Y
Yunan
Guest
Islamwissenschaftler im Gespräch
„Ich habe meinen Optimismus nicht aufgegeben“
05.01.2013 · Weltreligion in der Pubertät: Ein Interview mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer über den Arabischen Frühling und die Missverständnisse bei der Scharia.
ArtikelBilder (3)Lesermeinungen (7)
Der entscheidende Anstoß war eigentlich meine Neugier, zu erfahren, wie es mit der arabischen Literaturgeschichte weitergeht. Mein Buch „Die Kultur der Ambiguität“ ist Teil eines weitaus größeren Projekts, das ich unter anderem mit den Mitteln, die ich jetzt durch den Leibniz-Preis zur Verfügung habe, weiter ausbauen werde. Es geht darum, die Erzählungen vom „goldenen Zeitalter“ zu unterlaufen. Als man sich in der islamischen Welt im 19. Jahrhundert mit der militärischen und wirtschaftlichen Übermacht Europas konfrontiert sah, musste man sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Und so datiert aus dieser Zeit die Erklärung, dass die ehemals blühende islamische Kultur eine lange Periode des Niedergangs durchlebt habe. Die Dekadenztheorie besagt aus heutigem Standpunkt heraus aber rein gar nichts, weil es ein Auf und Ab überall gab und die westliche Moderne nun einmal nur im Westen entstand und nicht auch in Japan oder China.
Was hat es mit der „Erzählung vom goldenen Zeitalter“ auf sich?
Erzählungen vom „goldenen Zeitalter“ sind sehr mächtig. Es gibt heute zwei Ausprägungen davon, einmal die nationalistische und einmal die fundamentalistische Erzählung. Erstere stimmt weitgehend mit der europäischen Sichtweise überein. Demnach wird als „goldenes Zeitalter“ des Islams das achte und neunte Jahrhundert bezeichnet, in dem die griechischen Wissenschaften übernommen wurden und man von staatlicher Seite eine rationalistische Theologenschule durchsetzen wollte. Aus fundamentalistischer, salafistischer Perspektive war das „goldene Zeitalter“ die Zeit Mohammeds und der zwei Folgegenerationen, und man glaubt, dass der Niedergang als Strafe für die Abkehr vom „wahren Islam“ erfolgte. Diese Riesentheorie eines Niedergangs über ein Jahrtausend ist wirklich ein Hindernis für die islamischen Länder, in der Moderne anzukommen, weil man Geschichte einfach durchzustreichen versucht. Und aus diesem Grund hat sich mit der Kultur dieser Epoche auch noch kaum jemand beschäftigt. Insbesondere war die Literatur unbekannt, die zu der Zeit entstand. Und so war ich neugierig und entdeckte, wie unheimlich spannend dieser Abschnitt der Literaturgeschichte ist. Ich stieß auf Religionsgelehrte, die Weingedichte verfassten, homoerotische Poesie, und kam zu dem Schluss, dass der Islam damals eine hohe Ambiguitätstoleranz aufwies.
Können Sie den Begriff der Ambiguitätstorelanz kurz erläutern?
Es ist ein Begriff, den ich aus der Psychologie übernommen habe. Kulturen können meiner These nach mit einem bestimmten Maß an Mehrdeutigkeit, Unentschiedenheit und Konkurrenz verschiedener Normen umgehen, dies ist Teil unserer kulturellen Mentalität. So gibt es Kulturen mit höherer und niedriger Ambiguitätstoleranz.
Den Islam, den Sie untersucht haben und dem Sie ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz bescheinigen, nennen Sie „klassischen Islam“, warum?
Das hat einen ganz einfachen Grund, nämlich den, dass es einen Bruch zwischen Antike und Mittelalter im Oströmischen Reich nicht gegeben hat. Wenn man sich anschaut, wie die Menschen in Damaskus und Aleppo damals gelebt haben, dann stellt man fest, dass sie weiterhin in Bäder gingen, mit Münzen bezahlten und Steinbauten errichteten, sowohl vor als auch nach den islamischen Eroberungen. In Köln hat man dies zur selben Zeit nicht mehr getan. Die Antike ist also vielmehr bruchlos weitergegangen. Deswegen finde ich Bemerkungen wie „im Islam hat es so etwas wie eine Renaissance nicht gegeben“ mehr als kurios, da die Antike ja nie gestorben ist. Die Renaissance war, wenn man so will, immer da. Wenn Sie sich zum Beispiel den Dichter al-Mutanabbi aus dem zehnten Jahrhundert anschauen, er ist die Verkörperung eines Renaissance-Dichters.
In einem Artikel für die Zeitschrift „Geo“ schreiben Sie: „Das Problem der islamischen Welt ist nicht das vermeintliche Fehlen einer Aufklärung, wie sie der Westen im 18. Jahrhundert erlebte, sondern das Fehlen der 68er-Revolte.“ Sie deuten eine Parallele zwischen der 68er-Bewegung und dem arabischen Frühling an. Sind Sie angesichts der jüngeren Entwicklungen optimistisch?
Ich glaube, in welchem Maßstab Autorität in Frage gestellt wurde, ist entscheidend für die Bewertung der arabischen Revolten. In Ägypten sah man das sehr schön am Beispiel der gescheiterten Vater-Metapher Mubaraks. Er stellte sich vor das Volk und sagte: „Aber ich bin doch euer Vater“ - dies ist exakt das Bild, das in der islamischen Herrschaftstradition immer wieder beschworen wird. Und die junge Leute riefen: „Hau ab!“ Dies ist ein Ausmaß an Respektlosigkeit, das man sich bis dahin nicht einmal hätte vorstellen können.
Glauben Sie, der Islam ist in die Pubertät gekommen?
Ja, in gewisser Weise. Entscheidend ist, dass bei allen möglichen Entwicklungen, die noch zu erwarten sind, ein vollständiges Zurückdrehen des Rades nicht mehr denkbar ist. Die Ägypter und auch die Bevölkerungen anderer arabischer Länder haben angefangen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, und werden sich vieles nicht mehr vorschreiben lassen. Allerdings verlaufen solche Entwicklungen in den seltensten Fällen linear, immer wieder gibt es Rückschläge, das kennen wir aus der europäischen Geschichte. Aber der historische Bruch mit Autoritätshörigkeit ist nicht wieder rückgängig zu machen.
Guido Westerwelle hatte Ägypten ein „Schlüsselland“ genannt, von dem das Gelingen der Demokratisierung der arabischen Staaten insgesamt abhänge. Sehen Sie das ebenso, und was würde dann ein Scheitern oder eine Zunahme der Komplikationen der Demokratisierung bedeuten?
Ägypten ist natürlich das größte arabische Land und war immer Zentrum der arabischen Welt, wirkt zudem weit in die islamische Welt hinein. Von daher ist es natürlich wichtig, was dort passiert. Interessant ist aber vor allem, dass nun alle Entwicklungen, die in den letzten hundert Jahren ausblieben, all die Auseinandersetzungen und ideologischen Debatten, auf denen vorher der Deckel drauf war, endlich geführt werden können. Nun ist der Deckel runter, und wenn man sich vorstellt, welche Spannungen hier über Jahrzehnte aufgebaut worden sind, dann muss man bei allen Bedenken sehen, dass es so schlecht nicht läuft.
Der zentrale Ort, an dem diese Debatten nun stattfinden, ist die Verfassungsversammlung, die ja neben der Muslimbruderschaft von den radikal-islamistischen Salafisten dominiert wird. Die Proteste entzündeten sich unter anderem daran, dass die Versammlung für nicht repräsentativ gehalten wird. Denken Sie, es war eine Fehlentscheidung der linken, liberalen und christlichen Mitglieder, die Versammlung aus Protest zu verlassen?
Es war ganz sicher eine Fehlentscheidung, schmollen ist in einer Demokratie keine Lösung. Aber es ist ja ein weltweites Phänomen: In fast allen Ländern gibt es eine große konservative Volkspartei, während bei den Linken eher eine Tendenz der Zersplitterung zu beobachten ist. Sowohl die Muslimbrüder als auch die Salafisten sind innerparteilich einig in die Wahl gegangen, während die Säkularisten untereinander zerstritten waren.
War es ein Problem, dass die linken Parteien so wenig Zeit hatten, sich zu formieren?
Nun ja, den Salafisten stand als politische Partei ja auch keine allzu lange Vorlaufzeit zur Verfügung. Es ist immer auch eine Sache des Willens. Das Problem ist vor allem, dass es so etwas wie eine linke Volkspartei wie die SPD noch nicht gibt. Daran müssen sie aber selbst arbeiten.
Nun wird öfter moniert, der Verfassungsentwurf unterscheide sich in vielerlei Hinsicht kaum von der Verfassung von 1971. Als besonders besorgniserregend wird die Rolle bewertet, welche die Verfassung der Scharia einräumt.
Es gibt wohl kaum einen Begriff, der mit so vielen unterschiedlichen Vorstellungen verbunden ist wie „die Scharia“. Es ist eigentlich unverantwortlich, Sätze zu sagen wie: „Dort hat man die Scharia eingeführt.“ Was die Scharia eigentlich ist, hängt von der jeweiligen Vorstellung ab. Scharia ist die Art, wie Gott menschliche Handlungen beurteilt - wie dies interpretiert wird, reicht von den Vorstellungen der al-Wasat-Partei, die darunter allgemeine moralische Prinzipien versteht, nach denen Gesetze sich ausrichten sollten, bis hin zu den salafistischen Deutungen. Diesen zufolge handele es sich um Regeln, die Gelehrte aus den kanonischen Texten abgeleitet haben und die den Salafisten zufolge keiner weiteren Interpretation mehr zugänglich sind. Das eigentlich Problematische ist, dass sie glauben, dass das Textfundament, aus dem die Ableitungen erfolgen, nicht mehrdeutig ist und somit keine verschiedenen Interpretationen zulässt. Nur sie kennen die einzig wahre Bedeutung. Und doch gibt es einen heftigen Dissens unter den Salafisten: Auch hier halten unterschiedliche Gelehrte etwas anderes für richtig, aber gleichzeitig sehen sie sich mit der Tatsache konfrontiert, dass es falsch ist, wenn jeder etwas anderes für richtig hält. Damit haben sie sich selbst eine Falle gestellt.
Wie schätzen Sie den Einfluss ein, den die Salafisten auf die politischen Entwicklungen in Ägypten nehmen?
Dass sich nach revolutionären oder umstürzlerischen Ereignissen zunächst konservative Gruppen durchsetzen, ist nicht ungewöhnlich, zumal linke Positionen erst einmal publikumswirksam formuliert werden müssen. Wir überschätzen tendenziell doch sehr den Einfluss von Intellektuellen auf die Leute in Ländern wie Ägypten. Aber was die Salafisten angeht, liegt es jenseits meiner Vorstellungskraft, dass diese irgendwann die dominierende Kraft sein könnten, dazu ist ihre Ideologie nicht tragfähig genug für größere gesellschaftliche Einheiten. Die Salafiyya war ja ursprünglich eher eine persönliche Frömmigkeitsbewegung, die sich aus dem Staatsgeschäft zurückhalten wollte. Dass nun diese Politisierung stattgefunden hat, ist sehr überraschend. Dass man daraus aber tragfähige Konzepte entwickeln kann, glaube ich nicht.
Auch tut man sich schwer, die Position der Muslimbrüder einzuschätzen.
Die Muslimbrüder sind in der Tat schwer einschätzbar, weil selbst noch nicht so genau wissen, was sie wollen. Ich sehe sie in einem Selbstfindungsprozess. Die spannende Frage wird sein, ob die Parteien der Muslimbrüderfamilie versuchen werden, sich von den salafistischen Strömungen abzusetzen - dann könnten sie so etwas werden wie konservative Volksparteien, oder ob sie sich von den Salafisten in radikalere Positionen drängen lassen. Das wäre wohl die negativste Entwicklung, die man sich vorstellen könnte.
Und was glauben Sie?
Bei so etwas muss man die Entwicklungen abwarten. Meine ägyptischen Freunde sagen zum Beispiel viel Unterschiedliches, das Meinungsspektrum reicht von „so schlecht machen sie es ja nicht“ bis hin zu „der eine oder andere Verfassungsartikel wird zulassen, dass es wieder zu diktatorischen Verhältnissen kommt“. Ich für meinen Teil habe meinen Optimismus nicht aufgegeben. Ich glaube weder, dass Ägypten in einen Bürgerkrieg abdriftet, noch, dass eine neue Diktatur à la Mubarak entstehen wird. Es ist eine schwierige Phase, in der es endlich zu Diskussionen kommt, die schon längst hätten stattfinden müssen.
Zur Person
Thomas Bauer wurde nach einem Studium der Islamwissenschaft, semitischen Philologie und Linguistik 1989 über Altarabische Dichtkunst in Erlangen promoviert, wo er sich auch 1997 über die Liebesdichtung des neunten und zehnten Jahrhunderts habilitierte. Seit 2000 lehrt er Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Seine Forschungsgebiete sind die arabische Rhetorik, die Alltagsgeschichte der Mamelukenzeit (dreizehntes bis sechzehntes Jahrhundert), das Dogma vom angeblichen Niedergang der islamischen Kultur seit dem elften Jahrhundert sowie die arabischen Literaten des neunzehnten Jahrhunderts. Er war 2006/2007 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und ist Leibniz-Preisträger der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2013.
Zu Bauers Publikationen gehören: „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011) und „Das Pflanzenbuch des Abu Hanufa ad-Dinawari“ (1988).
„Ich habe meinen Optimismus nicht aufgegeben“
05.01.2013 · Weltreligion in der Pubertät: Ein Interview mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer über den Arabischen Frühling und die Missverständnisse bei der Scharia.
ArtikelBilder (3)Lesermeinungen (7)
© PEIN, ANDREAS
Thomas Bauer
In Ihrem Buch „Die Kultur der Ambiguität“ beschäftigen Sie sich mit dem Teil islamischer Kulturgeschichte, der auf das sogenannte „goldene Zeitalter“ folgte und lange Zeit weitgehend unbeachtet blieb. Dort stießen Sie auf eine „andere Geschichte des Islams“ und zeigen, dass zur islamischen Tradition nicht nur der Islam des Propheten und der rechtsgeleiteten Kalifate gehört, sondern dass jahrhundertelang Toleranz und ein Nebeneinander verschiedener Meinungen und Wahrheiten vorherrschten. Wie kamen Sie darauf, sich diesem Teil der islamischen Kultur zu widmen?
Der entscheidende Anstoß war eigentlich meine Neugier, zu erfahren, wie es mit der arabischen Literaturgeschichte weitergeht. Mein Buch „Die Kultur der Ambiguität“ ist Teil eines weitaus größeren Projekts, das ich unter anderem mit den Mitteln, die ich jetzt durch den Leibniz-Preis zur Verfügung habe, weiter ausbauen werde. Es geht darum, die Erzählungen vom „goldenen Zeitalter“ zu unterlaufen. Als man sich in der islamischen Welt im 19. Jahrhundert mit der militärischen und wirtschaftlichen Übermacht Europas konfrontiert sah, musste man sich fragen, wie es dazu kommen konnte. Und so datiert aus dieser Zeit die Erklärung, dass die ehemals blühende islamische Kultur eine lange Periode des Niedergangs durchlebt habe. Die Dekadenztheorie besagt aus heutigem Standpunkt heraus aber rein gar nichts, weil es ein Auf und Ab überall gab und die westliche Moderne nun einmal nur im Westen entstand und nicht auch in Japan oder China.
Was hat es mit der „Erzählung vom goldenen Zeitalter“ auf sich?
Erzählungen vom „goldenen Zeitalter“ sind sehr mächtig. Es gibt heute zwei Ausprägungen davon, einmal die nationalistische und einmal die fundamentalistische Erzählung. Erstere stimmt weitgehend mit der europäischen Sichtweise überein. Demnach wird als „goldenes Zeitalter“ des Islams das achte und neunte Jahrhundert bezeichnet, in dem die griechischen Wissenschaften übernommen wurden und man von staatlicher Seite eine rationalistische Theologenschule durchsetzen wollte. Aus fundamentalistischer, salafistischer Perspektive war das „goldene Zeitalter“ die Zeit Mohammeds und der zwei Folgegenerationen, und man glaubt, dass der Niedergang als Strafe für die Abkehr vom „wahren Islam“ erfolgte. Diese Riesentheorie eines Niedergangs über ein Jahrtausend ist wirklich ein Hindernis für die islamischen Länder, in der Moderne anzukommen, weil man Geschichte einfach durchzustreichen versucht. Und aus diesem Grund hat sich mit der Kultur dieser Epoche auch noch kaum jemand beschäftigt. Insbesondere war die Literatur unbekannt, die zu der Zeit entstand. Und so war ich neugierig und entdeckte, wie unheimlich spannend dieser Abschnitt der Literaturgeschichte ist. Ich stieß auf Religionsgelehrte, die Weingedichte verfassten, homoerotische Poesie, und kam zu dem Schluss, dass der Islam damals eine hohe Ambiguitätstoleranz aufwies.
Können Sie den Begriff der Ambiguitätstorelanz kurz erläutern?
Es ist ein Begriff, den ich aus der Psychologie übernommen habe. Kulturen können meiner These nach mit einem bestimmten Maß an Mehrdeutigkeit, Unentschiedenheit und Konkurrenz verschiedener Normen umgehen, dies ist Teil unserer kulturellen Mentalität. So gibt es Kulturen mit höherer und niedriger Ambiguitätstoleranz.
Den Islam, den Sie untersucht haben und dem Sie ein hohes Maß an Ambiguitätstoleranz bescheinigen, nennen Sie „klassischen Islam“, warum?
Das hat einen ganz einfachen Grund, nämlich den, dass es einen Bruch zwischen Antike und Mittelalter im Oströmischen Reich nicht gegeben hat. Wenn man sich anschaut, wie die Menschen in Damaskus und Aleppo damals gelebt haben, dann stellt man fest, dass sie weiterhin in Bäder gingen, mit Münzen bezahlten und Steinbauten errichteten, sowohl vor als auch nach den islamischen Eroberungen. In Köln hat man dies zur selben Zeit nicht mehr getan. Die Antike ist also vielmehr bruchlos weitergegangen. Deswegen finde ich Bemerkungen wie „im Islam hat es so etwas wie eine Renaissance nicht gegeben“ mehr als kurios, da die Antike ja nie gestorben ist. Die Renaissance war, wenn man so will, immer da. Wenn Sie sich zum Beispiel den Dichter al-Mutanabbi aus dem zehnten Jahrhundert anschauen, er ist die Verkörperung eines Renaissance-Dichters.
In einem Artikel für die Zeitschrift „Geo“ schreiben Sie: „Das Problem der islamischen Welt ist nicht das vermeintliche Fehlen einer Aufklärung, wie sie der Westen im 18. Jahrhundert erlebte, sondern das Fehlen der 68er-Revolte.“ Sie deuten eine Parallele zwischen der 68er-Bewegung und dem arabischen Frühling an. Sind Sie angesichts der jüngeren Entwicklungen optimistisch?
Ich glaube, in welchem Maßstab Autorität in Frage gestellt wurde, ist entscheidend für die Bewertung der arabischen Revolten. In Ägypten sah man das sehr schön am Beispiel der gescheiterten Vater-Metapher Mubaraks. Er stellte sich vor das Volk und sagte: „Aber ich bin doch euer Vater“ - dies ist exakt das Bild, das in der islamischen Herrschaftstradition immer wieder beschworen wird. Und die junge Leute riefen: „Hau ab!“ Dies ist ein Ausmaß an Respektlosigkeit, das man sich bis dahin nicht einmal hätte vorstellen können.
Glauben Sie, der Islam ist in die Pubertät gekommen?
Ja, in gewisser Weise. Entscheidend ist, dass bei allen möglichen Entwicklungen, die noch zu erwarten sind, ein vollständiges Zurückdrehen des Rades nicht mehr denkbar ist. Die Ägypter und auch die Bevölkerungen anderer arabischer Länder haben angefangen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, und werden sich vieles nicht mehr vorschreiben lassen. Allerdings verlaufen solche Entwicklungen in den seltensten Fällen linear, immer wieder gibt es Rückschläge, das kennen wir aus der europäischen Geschichte. Aber der historische Bruch mit Autoritätshörigkeit ist nicht wieder rückgängig zu machen.
Guido Westerwelle hatte Ägypten ein „Schlüsselland“ genannt, von dem das Gelingen der Demokratisierung der arabischen Staaten insgesamt abhänge. Sehen Sie das ebenso, und was würde dann ein Scheitern oder eine Zunahme der Komplikationen der Demokratisierung bedeuten?
Ägypten ist natürlich das größte arabische Land und war immer Zentrum der arabischen Welt, wirkt zudem weit in die islamische Welt hinein. Von daher ist es natürlich wichtig, was dort passiert. Interessant ist aber vor allem, dass nun alle Entwicklungen, die in den letzten hundert Jahren ausblieben, all die Auseinandersetzungen und ideologischen Debatten, auf denen vorher der Deckel drauf war, endlich geführt werden können. Nun ist der Deckel runter, und wenn man sich vorstellt, welche Spannungen hier über Jahrzehnte aufgebaut worden sind, dann muss man bei allen Bedenken sehen, dass es so schlecht nicht läuft.
Der zentrale Ort, an dem diese Debatten nun stattfinden, ist die Verfassungsversammlung, die ja neben der Muslimbruderschaft von den radikal-islamistischen Salafisten dominiert wird. Die Proteste entzündeten sich unter anderem daran, dass die Versammlung für nicht repräsentativ gehalten wird. Denken Sie, es war eine Fehlentscheidung der linken, liberalen und christlichen Mitglieder, die Versammlung aus Protest zu verlassen?
Es war ganz sicher eine Fehlentscheidung, schmollen ist in einer Demokratie keine Lösung. Aber es ist ja ein weltweites Phänomen: In fast allen Ländern gibt es eine große konservative Volkspartei, während bei den Linken eher eine Tendenz der Zersplitterung zu beobachten ist. Sowohl die Muslimbrüder als auch die Salafisten sind innerparteilich einig in die Wahl gegangen, während die Säkularisten untereinander zerstritten waren.
War es ein Problem, dass die linken Parteien so wenig Zeit hatten, sich zu formieren?
Nun ja, den Salafisten stand als politische Partei ja auch keine allzu lange Vorlaufzeit zur Verfügung. Es ist immer auch eine Sache des Willens. Das Problem ist vor allem, dass es so etwas wie eine linke Volkspartei wie die SPD noch nicht gibt. Daran müssen sie aber selbst arbeiten.
Nun wird öfter moniert, der Verfassungsentwurf unterscheide sich in vielerlei Hinsicht kaum von der Verfassung von 1971. Als besonders besorgniserregend wird die Rolle bewertet, welche die Verfassung der Scharia einräumt.
Es gibt wohl kaum einen Begriff, der mit so vielen unterschiedlichen Vorstellungen verbunden ist wie „die Scharia“. Es ist eigentlich unverantwortlich, Sätze zu sagen wie: „Dort hat man die Scharia eingeführt.“ Was die Scharia eigentlich ist, hängt von der jeweiligen Vorstellung ab. Scharia ist die Art, wie Gott menschliche Handlungen beurteilt - wie dies interpretiert wird, reicht von den Vorstellungen der al-Wasat-Partei, die darunter allgemeine moralische Prinzipien versteht, nach denen Gesetze sich ausrichten sollten, bis hin zu den salafistischen Deutungen. Diesen zufolge handele es sich um Regeln, die Gelehrte aus den kanonischen Texten abgeleitet haben und die den Salafisten zufolge keiner weiteren Interpretation mehr zugänglich sind. Das eigentlich Problematische ist, dass sie glauben, dass das Textfundament, aus dem die Ableitungen erfolgen, nicht mehrdeutig ist und somit keine verschiedenen Interpretationen zulässt. Nur sie kennen die einzig wahre Bedeutung. Und doch gibt es einen heftigen Dissens unter den Salafisten: Auch hier halten unterschiedliche Gelehrte etwas anderes für richtig, aber gleichzeitig sehen sie sich mit der Tatsache konfrontiert, dass es falsch ist, wenn jeder etwas anderes für richtig hält. Damit haben sie sich selbst eine Falle gestellt.
Wie schätzen Sie den Einfluss ein, den die Salafisten auf die politischen Entwicklungen in Ägypten nehmen?
Dass sich nach revolutionären oder umstürzlerischen Ereignissen zunächst konservative Gruppen durchsetzen, ist nicht ungewöhnlich, zumal linke Positionen erst einmal publikumswirksam formuliert werden müssen. Wir überschätzen tendenziell doch sehr den Einfluss von Intellektuellen auf die Leute in Ländern wie Ägypten. Aber was die Salafisten angeht, liegt es jenseits meiner Vorstellungskraft, dass diese irgendwann die dominierende Kraft sein könnten, dazu ist ihre Ideologie nicht tragfähig genug für größere gesellschaftliche Einheiten. Die Salafiyya war ja ursprünglich eher eine persönliche Frömmigkeitsbewegung, die sich aus dem Staatsgeschäft zurückhalten wollte. Dass nun diese Politisierung stattgefunden hat, ist sehr überraschend. Dass man daraus aber tragfähige Konzepte entwickeln kann, glaube ich nicht.
Auch tut man sich schwer, die Position der Muslimbrüder einzuschätzen.
Die Muslimbrüder sind in der Tat schwer einschätzbar, weil selbst noch nicht so genau wissen, was sie wollen. Ich sehe sie in einem Selbstfindungsprozess. Die spannende Frage wird sein, ob die Parteien der Muslimbrüderfamilie versuchen werden, sich von den salafistischen Strömungen abzusetzen - dann könnten sie so etwas werden wie konservative Volksparteien, oder ob sie sich von den Salafisten in radikalere Positionen drängen lassen. Das wäre wohl die negativste Entwicklung, die man sich vorstellen könnte.
Und was glauben Sie?
Bei so etwas muss man die Entwicklungen abwarten. Meine ägyptischen Freunde sagen zum Beispiel viel Unterschiedliches, das Meinungsspektrum reicht von „so schlecht machen sie es ja nicht“ bis hin zu „der eine oder andere Verfassungsartikel wird zulassen, dass es wieder zu diktatorischen Verhältnissen kommt“. Ich für meinen Teil habe meinen Optimismus nicht aufgegeben. Ich glaube weder, dass Ägypten in einen Bürgerkrieg abdriftet, noch, dass eine neue Diktatur à la Mubarak entstehen wird. Es ist eine schwierige Phase, in der es endlich zu Diskussionen kommt, die schon längst hätten stattfinden müssen.
Zur Person
Thomas Bauer wurde nach einem Studium der Islamwissenschaft, semitischen Philologie und Linguistik 1989 über Altarabische Dichtkunst in Erlangen promoviert, wo er sich auch 1997 über die Liebesdichtung des neunten und zehnten Jahrhunderts habilitierte. Seit 2000 lehrt er Islamwissenschaft und Arabistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Seine Forschungsgebiete sind die arabische Rhetorik, die Alltagsgeschichte der Mamelukenzeit (dreizehntes bis sechzehntes Jahrhundert), das Dogma vom angeblichen Niedergang der islamischen Kultur seit dem elften Jahrhundert sowie die arabischen Literaten des neunzehnten Jahrhunderts. Er war 2006/2007 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und ist Leibniz-Preisträger der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2013.
Zu Bauers Publikationen gehören: „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ (2011) und „Das Pflanzenbuch des Abu Hanufa ad-Dinawari“ (1988).