Es geht in diesem Artikel nicht um kinderverkaufende Moslem-Extremisten, ist aber trotzdem `spannend`.
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Aus Ausgabe 05/03 | Weitere Artikel
Sklaven sind billiger denn je
Von David Signer
Sklaverei ist keine Erfindung der Weissen. Sie existierte lange bevor Afrika kolonisiert wurde. Auch heute noch ist sie weit verbreitet. Auf der Suche nach Leibeigenen in Mauretanien.
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Weltweit gibt es heute 27 Millionen Sklaven : Leibeigener aus Mali. (Bild: Christopher Anderson)
Auf dem Markt von Nouakchott, der Hauptstadt von Mauretanien, sitzt ein älterer Mann am Boden inmitten seiner Waren – winzige Tabakpfeifen aus Metall im Lederetui, Schmuckkästchen, Sandalen – und versucht, ein Puzzle zusammenzusetzen. Hunderte von Einzelteilen liegen um ihn herum verstreut. Aus dem wenigen, das er zusammengesetzt hat, sind die Umrisse eines Löwen zu erkennen.
«A salam aleikum», begrüsst er mich, «sind Sie aus Deutschland?»
«So ungefähr.»
«Dann können Sie mir sicher helfen. Kennen Sie sich aus mit Puzzles?»
Aus Höflichkeit kauere ich mich einen Moment hin und schaue ebenso verloren wie er auf den Haufen Kartonscherben.
«Ich habe es von einem Deutschen geschenkt bekommen, aber ich schaffe es nicht.»
Mauretanien ist wie ein Puzzle, dessen Teile nicht zusammenpassen. Und die Spieler – die Politiker, die dieses Land von den Kolonisatoren «geschenkt» bekommen haben – wissen nicht, wie damit umzugehen. Drei Bevölkerungsgruppen bewohnen dasselbe Land, aber leben in verschiedenen Welten: Die Weissen Mauren, ehemalige Nomaden, beherrschen den Staat. Die Arbeit wird jedoch von Sklaven und befreiten Sklaven (so genannten Haratin) verrichtet sowie von den Afromauretaniern aus dem Süden. Nur zwei Millionen Menschen bewohnen den riesigen Wüstenstaat; fast die Hälfte sind Sklaven oder stammen von Sklaven ab.
Mauretanien verfügt damit über einen seltsamen Doppelrekord: Es hat die niedrigste Bevölkerungsdichte der Welt und den höchsten Sklavenanteil. Fast ein Drittel der Einwohner lebt in Nouakchott, das 1960 noch ein Dorf war, als es zur neuen Hauptstadt gekürt wurde und achtzig Prozent der Mauretanier noch auf Wanderschaft waren. (Es heisst, ein weiteres Drittel sei auf dem Weg nach Nouakchott und ein letztes Drittel kratze noch das Geld zusammen für das Billett...) Wenn man sich all die schönen neuen Gebäude anschaut, die in den letzten Jahren errichtet wurden, fragt man sich, woher eigentlich das Geld kommt in einem Land, das praktisch bloss aus Sand besteht. Antwort: Bauen kostet, wie vieles andere auch, praktisch nichts, weil die Arbeiter umsonst schuften. Im Klartext: Sklaverei. Im 21. Jahrhundert. In Afrika.
Offiziell schaffte Mauretanien die Sklaverei 1980 ab. Sanktionen gegen Verstösse wurden allerdings bisher kein einziges Mal ausgesprochen. Und viele Sklaven haben von der Aufhebung wahrscheinlich gar nichts mitbekommen. Sie können nicht lesen, und wenn sie es könnten, würde es ihnen auch nichts nützen: Die Oppositionspresse des Landes zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie von der Regierungszeitung nicht zu unterscheiden ist. Die Argumente, die zum Thema vorgebracht werden, sind von einer bemerkenswerten Unvereinbarkeit: «Die Sklaverei existiert nicht mehr, weil sie ja abgeschafft wurde.
Abgesehen davon ist und war das, was man bei uns als Sklaverei bezeichnet, gar keine. Und darüber hinaus ist Sklaverei gar nichts Schlechtes; schon Mohammed, geheiligt sei sein Name, hat sie propagiert.» Deshalb hat die Regierung das Gespräch über Sklaverei auch offiziell verboten: Weil es sie nämlich nicht gebe, und etwas, was es nicht gebe, darüber müsse man auch nicht sprechen.
Frei verhungern oder unfrei essen
Das Problem ist, dass ein Sklave, auch wenn er weiss, dass er eigentlich gar keiner mehr ist, nicht viele andere Möglichkeiten hat. Was macht er, wenn er seinem Herrn entkommt? Höchstwahrscheinlich wird er einfach ein Slumbewohner mehr in Nouakchott, der zwar frei ist, aber noch schlechter lebt als vorher als Leibeigener. Frei verhungern oder unfrei essen lautet allzu oft die Alternative.
Trotzdem, manchmal klappt es. Khadija mint Boilil ist ihrem Meister davongelaufen. (Ihr Name ist geändert. Wer in Mauretanien mit Journalisten über das Thema Sklaverei redet, riskiert grosse Scherereien.) Sie lebt heute in einer kleinen Stadt im Westen Mauretaniens zusammen mit ihrer behinderten Tochter in einem so genannten Hangar, bestehend aus vier Holzpfosten, die durch Tücher verbunden sind. Die Frau ist vielleicht fünfzig, vielleicht sechzig, so genau weiss sie das selber nicht. Sie ist, wie alle Sklavinnen, in schwarze Tücher gehüllt, ihr Gesicht wirkt hart.
Wie war ihr Leben als Sklavin, welche Arbeiten verrichtete sie für ihren Herrn?
«Ich stampfte Hirse, bereitete Couscous zu, holte Wasser vom Brunnen und kümmerte mich um die Tiere», erzählt sie. «Ich bekam keinen Lohn. Wenn ich einmal nichts tat, riskierte ich, bestraft zu werden. Ich hatte ein eigenes Zelt, dort schlief ich mit meinem Mann und meinen zehn Kindern. Schon meine Mutter arbeitete für dieselbe Maurenfamilie. Ich selber begann mit acht Jahren für sie zu arbeiten.» «Wie kam es, dass Sie flohen?»
«An jenem Tag habe ich mich mit den Mauren gestritten. Ich konnte abhauen, weil sie einen Moment alle weg waren. Ich nutzte die Gelegenheit und ging mit meinem Bruder weg. Die Familie sagte mir nachher, ich solle zurückkommen, aber ich weigerte mich. Ich hatte Angst. Sie suchten mich auf und machten Probleme. Mein Bruder sagte ihnen: Wenn ihr nochmals kommt, prügle ich euch windelweich. Da kamen sie nicht mehr.» «Worum stritten Sie sich mit der Familie?»
«Sie wollten, dass ich selber die Steuern auf die Tiere, die ich hütete, bezahle», erklärt Khadija mint Boilil. «Ich weigerte mich. Wenn wir uns heute auf der Strasse begegnen, grüssen wir uns, das ist alles. Ich weiss nicht, ob jetzt jemand anders meine Arbeit macht. Von unserer Familie ist auf jeden Fall niemand mehr dort. Aber ich habe gehört, dass es im Dorf dort immer noch Sklaven hat.» «Was haben Sie nach der Flucht gemacht?»
«Ich hatte das Glück, dass mir jemand ein Grundstück zur Verfügung stellte, wo ich mein Zelt aufschlagen konnte. Ich stelle Trinkbeutel aus Leder her, die ich verkaufe. Es reicht knapp fürs Essen. Ich habe auch ein paar Hühner. Wir essen nicht jeden Tag. Die Leute vom Laden geben mir manchmal etwas auf Kredit. Das Leben ist hart, aber ich zähle auf die Hilfe Gottes.»
Mauretanien kommt langsam unter Druck. Kürzlich erschien das viel beachtete Buch «Die neue Sklaverei» des amerikanischen Soziologen Kevin Bales. Darin stellt er fest, dass Sklaverei nicht verschwunden ist, sondern im Gegenteil weltweit zunimmt. Auf 27 Millionen schätzt er die Anzahl Menschen, die heute (noch oder wieder) in Sklaverei leben; das sind mehr, als je von Sklavenhändlern aus Afrika über den Atlantik verschleppt wurden. Und der Preis eines Sklaven ist tiefer als damals, weil er – zynisch gesagt – ein paar Jahre lang ausgepresst und dann fortgeworfen wird, während der «klassische» Plantagensklave des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen doch eine minimale lebenslange Sicherheit genoss.
Perfiderweise behaupten Kritiker von Bales, gerade die Befristung der Ausbeutung verbiete es, solche Verhältnisse Sklaverei zu nennen. Aber eigentlich ist die heutige Sklaverei – Bales behandelt neben Mauretanien die Prostitution in Thailand, Holzkohlecamps in Brasilien, Ziegelbrennereien in Pakistan und Schuldknechtschaft über mehrere Generationen in Indien – noch schlimmer als die historische.
«Im heutigen Mauretanien gibt es keine Sklaverei, doch wohin man auch blickt, an jeder Strassenecke und in jedem Laden, auf allen Feldern und Weideflächen sieht man Sklaven», lautet Bales’ Fazit. «Sie fegen und putzen, sie kochen und betreuen die Kinder, sie bauen Häuser und hüten Schafe, sie schleppen Wasser und Ziegel – sie erledigen alle Arbeiten, die mühselig, unangenehm und schmutzig sind. Die Wirtschaft Mauretaniens lastet einzig auf ihren Schultern; erst ihre nie endende Plackerei ermöglicht den Herren ihr angenehmes Leben und garantiert sogar den Lebensunterhalt jener, die keine Sklaven halten.»
In die gleiche Kerbe schlägt der Amnesty-International-Report, der letzten Dezember erschien – pünktlich zum 21. Geburtstag der Abschaffung der Sklaverei in Mauretanien. Darin wird festgehalten, dass ein entlaufener Sklave über keinerlei rechtlichen Schutz verfügt und dass NGOs wie SOS Esclaves entweder im Untergrund arbeiten müssen oder massiven Repressionen ausgesetzt sind. Der Report wurde von den Zeitungen umgehend als verräterisches Machwerk von einigen dekadenten, publicitygeilen Oppositionellen «entlarvt», die sich in Pariser Nachtklubs mit Champagner und leichten Mädchen vergnügten.
Eine ernster zu nehmende Kritik weist darauf hin, dass bei diesem Thema vieles von der Definition eines «Sklaven» abhängt. Sklaven im engen Sinne, deren Kinder automatisch wieder in den Besitz des Herrn übergehen und die mit Gewalt festgehalten werden, dürfte es auch in Mauretanien nicht mehr viele geben. Bales und die internationalen Organisationen definieren Sklaverei breiter – als vollständige Ausbeutung eines Menschen. Solche Sklaven gibt es in Mauretanien immer mehr, und die von Bales geschätzte Zahl von einigen hunderttausend dürfte eher niedrig angesetzt sein, schreibt der deutsche Soziologe Urs Peter Ruf (dem die Einreise nach Mauretanien inzwischen verweigert wird) in seinem Buch «Ending Slavery».
Bei dieser Betrachtungsweise verliert Mauretanien viel von seinem Sonderstatus. Abgesehen davon, dass es Sklaverei in Afrika schon lange vor den europäischen Menschenhändlern gab, ist sie auch heute nicht verschwunden; man denke zum Beispiel an Staaten wie Niger (Tuareg als Sklavenhalter), Sudan (Versklavung als Waffe im Krieg gegen den Süden des Landes) oder auch an die Kindersklaven auf den Plantagen in der Côte d’Ivoire. Und zu Recht fragte mich ein Mauretanier in Nouakchott, was denn der Unterschied zwischen einem mauretanischen Haussklaven einerseits und andererseits einem «Boy» in Nigeria oder einer «Bonne» in Mali sei, die vom Morgengrauen bis Mitternacht den ganzen Haushalt schmeissen für dreissig Franken im Monat (und wegen dieses «Lohns» eben nicht als Sklaven gelten). Tatsächlich ist das Phänomen der ausgebeuteten Hausangestellten so alltäglich in Afrika, dass es gar nicht problematisiert wird (kaum ein städtischer Haushalt ist zu arm, als dass es sich die Hausherrrin nicht leisten könnte, den halben Tag auf dem Sofa zu liegen und die Bonne zu rufen, damit sie ihr den Nagellack reicht). Aufsehen erregt es erst, wenn es nach Europa transferiert wird, etwa von afrikanischen Diplomaten, die ihre Gratis-Hausangestellten nach Genf oder London mitbringen (wie jüngst im Bestseller «Sklavin» der Sudanesin Mende Nazer beschrieben).
Arbeit adelt nicht
Um zu verstehen, warum diese Verhältnisse für die meisten Afrikaner nichts Skandalöses haben, muss man sich die Sozialstruktur dieser Länder vergegenwärtigen. Von einem freien Arbeitsmarkt im westlichen Sinne kann nur in Ausnahmefällen die Rede sein. Sehr oft ist die Arbeit immer noch familiär organisiert, oder familienähnlich nach Patron-Klienten-Muster.
Das heisst, der Angestellte steht in einer Art Knechtverhältnis zu seinem Meister, der in viel grösserem Umfang für ihn verantwortlich ist als ein normaler Arbeitgeber, etwa im Falle von Krankheit. Der zugeschriebene Status von Kaste, Clan, Alter oder Geschlecht ist in diesen hierarchischen Gesellschaften viel wichtiger als der durch Leistung erworbene.
Vorstellungen von Chancengleichheit, Arbeitsethos oder Gleichwertigkeit aller Menschen, die in Europa durch die Aufklärung zum Durchbruch kamen, sind dieser vorkapitalistischen Welt im Allgemeinen fremd. Würde das Leistungsprinzip gelten, dann wären die meisten Tellerwäscher in Afrika schon längst Millionäre, die Millionäre hingegen am Bettelstab. Aber Arbeit, und vor allem körperliche Arbeit, adelt nicht, sondern diskreditiert; sie ist das Kainsmal der niederen Kasten und der Sklaven. Erst in diesem Rahmen ist verständlich, dass sich viele mauretanische «Sklaven» eben nicht als Sklaven, sondern als adoptierte Familienmitglieder, als dankbare Mündel empfinden und den «Sklavenhalter» als strengen, aber fürsorglichen Patron.
Vor dem Hintergrund dieses weit verbreiteten Feudal-Autoritarismus erscheint die Sklaverei in Mauretanien nicht als Ausnahme, sondern lediglich als Extremform einer verbreiteten Sozialstruktur. Das hören viele Afrikaner nicht gern. Es wird so getan, als ob Sklaverei eine weisse Erfindung sei. Eher ist das Gegenteil der Fall: Weltgeschichtlich gesehen ist nicht Sklaverei aussergewöhnlich, sondern freie Arbeit. Westeuropa, wo es seit der Mitte des 14. Jahrhunderts kaum Sklaverei mehr gab, ist der eigentliche Ausnahmefall.
Der transatlantische Sklavenhandel war nur möglich dank afrikanischer Sklavenhändler, und dieser innerafrikanische Handel wiederum funktionierte nur so gut, weil er sich auf ein viel älteres, kulturell tief verankertes Sklavensystem abstützen konnte. (In Mauretanien war es ausgerechnet der Kolonialist Xavier Coppolani gewesen, der gegen den Willen der Einheimischen versuchte, die Sklaverei zu beenden.) Auch zu den Hochzeiten des transatlantischen Sklavenhandels wurden mehr Menschen auf dem afrikanischen Binnenmarkt verkauft als exportiert. Und wohlgemerkt wurde die Sklaverei ja auch nicht von den Sklaven selbst (ausser in Haiti) oder ihren schwarzen Brüdern abgeschafft, sondern von Weissen, und als die befreiten Sklaven nach Liberia zurückkehren konnten, hielten sie sich als Erstes wieder (afrikanische) Sklaven.
Im Süden der Côte d’Ivoire sagte mir vor drei Jahren ein Kaffeeplantagenbesitzer vom Stamm der Agni: «Wenn ein Agni körperlich arbeiten muss, stirbt er.» Infolgedessen liess er die ganze Arbeit von Muslimen aus dem Norden verrichten, eben jenen, die sich irgendwann weigerten, als Eindringlinge und Schmarotzer behandelt zu werden, und politisches Mitspracherecht forderten, was nun zum Zerfall der ehemaligen «Schweiz Westafrikas» führt.
In vielen Gesellschaften Afrikas herrscht noch heute eine unsichtbare Zweiteilung zwischen Noblen und ehemaligen Sklaven, die am Familiennamen ablesbar ist. In Mali oder Guinea kommt es oft vor, wenn sich zwei Männer einander vorstellen, dass der eine zum andern halb im Scherz sagt: «Du bist also mein Sklave.» Es kann aber, zum Beispiel in Südost-Nigeria, auch bis zu handfester Diskriminierung und blutigen Konflikten gehen, etwa beim Landrecht oder bei der Vergabe von Ämtern.
In der Volta-Region des ländlichen Ghana existiert bis heute eine besonders bizarre Form von Kindersklaverei, «trokosi» genannt, «Verheiratung mit den Göttern». Mädchen werden dem Tempelvorsteher übergeben, um für die Sünden von Familienmitgliedern zu büssen. Auf 5000 schätzt man die Zahl gefangen gehaltener Mädchen, die unentgeltlich zehn Stunden auf den Feldern arbeiten müssen, um dann nachts nicht selten vom Fetischpriester auch sexuell missbraucht zu werden.
«Die Sklaverei war im alten, vorkolonialen Afrika weit verbreitet, und sie expandierte im 19. Jahrhundert trotz oder wegen der Abolition», schreibt der Historiker Albert Wirz bezüglich der Aufhebung des Sklavenhandels 1807 durch Grossbritannien. «In einigen Gesellschaften Westafrikas machten die Sklaven in der Folge die Hälfte der Bevölkerung und mehr aus. Vor allem im Sahel- und Savannengürtel am Südrand der Sahara kam es zu einer starken Zunahme der Sklaverei, als dort im Gefolge der islamischen Revolutionen – Eroberungszüge und Reichsbildungen unter dem Banner des Islam – die Kriegsführung intensiviert und mehr und mehr Menschen versklavt wurden.»
Solange viele afrikanische Staaten sozial, ökonomisch und politisch noch so zerrissen sind – und die fortbestehende Sklaverei ist bloss der spektakulärste Ausdruck dieser Desintegration –, dürfte es auch die neue Initiative für eine gesamtafrikanische Integration (Nepad) schwer haben. Doch den meisten afrikanischen Politikern liegt ohnehin nichts an Selbstkritik, im Gegenteil. Denn die Staaten Afrikas gründeten ihr Selbstverständnis nach der Unabhängigkeit auf das Ende von Sklaverei und Kolonialismus. «Bisher ist es uns schlecht gegangen wegen der Ausbeutung durch die Weissen», lautete das Credo (wobei die arabisch-islamische Gewalt merkwürdigerweise meist ausgeblendet wurde). Als ob durch den Abzug der Weissen automatisch alles gut würde. Für die Reformierung der eigenen überkommenen Strukturen blieb kaum Platz. Lieber konzentrierte man die soziale Sensibilität auf das Apartheid-Südafrika, wo die Verhältnisse (böse Weisse, gute Schwarze) ins Schema passten. Dass die meisten afrikanischen Staaten ebenso ausschliessend und repressiv waren, wurde wohlweislich aus den Diskursen ausgespart. Wenn heute nun von afrikanischer Sklaverei die Rede ist, so trifft das den wunden Punkt des schwarzen Selbstverständnisses, das kollektive Verdrängte der afrikanischen Seele.
Als im April 2001 das Schiff «Etireno» in Cotonou, Benin, einlief und 23 Kinder, die zum Verkauf nach Gabun bestimmt waren, in die Obhut von Terre des hommes kamen, war die Weltpresse umgehend mit dem Stichwort «Sklaverei» zur Hand. Und es war ja auch nichts anderes. Die Händler kaufen die Kinder für umgerechnet etwa 16 Euro in einem armen Land wie Benin, Mali, Senegal oder Togo und verkaufen sie in einem reichen wie Côte d’Ivoire oder Gabun für das Zwanzigfache. Schätzungsweise 200000 Kinder wechseln in Afrika so jährlich den «Besitzer», dem sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Das Stichwort «Sklaverei» war, gerade in Benin, ein Stich ins Wespennest. Denn das früher Dahomey genannte Reich war während vier Jahrhunderten der grösste Sklavenexporteur der Küste.
Folglich erklärte der Aussenminister von Benin umgehend, dass es bei den Kindern auf der «Etireno» um etwas ganz anderes gegangen sei: «Die Eltern haben ihre Kinder nicht verkauft. Für sie ist es normal, dass ihre Kinder dort arbeiten werden, und wenn sie etwas Geld dafür bekommen, nun, dann erscheint ihnen das normal, sogar gut. Gut für sie und gut für die Kinder. Es ist nicht dasselbe wie im 19. Jahrhundert.» Und Unicef, um diplomatische Beziehungen bemüht, doppelte sogleich nach: «Das ist keine Sklaverei, weil die Kinder nicht ein Leben lang in dieser Situation bleiben. Sie endet mit dem Erwachsenwerden. Ausserdem wurden echte Sklaven in alten Zeiten in Ketten gelegt.»
In Cotonou erinnert ein riesiges Denkmal an die Qual der ehemaligen Sklaverei. Die heutige wird als Tradition und Kultur beschönigt, und wer etwas dagegen sagt, versteht eben nichts davon. Und die Arbeitsministerin von Gabun behauptete schlichtweg, schuld am Menschenschmuggel seien die Ausländer, die Gabun überschwemmten und die Kinder verschacherten. «Auch wir sind Opfer dieses Handels.» Das erinnert haarscharf an den mauretanischen Präsidenten Ould Taya, der 1997 in einer Rede das «Problem der Sklaverei» auf ein Komplott zum Nutzen des Auslands zurückführte. Die Bösen sind immer die andern.
Es ist wahr, dass es in Afrika gerade unter armen Familien die Sitte gibt, Kinder zu einem reicheren Verwandten in die Stadt zu geben. Das Kind sollte dann etwas im Haushalt helfen und im Gegenzug die Schule besuchen können. Und die heutigen Auswüchse des Kinderhandels sind vielleicht nur vor dem Hintergrund solcher Traditionen verständlich. Aber eine Entschuldigung ist das nicht. Kulturen können sich ändern; sie treffen gewissermassen Entscheidungen. Sie sind so wenig wie die Ökonomie einfach Schicksal. Manchmal hört man die Ansicht, Sklaverei und Kinderarbeit seien eine Art notwendiges Übel für arme Länder im Prozess der Entwicklung. Aber Europa war am Ende des 19. Jahrhunderts, als dort Kinderarbeit verboten wurde, nicht reicher als weite Teile Afrikas und Asiens heute. Die Entscheidung, Kinder nicht arbeiten zu lassen, sondern sie zu schulen, war eine Investition, die sich, wie man sieht, lohnte.
Wenn afrikanische Repräsentanten die früheren Machenschaften der Weissen für ihr Leiden verantwortlich machen, ohne die aktuellen, hausgemachten Ungerechtigkeiten eines Blickes zu würdigen, so wirkt das auf die Länge heuchlerisch. So wie im Oktober 2002 an der Rassismuskonferenz in Bridgetown, Barbados. Dort wurde wieder einmal über konkrete und effiziente Strategien nachgedacht, wie Reparationszahlungen vom Westen für das getane Unrecht verlangt werden könnten. Das Einzige, was allerdings konkret beschlossen wurde, und zwar gleich zu Beginn, war der Ausschluss aller Nichtschwarzen von der Konferenz. «Wir wollen eine friedliche und vertrauliche Diskussion, die die Nicht-Afrikaner nicht interessieren kann», erklärte die Sprecherin der britischen (!) Delegation. «Viele Schwarze stehen noch unter dem Schock dessen, was ihre Vorfahren erlebt haben. Diese Traumatisierung führt dazu, dass sie ihre Probleme nicht vor Weissen schildern wollen. Das ist eine Angelegenheit der Schwarzen, das könnt ihr nicht verstehen.»
Nachdem also die ausgeschlossenen Teilnehmer aus Russland, Kolumbien, Martinique, La Réunion und Südafrika die Veranstaltung verlassen hatten, erklärte eine Ghanaerin bei der reinrassigen Neueröffnung: «Das ist doch normal. Man will ja schliesslich nicht, dass unsere Gastfreundschaft missbraucht wird.» Selbstverständlich wurden Sklaverei und Ausbeutung im heutigen Afrika mit keinem Wort erwähnt.
Elite ohne Bezug zur Realität
Zurück nach Mauretanien. In Nouakchott diskutierte ich mit einem Weissen Mauren, der in Europa Informatik studiert hatte und vor kurzem in sein Land zurückgekehrt war. Er wollte auf keinen Fall namentlich genannt werden, ausser Haus sprach er nur Deutsch mit mir und vom Präsidenten nur als dem «Mann».
«Überall redet man von Nation-Building in Afrika», sagte er, «aber eigentlich gibt es nur Zentrifugalkräfte und Partikularinteressen. Auch in der Politik versucht jeder bloss, seinem Stamm oder seinem Clan etwas zuzuschanzen. Der traditionelle Interessenausgleich – das Palaver – existiert nicht mehr, und eine moderne Rechtsprechung noch nicht. Es gibt ein Dazwischen: Korruption und Willkür.»
Natürlich existiere auf dem Papier Chancengleichheit, die Abschaffung der Sklaverei gehöre dazu, meinte er. Aber einen guten Job kriege man nicht mit Diplomen, sondern nur mit Beziehungen. Die Armen könnten es sich nicht leisten, die Kinder zur Schule zu schicken, abgesehen davon, dass die staatlichen Schulen sowieso nichts taugten und die privaten ganz auf Frankreich ausgerichtet seien. «Aber gerade die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart unseres Landes täte Not, vor allem für die Elite, die jeglichen Bezug zur Realität verloren hat. Es gibt keinen Sinn für Objektivität, keine Fakten in diesem Land, nur Propaganda und Gegenpropaganda.»
1990 kam es in Mauretanien zu Massakern an Afromauretaniern. Die Regierung hetzte die Haratin, die Sklaven-Nachkommen, gegen sie auf, um die schwarze Bevölkerung zu spalten, die sich seit Ende der achtziger Jahre für mehr Gleichberechtigung eingesetzt hatte. Im Gefolge wurden Tausende nach Senegal abgeschoben, wo es im Gegenzug zu Tötungen von dort ansässigen Mauretaniern kam. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind bis heute gespannt. Die mauretanische Regierung erliess ein Amnestiegesetz, das die Verantwortlichen vor jeglicher Strafverfolgung schützte. Durch eine forcierte Arabisierung der Politik und des Schulwesens versuchte man zusätzlich, die eher frankophon orientierte schwarze Bevölkerung auszugrenzen. Der Schuss ging hintenhinaus. Es waren nämlich eben die Französischsprachigen, die Stipendien und Studienplätze in Frankreich bekamen, während die alteingesessene Elite sich durch die noble Beschäftigung mit hocharabischer Literatur ins Hintertreffen manövrierte. Auch mehrere Dürreperioden seit den siebziger Jahren mit fatalen Folgen für den Viehbestand verschärften die Diskrepanz zwischen dem aristokratischen Anspruch der Weissen Mauren und ihrem prekären wirtschaftlichen Fundament. Die daraus resultierende Unmöglichkeit, für die Sklaven auch bloss minimal zu sorgen, und nicht Philanthropie, dürfte einer der Hauptgründe für die offizielle Abschaffung der Sklaverei gewesen sein. Durch die kürzliche Entdeckung von Erdöl- und Erdgasvorkommen wäre die Chance gegeben, dass Mauretanien, mit einer Auslandverschuldung von über 2,5 Milliarden Dollar und einem der niedrigsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt, einen Modernisierungsschritt machen könnte.
Der Informatiker ist skeptisch. «Eher wird das Gegenteil der Fall sein. Eine Minderheit wird sich bereichern, die Schere zwischen Arm und Reich wird noch grösser werden, und damit auch die gesellschaftlichen Spannungen. Am Ende wird der Staat auseinander fallen, wie Nigeria, wie die Côte d’Ivoire.»
Eine Woche später treffe ich in Nouakchott wieder auf den Mann mit dem Puzzle. Er ist nicht weitergekommen. Im Gegenteil. Er hat die wenigen Teile, die zusammenpassten, wieder auseinander genommen. «Ich dachte mir, ich fange besser noch einmal von vorne an», meint er traurig.
Mitarbeit: Kiky van Til
Amnesty International Report:
Mauritania: A future free from slavery?
http://web.amnesty.org/ai.nsf/recent/AFR380032002
Kevin Bales: Die neue Sklaverei. Antje Kunstmann.
381 S., Fr. 39.50
Mende Nazer: Sklavin. Schneekluth. 317 S., Fr. 33.60
Urs Peter Ruf: Ending Slavery. Hierarchy, Dependency and Gender in Central Mauritania. Transcript
Albert Wirz: Sklaverei und kapitalistisches Weltsystem. Suhrkamp. Fr. 13.50