ländern in einem Korridor von 45 bis 55 Prozent. Die Antwort heißt "Privatisierung". Die Schweizer Krankenversicherung und ein Teil der Altersvorsorge werden durch private Unternehmen abgedeckt – und damit bei der Staatsquote nicht erfasst. Aus der Sicht eines Schweizer Angestellten ist dies nicht viel mehr als ein Taschenspielertrick, denn er muss ja trotzdem Zwangsabgaben an die Versicherungen leisten. Der Schweizer Unternehmerverband hat bereits ausgerechnet, wie hoch die Schweizer Staatsquote wäre, wenn man die privatisierten Sozialversicherungen berücksichtigen würde: Sie läge sogar noch weit über dem deutschen Niveau.
Europaweit war es in den vergangenen Jahren ein neoliberaler Volkssport, sich auf die Staatsquote zu fixieren und diese möglichst weit nach unten zu drücken. Doch dies gelingt nur mit statistischen Tricks. Die "echte" Staatsquote liegt in allen westlichen Ländern ähnlich hoch – egal ob dort Sozialdemokraten oder Konservative regieren. Dieser Befund ist nicht erstaunlich: Der Staat muss ein sehr wesentlicher Teil des Kapitalismus sein, sonst bricht dieser Kapitalismus sofort zusammen.
Die angeblich so freien Finanzmärkte sind Märkte, auf denen der Staat den Preis zentral bestimmt
Vor allem die "Finanzmärkte" würde es gar nicht geben, wenn der Staat nicht stützend und regulierend eingreifen würde. Dies macht schon die Geschichte der ersten Banken deutlich. Sie entstanden in Italien im 14. Jahrhundert nicht etwa, um private Einlagen entgegenzunehmen, sondern um die öffentlichen Schulden zu verwalten. Aus der Sicht der italienischen Kaufleute war diese enge Kooperation sehr naheliegend: Da sie die Städte regierten, gab es für sie sowieso keine Trennung zwischen Staat und privat. Auch Aktiengesellschaften waren ursprünglich keine rein privatwirtschaftlichen Unternehmen. Die weltweit erste Aktiengesellschaft war die schon erwähnte Niederländische Ostindien-Kompanie von 1602, die ihre Profite damit machte, dass sie ein staatlich garantiertes Monopol für den Fernhandel mit Asien besaß.
Die Börsen hatten zunächst ebenfalls wenig mit der Privatwirtschaft zu tun, obwohl sie als die Inkarnation des freien Marktes gelten: 1611 entstand die weltweit erste Wertpapierbörse in Amsterdam – und sie hatte zunächst nur den Zweck, die "Liquidität", also den Umsatz, von staatsnahen Papieren zu erhöhen. Gehandelt wurden vor allem öffentliche Schuldverschreibungen und eben Aktien der Niederländischen Ostindien-Kompanie. In London wiederholte sich dieses Phänomen gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als sich die dortige Börse für Wertpapiere öffnete. Erneut waren vor allem zwei Papiere begehrt: nämlich die Aktien der Britischen Ostindien-Kompanie und die Anleihen der Bank von England – beides staatlich geschützte Monopolgesellschaften.
Seither hat sich das Geschehen auf den Finanzmärkten zwar stark diversifiziert, aber auch heute noch wären viele Investoren ratlos, wenn sie nicht mit Staatspapieren spekulieren könnten. Der Umsatz mit öffentlichen Anleihen ist geradezu astronomisch, wie das Beispiel der deutschen Bundespapiere zeigt. 2011 zirkulierten Bundesanleihen im Wert von etwa 1,1 Billionen Euro, doch das weltweite Handelsvolumen mit diesen Papieren betrug sechs Billionen Euro. In einem Jahr wurde also jede Anleihe mehr als fünfmal gekauft und verkauft.
Noch beliebter ist der Devisenhandel, der auf ein weltweites Volumen von mindestens vier Billionen Euro kommt – täglich. Ökonomisch ist dieses Großkasino sowieso völlig überflüssig, aber vor allem wird gern vergessen, dass Währungen keinen Wert "an sich" haben. Geld behält seine Kaufkraft nur, weil es staatlich überwacht wird. In allen Ländern sorgen Notenbanken dafür, dass die Geldmenge nicht explodiert, indem sie das Zinsniveau vorgeben. Der Zins ist aber nichts anderes als ein Preis – nämlich für Kredite, die immer noch das Kerngeschäft der Finanzmärkte ausmachen. Die angeblich so freien Finanzmärkte sind also Märkte, auf denen der Staat den Preis zentral bestimmt. Ein Marsmensch würde wahrscheinlich denken, dass Finanzmärkte knapp vor einem Sozialismus einzuordnen wären.
Dieser Marsmensch läge auch deswegen nicht falsch, weil die großen Banken und Fonds ein einzigartiges Privileg genießen: Fast immer rettet sie der Staat, wenn die Pleite droht. Denn beim Bankrott einer wichtigen Bank kollabieren nicht nur die Finanzmärkte – auch die Realwirtschaft leidet sofort. Also muss der Staat eingreifen, um den Crash zu vermeiden. Für die Investmentbanken ist diese implizite Staatsgarantie ungeheuer lukrativ, denn sie leben in einer Welt, die sich als eine perverse Mischung von Sozialismus und Kapitalismus beschreiben ließe: Die Verluste werden sozialisiert und die Gewinne privatisiert.
Ohne die permanente Intervention des Staates wurde es keinen funktionierenden Kapitalismus geben
Kein Wirtschaftszweig ist vom Staat so abhängig wie die Finanzbranche, und insofern war es geniales Marketing, dass es ihr gelungen ist, sich als besonders staatsfern darzustellen. Die Deregulierung seit den frühen 1980ern basierte auf dem Trick, die staatlichen Regeln als Zwangsjacke zu diffamieren, die die freie Entfaltung des "Finanzmarktes" und der Wirtschaft abwürgen würde. In ihrer ersten großen Rede nach dem "Big Bang" kondensierte die britische Premierministerin Margaret Thatcher diese neoliberale Weltsicht zu einem einzigen Satz:
Verschwunden sind die Kontrollen, die den Erfolg behindert haben.
Wie das Wort "Erfolg" schon sagt: Misserfolge waren gar nicht erst vorgesehen, was erstaunlich realitätsblind war. Der Kapitalismus ist ein extrem volatiles System, das zu periodischen Krisen neigt. Oft sind es nur normale Konjunkturdellen, aber nicht selten kommt es auch zu schweren Depressionen, die durch das Herdenverhalten der Finanzinvestoren ausgelöst werden. Sobald aber das Wachstum stockt, ist wieder der Staat gefragt. Dann nehmen auch neoliberale Unternehmer sehr gern Regierungshilfe in Anspruch. Jüngstes Beispiel war die "Abwrackprämie", die 2009 die Automobilindustrie durch die Finanzkrise lotsen sollte und die den deutschen Steuerzahler fünf Milliarden Euro gekostet hat.
Neben solchen direkten Subventionen profitieren die Firmen aber auch indirekt: Obwohl Marktwirtschaftler gern die angeblich zu hohe Staatsquote beklagen, sind es genau diese öffentlichen Ausgaben, die die Wirtschaft in Krisenzeiten stabilisieren. Denn die Renten laufen weiter, Arbeitslose werden unterstützt, und auch die Krankenkassen schränken ihre Leistungen nicht ein. Diese "automatischen Stabilisatoren" garantieren einen Basissockel an Einkommen, was wiederum für Konsum, Umsatz und Arbeitsplätze sorgt, während die Firmen ihre Investitionen und Kapazitäten nach unten fahren.
Würde die deutsche Wirtschaft nur aus privaten Unternehmen bestehen – sie würde in jeder Krise weitgehend kollabieren. Das 19. Jahrhundert ist dafür ein abschreckendes Beispiel, als es noch keine Sozialversicherungen gab und der Staat nicht intervenierte: Nach dem Gründerkrach 1873 wurden in der deutschen Eisenindustrie 40 Prozent aller Arbeiter entlassen. Dies wäre heute undenkbar.
Der Staat ist im Kapitalismus allgegenwärtig, weil es ohne seine permanente Intervention gar keinen funktionierenden Kapitalismus geben würde. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich, dass sich die Frage stellt, warum Marktliberale dies hartnäckig ignorieren.
Eine Antwort dürfte sein: Es ist keine angenehme Vorstellung, zum Staat verdammt zu sein. Es ist anstrengend, dass man sich ständig mit Millionen von Mitbürgern arrangieren muss und es keine ökonomische Insel gibt, auf die man flüchten kann. Die Idee des Marktes hingegen ist unendlich tröstlich: Dort zählt nur das Individuum, das ganz auf seine eigene Leistung bauen kann und sich nicht ständig um das große Ganze kümmern muss. Dort ist jeder seines Glückes Schmied und übernimmt Verantwortung nur für sich selbst und seine Familie. Dieses Märchen ist einfach zu schön, um es aufzugeben.
Zudem schmeichelt es dem Selbstwertgefühl der Privilegierten ungemein, wenn sie sich zu Leistungsträgern adeln dürfen, anstatt sich nach den sozialen Bedingungen ihres Reichtums fragen zu müssen.
Wer heute Videos mit Margaret Thatcher sieht, staunt ein wenig, wie steif sie war. Ihre Reden wirken, als wären sie auswendig gelernt. Trotzdem entfalteten sie einen Sog, weil die britische Premierministerin das Märchen vom freien Markt und vom freien Individuum perfekt erzählen konnte. Den Ausverkauf der öffentlichen Wasserversorgung, Bahnen und Elektrizitätswerke rechtfertigte sie zum Beispiel 1986 mit diesen Worten:
Wir Politiker haben alle Träume. Zu meinem gehört, dass ich Macht und Verantwortung an das Volk zurückgeben will, um den Menschen und ihren Familien wieder das Gefühl der Unabhängigkeit zu vermitteln. Die große Reform des vergangenen Jahrhunderts war es, mehr und mehr Bürger zu Wählern zu machen. Die große Reform unserer Zeit ist es, mehr und mehr Bürger zu Eigentümern zu machen. Volkskapitalismus ist ein Glaubensfeldzug: ein Kreuzzug, der die vielen befreit und befähigt, am wirtschaftlichen Leben Großbritanniens teilzunehmen. … Menschen brauchen Anreize; sie brauchen Verantwortung; sie brauchen die Freiheit und die Würde, die daher rührt, dass sie etwas ihr Eigen nennen können … Die Stärke unserer Politik ist, dass sie auf dem gesunden Instinkt unseres Volkes beruht – einem Instinkt für Eigentum, Sparsamkeit, ehrliche Arbeit und faire Belohnung.
Jeder würde gern in dieser Welt des ehrlichen Eigentums leben, aber leider ist es eben nur eine schöne Mär. In der Realität strichen wenige Finanzinvestoren Monopolgewinne ein, während die britischen Eisenbahnen und Wasserwerke verfielen.
Doch der Staat wird nicht nur in Frage gestellt, weil er angeblich zu viel Macht ausübt und die Freiheit seiner Bürger beschneidet. Auch das genaue Gegenteil wird ihm vorgehalten. Der Nationalstaat wird als machtlos wahrgenommen – als ein historisches Relikt, das in den Zeiten der Globalisierung anachronistisch wirkt. Der Staat erscheint vielen seiner Bürger unendlich piefig und altmodisch, da er auf seiner Scholle hockt, während die Waren und vor allem das Finanzkapital frei um die Welt strömen. Das Wort "Globalisierung" kam in den 1990er Jahren auf, und schon deswegen denken viele Menschen, dass das Phänomen genauso jung sein müsse wie das Wort. Dies ist ein Irrtum. Die Globalisierung ist alt, vielleicht sogar uralt, woraus wiederum folgt: Wenn der Staat an Einfluss verliert oder die Löhne sinken, kann es nicht an der Globalisierung liegen.
Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat | Telepolis
[h=2]Der Staat ist im Kapitalismus allgegenwärtig. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich, dass sich die Frage stellt, warum Marktliberale dies hartnäckig ignorieren[/h]Neoliberale erwecken stets den Eindruck, als ob die Wirtschaft vom Staat geknebelt würde und sich von dieser politischen Diktatur mühsamst befreien müsste. Historisch ist dies ein völlig schiefes Bild: Wo immer es Frühformen des Kapitalismus gab – da hatten diese frühen Kapitalisten auch politisch das Sagen.
Sehr typisch sind die mittelalterlichen Hansestädte Hamburg, Lübeck oder Bremen, deren prächtige Rathäuser noch heute davon zeugen, dass dort einst mächtige Senatoren tagten. Diese Patrizier waren natürlich nicht durchs breite Volk gewählt, sondern stammten aus dem erlauchten Kreis der großen Kaufleute, die die Politik der unabhängigen Stadtstaaten danach ausrichteten, was dem Fernhandel und damit ihrer Schatulle förderlich war.
Dieses Muster war in allen großen Handelsmetropolen zu beobachten. Auch in den italienischen Stadtstaaten Venedig, Florenz und Genua regierte die Geldaristokratie. Besonders berühmt wurde die Florentiner Bankiersfamilie Medici, der es sogar gelang, sich zu Großherzögen der Toskana aufzuschwingen. Nach der Entdeckung Amerikas 1492 verlagerte sich der Handel zwar gen Westen, aber auch in Antwerpen und später Amsterdam galt, dass die Kaufleute ihre Städte regierten. "Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war", fasst der französische Historiker Fernand Braudel dieses Phänomen zusammen.
Die Handelsstädte waren der Fläche nach zwar klein, aber sie waren regionale und manchmal sogar globale Großmächte. Sowohl Venedig wie Genua besaßen zahlreiche Kolonien im Mittelmeerraum, und die Amsterdamer Kaufleute dehnten ihren Einfluss bis nach Indonesien aus, indem 1602 die Niederländische Ostindien-Kompanie gegründet und mit staatlicher Herrschaftsgewalt ausgestattet wurde. Politische Macht und wirtschaftliche Interessen waren nicht zu trennen.
Bis ins 17. Jahrhundert dominierten die großen Handelsstädte den weltweiten Handel, doch sie lagen wie kleine kapitalistische Inseln in einem weiten Meer von Feudalstaaten. Im 18. Jahrhundert ändert sich dies. Erstmals wurde ein ganzer Nationalstaat von Kapitalinteressen regiert: England. Die schon erwähnte "Glorious Revolution" von 1688/89 war das Symbol für diesen Wandel; die "Bill of Rights" sicherte dem Parlament umfassende Rechte zu, die die Macht des Königs beschnitten. Formal wurde England damit zur konstitutionellen Monarchie, doch war das Stimmrecht daran gekoppelt, dass man ein Mindestvermögen besaß.
Eine kleine Elite, die vor allem aus dem Landadel, aber auch aus Kaufleuten bestand, dominierte das englische Parlament und sorgte dafür, dass die britische Politik ihre wirtschaftlichen Interessen bediente. Nicht zufällig hatten sie sich dafür auch den richtigen König ausgesucht: Nachdem die Briten 1688 ihren katholischen König Jakob II. gestürzt hatten, trugen sie die Krone Wilhelm III. von Oranien-Nassau an, der gleichzeitig der Statthalter der Niederlande war.
Allerdings wäre es falsch zu behaupten, dass die englischen Kaufleute bis dahin unter ihren Monarchen gelitten hätten. Spätestens seit dem 16. Jahrhundert gehörte es zum Programm der englischen Könige, die Wirtschaft zu fördern, wie Adam Smith 1776 bezeugt:
Seit der Herrschaft von Elisabeth hat sich die englische Gesetzgebung besonders um die Interessen des Handels und der Manufakturen bemüht, und in Wirklichkeit gibt es kein Land in Europa, Holland nicht ausgenommen, wo das Recht dieser Art von Industrie so gewogen ist.
Das englische Beispiel machte bald Schule, denn auch anderen europäischen Monarchen war deutlich, dass sie ihre Wirtschaft fördern mussten, wenn sie die permanenten Kriege in Europa überstehen wollten. Armeen waren teuer und ließen sich nur durch eine prosperierende Ökonomie finanzieren. Ab dem 17. Jahrhundert kam daher europaweit der sogenannte "Merkantilismus" in Mode, der zwar nie ein geschlossenes theoretisches Konzept darstellte, aber in fast allen Ländern dazu führte, dass die Herrscher bemüht waren, Manufakturen zu gründen und die Exporte ihres Landes zu steigern. Wieder war die Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft eng: Die meisten Könige hatten bürgerliche Berater, die ihnen erklärten, wie das Handelsleben funktionierte. Legendär wurde der russische Zar Peter der Große, der 1697 sogar unter falschem Namen nach Holland reiste, um in Zaandam auf einer Werft zu arbeiten und die Wirtschaft dieser reichen Handelsnation zu studieren.
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Der Text wurden dem gerade im Westend-Verlag erschienenem Buch "Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen" entnommen (288 Seiten, 19,99 Euro). Die Autorin Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz.
Ulrike Herrmann macht in ihrem Buch deutlich: Wir leben nicht in einer Marktwirtschaft, sondern im Kapitalismus – was nicht das Gleiche ist. Dieser Kapitalismus ist zwar sehr dynamisch, aber ohne den Staat nicht lebensfähig. Solche Zusammenhänge werden jedoch von Wählern, Unternehmern und Politikern permanent missverstanden, was zu dramatischen Fehlentscheidungen führt, die uns alle betreffen. Deswegen gilt: Nur wer weiß, wie der "Sieg des Kapitals" verlaufen ist und verläuft, kann die Lügen der Lobbyisten entlarven.
Auch die Geburt des modernen Kapitalismus verdankt sich staatlicher Hilfe
Diese kurze historische Skizze zeigt bereits, dass der Kapitalismus nicht gegen den Staat entstanden ist, sondern immer Staatshilfe genossen hat. Allerdings wandelte sich die Rolle des Staates im 19. Jahrhundert fundamental, als mit der Industrialisierung der moderne Kapitalismus einsetzte. Der Merkantilismus hatte sich abgemüht, in einer weitgehend stagnierenden Wirtschaft Wachstum zu erzeugen. Mit der Industrialisierung stellte sich das Problem genau umgekehrt: Nun gab es zwar Wachstum, aber die rasante technische Entwicklung hatte ungeahnte gesellschaftliche Folgen, die nur der Staat bewältigen konnte.
Damit sich der Kapitalismus entfalten konnte, war es notwendig, die Bevölkerung besser auszubilden, Universitäten zu gründen und die Forschung zu finanzieren. Die explodierenden Städte mussten geplant und verwaltet, Straßen und Eisenbahnen gebaut werden. Potentiell gefährliche Produkte wie neue Medikamente mussten überwacht, die Sicherheit der Fabriken kontrolliert und Umweltschäden vermieden werden. Der Staat war plötzlich überall gefragt. Zudem hätten zentrale technische Entwicklungen gar nicht stattfinden können, wenn der Staat nicht mitgezogen hätte. Ein Beispiel: Für die Deutsche Edison-Gesellschaft (später AEG) lohnte es sich nur, ins Elektrizitätsgeschäft einzusteigen, weil die Stadt Berlin als sicherer Kunde zur Verfügung stand und 1884 einen Konzessionsvertrag mit der Firma abschloss.
Vor allem aber musste der Staat dafür sorgen, dass die Bevölkerung den technischen Wandel aushalten konnte. "Wohlstand für alle" klingt zwar gut, aber der ständige Produktivitätsfortschritt ist auch eine Zumutung. Wissen veraltet, einst sichere Arbeitsplätze verschwinden, und im Wettstreit um die besten Jobs kann nicht jeder siegen. Der Soziologe Karl Otto Hondrich hat die Dialektik des Fortschritts sehr schön beschrieben:
Wettbewerb erzeugt Ungleichheit Sogar wenn alle ihre Leistung steigern, sind einige zum Scheitern verdammt. Der Erfolg des einen ist der Misserfolg des anderen. Leistungssteigerung führt – später oder früher, dort oder hier – zu Leistungsversagen. Dieses Leistungsversagungsgesetz ist das fundamentale Paradox der Wettbewerbsgesellschaft, eine Fortschrittsfalle, aus der es kein Entrinnen gibt. … Jede individuelle Leistungssteigerung im Wettbewerb beruht auf einer kollektiven Vorleistung: Die Gesellschaft muss ja sagen zum Leistungsversagen!
Das Ergebnis ist bekannt: Alle westlichen Länder haben eine staatliche Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe eingeführt, um wenigstens die größten Härten des Kapitalismus abzufedern. Die wachsende Bedeutung des Staates spiegelt sich in der sogenannten Staatsquote wider, die den Anteil öffentlicher Ausgaben an der jährlichen Wirtschaftsleistung misst, und diese Staatsquote ist rasant gestiegen. Lag sie im Kaiserreich noch bei fünf bis sieben Prozent, hatte sie in der Weimarer Republik schon 15 bis 20 Prozent erreicht – und 2011 betrug sie in Deutschland 45,3 Prozent.
Auf den ersten Blick könnte dies nahelegen, dass die Staatsausgaben ständig steil nach oben klettern würden. Tatsächlich jedoch verharren sie seit fast 40 Jahren auf einem fast unveränderten Niveau. In Deutschland belief sich die Staatsquote 1975 auch schon auf 48,8 Prozent – und seither musste sogar noch eine Wiedervereinigung finanziert werden. Die Sorge ist also gänzlich unbegründet, dass ein Moloch namens Staat das angeblich zarte Pflänzchen namens Kapitalismus restlos zermalmen könnte.
Vor allem aber ist die neoliberale Grundannahme falsch, dass Wachstum nur möglich sei, wenn sich der Staat möglichst aus der Wirtschaft heraushält. Obwohl Österreich die stattliche Staatsquote von 50,5 Prozent aufweist, ist es in den vergangenen Jahren stärker gewachsen als Deutschland. Zwischen 2001 und 2010 legte die österreichische Wirtschaft jährlich im Durchschnitt um 1,6 Prozent zu, während es die Bundesrepublik nur auf 0,9 Prozent brachte. Die Schweiz wiederum scheint zunächst den gegenteiligen Fall darzustellen, weil sie ein durchschnittliches Wachstum von 1,7 Prozent erzielte, obwohl ihre Staatsquote nur bei 34,5 Prozent liegt.
Allerdings führt es etwas in die Irre, nur die absoluten Wachstumsraten zu vergleichen. Denn es bleibt ja die Frage, auf wie viele Köpfe die Wirtschaftsleistung zu verteilen ist – und da zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen den drei Staaten. In Deutschland nahm die Zahl der Bürger leicht ab und liegt jetzt bei 80,2 Millionen, während die Schweiz im vergangenen Jahrzehnt rund 800.000 Menschen hinzugewonnen hat und nun auf etwa acht Millionen Einwohner kommt, was einem Zuwachs von über zehn Prozent entspricht. Nach Österreich sind in der gleichen Zeit 400.000 Menschen eingewandert, so dass dort die Zahl der Bürger um fünf Prozent auf 8,4 Millionen angestiegen ist. Mehr Menschen bedeuten jedoch mehr Konsum. Es ist völlig logisch, dass eine Wirtschaft wächst, wenn zusätzliche Einwanderer zu versorgen sind.
Um dies genauer vorzurechnen: Seit 2000 betrug das Schweizer Wirtschaftswachstum kumuliert etwa 21 Prozent. Da gleichzeitig die Bevölkerung um über zehn Prozent zunahm, handelte es sich zur Hälfte um ein "Breitenwachstum". Pro Kopf war das Plus also nur halb so hoch und betrug etwa 0,85 Prozent. Diese Ziffer erinnert genau an den Durchschnittswert von Deutschland, das bei leicht sinkender Bevölkerung auf 0,9 Prozent kam. Am besten schnitt pro Kopf Österreich ab, obwohl es von den drei Ländern die höchste Staatsquote besitzt.
Zudem stellt sich die Frage, wie es den Schweizern überhaupt gelungen ist, ihre Staatsquote auf erstaunliche 34,5 Prozent zu drücken. Schließlich schwankt diese in fast allen anderen westeuropäischen Ländern in einem Korridor von 45 bis 55 Prozent. Die Antwort heißt "Privatisierung". Die Schweizer Krankenversicherung und ein Teil der Altersvorsorge werden durch private Unternehmen abgedeckt – und damit bei der Staatsquote nicht erfasst. Aus der Sicht eines Schweizer Angestellten ist dies nicht viel mehr als ein Taschenspielertrick, denn er muss ja trotzdem Zwangsabgaben an die Versicherungen leisten. Der Schweizer Unternehmerverband hat bereits ausgerechnet, wie hoch die Schweizer Staatsquote wäre, wenn man die privatisierten Sozialversicherungen berücksichtigen würde: Sie läge sogar noch weit über dem deutschen Niveau.
Europaweit war es in den vergangenen Jahren ein neoliberaler Volkssport, sich auf die Staatsquote zu fixieren und diese möglichst weit nach unten zu drücken. Doch dies gelingt nur mit statistischen Tricks. Die "echte" Staatsquote liegt in allen westlichen Ländern ähnlich hoch – egal ob dort Sozialdemokraten oder Konservative regieren. Dieser Befund ist nicht erstaunlich: Der Staat muss ein sehr wesentlicher Teil des Kapitalismus sein, sonst bricht dieser Kapitalismus sofort zusammen.
Die angeblich so freien Finanzmärkte sind Märkte, auf denen der Staat den Preis zentral bestimmt
Vor allem die "Finanzmärkte" würde es gar nicht geben, wenn der Staat nicht stützend und regulierend eingreifen würde. Dies macht schon die Geschichte der ersten Banken deutlich. Sie entstanden in Italien im 14. Jahrhundert nicht etwa, um private Einlagen entgegenzunehmen, sondern um die öffentlichen Schulden zu verwalten. Aus der Sicht der italienischen Kaufleute war diese enge Kooperation sehr naheliegend: Da sie die Städte regierten, gab es für sie sowieso keine Trennung zwischen Staat und privat. Auch Aktiengesellschaften waren ursprünglich keine rein privatwirtschaftlichen Unternehmen. Die weltweit erste Aktiengesellschaft war die schon erwähnte Niederländische Ostindien-Kompanie von 1602, die ihre Profite damit machte, dass sie ein staatlich garantiertes Monopol für den Fernhandel mit Asien besaß.
Die Börsen hatten zunächst ebenfalls wenig mit der Privatwirtschaft zu tun, obwohl sie als die Inkarnation des freien Marktes gelten: 1611 entstand die weltweit erste Wertpapierbörse in Amsterdam – und sie hatte zunächst nur den Zweck, die "Liquidität", also den Umsatz, von staatsnahen Papieren zu erhöhen. Gehandelt wurden vor allem öffentliche Schuldverschreibungen und eben Aktien der Niederländischen Ostindien-Kompanie. In London wiederholte sich dieses Phänomen gegen Ende des 17. Jahrhunderts, als sich die dortige Börse für Wertpapiere öffnete. Erneut waren vor allem zwei Papiere begehrt: nämlich die Aktien der Britischen Ostindien-Kompanie und die Anleihen der Bank von England – beides staatlich geschützte Monopolgesellschaften.
Seither hat sich das Geschehen auf den Finanzmärkten zwar stark diversifiziert, aber auch heute noch wären viele Investoren ratlos, wenn sie nicht mit Staatspapieren spekulieren könnten. Der Umsatz mit öffentlichen Anleihen ist geradezu astronomisch, wie das Beispiel der deutschen Bundespapiere zeigt. 2011 zirkulierten Bundesanleihen im Wert von etwa 1,1 Billionen Euro, doch das weltweite Handelsvolumen mit diesen Papieren betrug sechs Billionen Euro. In einem Jahr wurde also jede Anleihe mehr als fünfmal gekauft und verkauft.
Noch beliebter ist der Devisenhandel, der auf ein weltweites Volumen von mindestens vier Billionen Euro kommt – täglich. Ökonomisch ist dieses Großkasino sowieso völlig überflüssig, aber vor allem wird gern vergessen, dass Währungen keinen Wert "an sich" haben. Geld behält seine Kaufkraft nur, weil es staatlich überwacht wird. In allen Ländern sorgen Notenbanken dafür, dass die Geldmenge nicht explodiert, indem sie das Zinsniveau vorgeben. Der Zins ist aber nichts anderes als ein Preis – nämlich für Kredite, die immer noch das Kerngeschäft der Finanzmärkte ausmachen. Die angeblich so freien Finanzmärkte sind also Märkte, auf denen der Staat den Preis zentral bestimmt. Ein Marsmensch würde wahrscheinlich denken, dass Finanzmärkte knapp vor einem Sozialismus einzuordnen wären.
Dieser Marsmensch läge auch deswegen nicht falsch, weil die großen Banken und Fonds ein einzigartiges Privileg genießen: Fast immer rettet sie der Staat, wenn die Pleite droht. Denn beim Bankrott einer wichtigen Bank kollabieren nicht nur die Finanzmärkte – auch die Realwirtschaft leidet sofort. Also muss der Staat eingreifen, um den Crash zu vermeiden. Für die Investmentbanken ist diese implizite Staatsgarantie ungeheuer lukrativ, denn sie leben in einer Welt, die sich als eine perverse Mischung von Sozialismus und Kapitalismus beschreiben ließe: Die Verluste werden sozialisiert und die Gewinne privatisiert.
Ohne die permanente Intervention des Staates wurde es keinen funktionierenden Kapitalismus geben
Kein Wirtschaftszweig ist vom Staat so abhängig wie die Finanzbranche, und insofern war es geniales Marketing, dass es ihr gelungen ist, sich als besonders staatsfern darzustellen. Die Deregulierung seit den frühen 1980ern basierte auf dem Trick, die staatlichen Regeln als Zwangsjacke zu diffamieren, die die freie Entfaltung des "Finanzmarktes" und der Wirtschaft abwürgen würde. In ihrer ersten großen Rede nach dem "Big Bang" kondensierte die britische Premierministerin Margaret Thatcher diese neoliberale Weltsicht zu einem einzigen Satz:
Verschwunden sind die Kontrollen, die den Erfolg behindert haben.
Wie das Wort "Erfolg" schon sagt: Misserfolge waren gar nicht erst vorgesehen, was erstaunlich realitätsblind war. Der Kapitalismus ist ein extrem volatiles System, das zu periodischen Krisen neigt. Oft sind es nur normale Konjunkturdellen, aber nicht selten kommt es auch zu schweren Depressionen, die durch das Herdenverhalten der Finanzinvestoren ausgelöst werden. Sobald aber das Wachstum stockt, ist wieder der Staat gefragt. Dann nehmen auch neoliberale Unternehmer sehr gern Regierungshilfe in Anspruch. Jüngstes Beispiel war die "Abwrackprämie", die 2009 die Automobilindustrie durch die Finanzkrise lotsen sollte und die den deutschen Steuerzahler fünf Milliarden Euro gekostet hat.
Neben solchen direkten Subventionen profitieren die Firmen aber auch indirekt: Obwohl Marktwirtschaftler gern die angeblich zu hohe Staatsquote beklagen, sind es genau diese öffentlichen Ausgaben, die die Wirtschaft in Krisenzeiten stabilisieren. Denn die Renten laufen weiter, Arbeitslose werden unterstützt, und auch die Krankenkassen schränken ihre Leistungen nicht ein. Diese "automatischen Stabilisatoren" garantieren einen Basissockel an Einkommen, was wiederum für Konsum, Umsatz und Arbeitsplätze sorgt, während die Firmen ihre Investitionen und Kapazitäten nach unten fahren.
Würde die deutsche Wirtschaft nur aus privaten Unternehmen bestehen – sie würde in jeder Krise weitgehend kollabieren. Das 19. Jahrhundert ist dafür ein abschreckendes Beispiel, als es noch keine Sozialversicherungen gab und der Staat nicht intervenierte: Nach dem Gründerkrach 1873 wurden in der deutschen Eisenindustrie 40 Prozent aller Arbeiter entlassen. Dies wäre heute undenkbar.
Der Staat ist im Kapitalismus allgegenwärtig, weil es ohne seine permanente Intervention gar keinen funktionierenden Kapitalismus geben würde. Dieser Zusammenhang ist so offensichtlich, dass sich die Frage stellt, warum Marktliberale dies hartnäckig ignorieren.
Eine Antwort dürfte sein: Es ist keine angenehme Vorstellung, zum Staat verdammt zu sein. Es ist anstrengend, dass man sich ständig mit Millionen von Mitbürgern arrangieren muss und es keine ökonomische Insel gibt, auf die man flüchten kann. Die Idee des Marktes hingegen ist unendlich tröstlich: Dort zählt nur das Individuum, das ganz auf seine eigene Leistung bauen kann und sich nicht ständig um das große Ganze kümmern muss. Dort ist jeder seines Glückes Schmied und übernimmt Verantwortung nur für sich selbst und seine Familie. Dieses Märchen ist einfach zu schön, um es aufzugeben.
Zudem schmeichelt es dem Selbstwertgefühl der Privilegierten ungemein, wenn sie sich zu Leistungsträgern adeln dürfen, anstatt sich nach den sozialen Bedingungen ihres Reichtums fragen zu müssen.
Wer heute Videos mit Margaret Thatcher sieht, staunt ein wenig, wie steif sie war. Ihre Reden wirken, als wären sie auswendig gelernt. Trotzdem entfalteten sie einen Sog, weil die britische Premierministerin das Märchen vom freien Markt und vom freien Individuum perfekt erzählen konnte. Den Ausverkauf der öffentlichen Wasserversorgung, Bahnen und Elektrizitätswerke rechtfertigte sie zum Beispiel 1986 mit diesen Worten:
Wir Politiker haben alle Träume. Zu meinem gehört, dass ich Macht und Verantwortung an das Volk zurückgeben will, um den Menschen und ihren Familien wieder das Gefühl der Unabhängigkeit zu vermitteln. Die große Reform des vergangenen Jahrhunderts war es, mehr und mehr Bürger zu Wählern zu machen. Die große Reform unserer Zeit ist es, mehr und mehr Bürger zu Eigentümern zu machen. Volkskapitalismus ist ein Glaubensfeldzug: ein Kreuzzug, der die vielen befreit und befähigt, am wirtschaftlichen Leben Großbritanniens teilzunehmen. … Menschen brauchen Anreize; sie brauchen Verantwortung; sie brauchen die Freiheit und die Würde, die daher rührt, dass sie etwas ihr Eigen nennen können … Die Stärke unserer Politik ist, dass sie auf dem gesunden Instinkt unseres Volkes beruht – einem Instinkt für Eigentum, Sparsamkeit, ehrliche Arbeit und faire Belohnung.
Jeder würde gern in dieser Welt des ehrlichen Eigentums leben, aber leider ist es eben nur eine schöne Mär. In der Realität strichen wenige Finanzinvestoren Monopolgewinne ein, während die britischen Eisenbahnen und Wasserwerke verfielen.
Doch der Staat wird nicht nur in Frage gestellt, weil er angeblich zu viel Macht ausübt und die Freiheit seiner Bürger beschneidet. Auch das genaue Gegenteil wird ihm vorgehalten. Der Nationalstaat wird als machtlos wahrgenommen – als ein historisches Relikt, das in den Zeiten der Globalisierung anachronistisch wirkt. Der Staat erscheint vielen seiner Bürger unendlich piefig und altmodisch, da er auf seiner Scholle hockt, während die Waren und vor allem das Finanzkapital frei um die Welt strömen. Das Wort "Globalisierung" kam in den 1990er Jahren auf, und schon deswegen denken viele Menschen, dass das Phänomen genauso jung sein müsse wie das Wort. Dies ist ein Irrtum. Die Globalisierung ist alt, vielleicht sogar uralt, woraus wiederum folgt: Wenn der Staat an Einfluss verliert oder die Löhne sinken, kann es nicht an der Globalisierung liegen.
Kapitalismus ist nicht das Gegenteil von Staat | Telepolis