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Freitag, 10. Juni 2011
Wirtschaftboom am Bosporus
Türkei zeigt es der EU
von Diana Dittmer
Der türkische Ministerpräsident Erdogan schwelgt in Vorfreude. Die wirtschaftlichen Erfolge seiner Regierung sprechen für einen deutlichen Sieg bei den anstehenden Wahlen. Er hat den armen Dauer-EU-Anwärter zum Tigerstaat in Europa gemacht. Nun besinnt er sich auf sich selbst. Haben die Europäer da was verpasst?
Wo endet Europa? Der Blick vom Camlica Hügel auf der asiatischen Seite von Istanbul über den Bosporus auf den europäischen Teil der türkischen Metropole.
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Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die Türkei zeigt den europäischen Wirtschaftsmächten, was eine Harke ist. Das Wirtschaftswachstum, das die Türkei in den vergangenen acht Jahren unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vorgelegt hat, lässt einen fragen, ob die Letzten nicht tatsächlich bald zu den Ersten gehören könnten. Undenkbar ist das heute nicht mehr. Das Bild von der Türkei, das viele noch in ihren Köpfen tragen - rückständig und hoffnungslos unterentwickelt – ist mittlerweile weit überholt. Das Land hat sich wirtschaftlich und politisch entwickelt und geöffnet, wie man es sich vor zehn Jahren nicht vorstellen konnte. Den gewünschten Anschluss an die europäischen Nachbarländer hat das Land aber trotzdem nicht gefunden.
"Die Türkei hat keinen Platz"
Mittlerweile sind gut 20 Jahren vergangen, seitdem die Türkei den offiziellen Status eines Beitrittskandidaten der EU erhalten hat. Unvorstellbar lange steht das Land damit auf der EU-Schwelle. Immer wieder verwiesen die EU-Mitgliedstaaten auf die politischen, kulturellen, aber auch wirtschaftlichen Defizite - vor allem im Osten - und schlugen den Türken die Tür vor der Nase zu.
Der letzte Staatsmann, der gegenüber der Türkei klare Worte wählte, war Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy. "Die Türkei hat keinen Platz in Europa", stellte er 2007, gerade kurz im Amt, klar, und preschte stattdessen mit einer eigenen Idee vor. Die Türkei könnte sich doch einer "Mittelmeer-Union" anschließen. Aus heutiger Sicht ein absurdes Szenario, würde es doch bedeuten, dass die wirtschaftlich gesunde Türkei eine Allianz mit den größten Schuldnerstaaten der EU eingehen würde. Umgekehrt wäre die Union heute wahrscheinlich dankbar, einen so potenten Partner an ihrer Seite zu haben.
Demütigungen reichen lange zurück. Die Zeitungskarikatur von 1896 zeigt Sultan Abdülhamid II., wie er erstaunt zur Kenntnis nimmt, dass die europäischen Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien das Reich für 5 Millionen britische Pfund verkauft haben.
Tatsächlich nahm vor vier Jahren die Mehrheit der Mitgliedstaaten einen anderen Standpunkt ein als Frankreich. Geändert hat das allerdings nichts. Der Prozess zur Vollendung des EU-Beitritts schreitet über die Jahre voran, der Beitritt selbst wird aber nie vollzogen. Es ist durchaus denkbar, dass die EU ihn noch 10 Jahre weiter hinauszögert. Denn, dass die Türkei in einer weiteren Legislaturperiode Erdogans ihren Reformprozess beschleunigen wird, zeichnet sich nicht ab. Gleichzeitig verliert die Frage "EU-Beitritt oder nicht?" für die Türkei kontinuierlich an Bedeutung. Inzwischen könnte man sich sogar vorstellen, dass die Regierung sich anders besinnt und die Verhandlungen selbst auf Eis legt.
Es geht auch ohne EU
Die Türkei könnte es sich leisten. Denn heute liegen die Dinge anders als vor 20 Jahren. Das Land ist die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft in Europa - ohne zur EU zu gehören. Im vergangenen Jahr legte die türkische Wirtschaft 8 Prozent zu. Weltweit erzielte die Türkei 2010 sogar das zweithöchste BIP-Wachstum.
Die Staatsverschuldung sank unter der Regierung Erdogan von 65,4 auf geschätzt unter 40 Prozent. Davon kann ganz Euroland, ja die versammelte Europäische Union nur träumen. In der Finanzkrise konnte es sich die Türkei sogar leisten, die Hilfe des IWF abzulehnen. Keine Bank ging pleite oder musste gestützt werden. Das Bankensystem ist solide. Eine Tatsache, die man von den Ländern der Europäischen Union nicht behaupten kann. Schon gar nicht von dem Nachbarstaat Griechenland.
Verkehrte Welt?
Die Türkei strotzt vor Selbstbewusstsein. Das belegen auch Umfragen. Angeblich ist nur noch jeder dritte Türke für einen EU-Beitritt. In Wirtschaftskreisen soll die EU schon gar kein Thema mehr sein. Auf der Schwelle zu Europa sitzt kein Bettler mehr, sondern ein Tiger, der sich wohl überlegt, welche Schritte er als nächstes tut. Heute lautet die erste Frage nicht mehr: "Lassen wir die Türken rein?", sondern: "Wollen die Türken überhaupt noch rein?"
An Erdogan scheiden sich die Geister. Einig sind sie sich aber darin, dass er die Türkei stärker verändert hat als alle seine Vorgänger.
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Erdogan sagt Ja. Nach seinem allseits erwarteten Erfolg seiner gemäßigt- islamischen AKP bei den Parlamentswahlen will er die EU-Bewerbung seines Landes mit einem eigenen Ministerium aufwerten. So, wie die Dinge politisch und gesellschaftlich in der Türkei stehen – mit allen Defiziten bei Minderheiten-, Frauen- und Presserechten – darf man wohl davon ausgehen, dass verschiedene EU-Mitgliedsländer die Türkei auch in absehbarer Zukunft ablehnen oder zumindest nicht vollwertig aufnehmen wollen. Sollte eine Zwitterlösung das einzige Angebot bleiben, das die EU macht, wird man wohl kaum handelseinig werden und der Enthusiasmus für das Projekt EU in der türkischen Bevölkerung wird weiter nachlassen und am Ende gänzlich einschlafen.
Für die Wirtschaft ist das kein großer Verlust. Die Handelsbeziehungen scheinen auf Basis des bestehenden Handelsrechts, auf halber Strecke zum vollwertigen EU-Mitglied, gut zu funktionieren. Den EU-Beitritt als Wirtschaftsmotor braucht die Türkei also offensichtlich nicht. Im Gegenteil: Die Notenbank trifft schon jetzt alle Maßnahmen, um einer möglichen Überhitzung der Konjunktur entgegenzuwirken, indem sie die Zinsen senkt und die Geldmenge begrenzt.
Zeit für Denkmäler
Aber für die türkischen Minderheiten wäre ein Abrücken von den Beitrittsverhandlungen – ob von Seiten der EU oder von Seiten der Türkei - ein schwerer Verlust. Denn es würde den Demokratisierungsprozess im Land bremsen. Acht Jahre lang hat Erdogan alte Strukturen aufgebrochen und neue Werte geschaffen. Seine letzte Legislaturperiode hat er dazu auserkoren, seine Erfolge zu feiern und sich Denkmäler mit großen Bauprojekten wie einem zweiten Bosporus zu setzen. Dieses Mal hat er sich andere Dinge auf die Fahne geschrieben. Das Vorantreiben von gesellschaftlichen Reformen oder gar der EU-Beitritt spielte in diesem Wahlkampf eine auffällig kleine Rolle.
Ein türkisches Hochzeitspaar auf einer Wahlkampfveranstaltung. Erdogans AKP kann Umfragen zufolge mit 50 Prozent der Wählerstimmen rechnen.
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Die EU sollte umso mehr dran bleiben. Das Projekt EU-Beitritt wird zäh bleiben. Aber irgendwann ist auch die Wachstums-Feier am Bosporus vorbei, und Katerstimmung wird sich breit machen. Dann wird es in der Türkei auch mit den Reformen wieder voran gehen. Spätestens dann muss sich die EU erneut fragen, ob eine Aufnahme wirtschaftlich und politisch nicht wünschenswert und auch verkraftbar wäre.