Unkalkulierbare Folgen eines Atomkrieges
Die Wirkung eines nuklearen Schlagabtauschs übersteigt Prognosefähigkeit der Militärplaner bis heute
Sebastian Gerhardt
Auf der Internetseite der Federation of American Scientists (
www.fas.org) kann man sich bis heute vorführen lassen, welche Auswirkungen die Explosion einer Atombombe in einer einzelnen amerikanischen Stadt haben würde. Es handelt sich um Rechenexempel. Nach Vorgabe gewisser Parameter wie der Größe des Sprengkopfes und der Unterscheidung zwischen Luft- oder Bodendetonation lassen sich die Konsequenzen relativ genau bestimmen. Die eigentliche Schwierigkeit – und die Leistung des kleinen Programms – besteht in der Bestimmung der bekannten Konsequenzen einer Atomwaffe für einen bestimmten Ort mit einer bestimmten Bevölkerungsverteilung, Bebauung, Infrastruktur.
In den Annahmen über die vernichtende Wirkung von Atomwaffen geht das Programm von einem Bericht des »Office of Technology Asessment« (OTA) aus den siebziger Jahren aus, der 1983 unter dem Titel »Atomkriegsfolgen« auch auf deutsch veröffentlicht wurde. Die Wirkung auf Menschen beruht auf den drei Faktoren: Druckwelle, radioaktive und Wärmestrahlung. Bei großen Atomwaffen mit einer Sprengkraft von mehreren hunderttausend Tonnen TNT-Äquivalent gehen die größten Zerstörungen und die größte Zahl von Opfern auf die gewaltige Druckwelle einer Kernexplosion zurück, die weit über den Kreis der tödlichen Strahlung hinaus alles Leben durch einen gewaltigen Überdruck und die Zerstörung aller Gebäude vernichten kann. »Die häufigste Todesursache dürfte aus dem Zusammenstürzen der Häuser resultieren« heißt in der Studie über die Folgen der Explosion einer Atomwaffe von einer Megatonne Sprengkraft über Detroit. Bei kleineren Atomwaffen mit einem geringeren Überdruck – etwa solchen wie in Hiroshima und Nagasaki – wird die direkte radioaktive Strahlung selbst tödlich wirken. Daneben entstehen aufgrund der thermischen Strahlung Verbrennungen und – sekundär – Brände mit einer großen Zahl weiterer Opfer. In jedem Fall wird die Infrastruktur schwer geschädigt, so daß der Hilfe für Überlebende Grenzen gesetzt sind.
Der radioaktive Niederschlag – der »fall out« – tritt gegenüber diesen unmittelbar tödlichen Wirkungen zunächst zurück. Er entsteht vor allem bei bodennahen und Bodenexplosionen, bei den denen der Feuerball die Erdoberfläche berührt. Seine Verteilung und Konzentration wird stark durch die aktuellen Wetterverhältnisse bestimmt. Vor allem aber von der Zahl eingesetzter Atomwaffen hängt ab, inwiefern der »fall out« selbst zu menschlichen Opfern führt. Kann man bei einzelnen Atomexplosionen noch von einer möglichen Evakuierung ausgehen, so wird es im Falle umfassender Angriffe und Gegenschläge kaum »sichere Orte« geben, an denen sich Menschen gefahrlos außerhalb von Schutzräumen aufhalten könnten.
Interessanterweise ging die Darstellung des OTA prinzipiell davon aus, daß ein US-amerikanischer Gegenschlag auf einen sowjetischen Angriff folgt. Die US-Regierung habe keine Studien über amerikanische Erstschläge zur Verfügung gestellt. Dabei wollten die US-Streitkräfte in den 50er Jahren für ihre geplanten Erstschläge nicht weniger als 58 Prozent ihrer strategischen Atomwaffen einsetzen. Angesichts einer sicheren Zweitschlagsfähigkeit beider Seiten konnte aber auch das an den Folgen eines großen Atomkriegs wenig ändern: Weder die USA noch die Sowjetunion hätten nach einem solchen Krieg weiterexistiert.