Scharfschützen erschossen Frauen und Kinder
In Israel sorgen Aussagen von Soldaten, die im Gaza-Krieg kämpften, für Aufsehen. Sie berichten, Zivilisten seien wegen Missverständnissen und Einzelbefehlen erschossen worden. Israelische Scharfschützen töteten demnach Frauen und Kinder.
Von Sebastian Engelbrecht, BR-Hörfunkkorrespondent Tel Aviv
Von Kriegsverbrechen ist in Israel nicht die Rede, aber von "freizügigen Einsatzregeln". Absolventen einer israelischen Militärakademie, die als Soldaten in Gaza kämpften, stellen ihrer Armee ein miserables Zeugnis aus. Die Augenzeugenberichte wurden jetzt in israelischen Medien veröffentlicht.
Im israelischen Rundfunk zitierte Moderatorin Keren Neubach aus einem der Berichte: "Eine alte Frau ging den Weg entlang, keine Ahnung, ob sie verdächtig war oder nicht, die Scharfschützen haben sie umgelegt. Das ist das Schöne an Gaza sozusagen - Du siehst einen Menschen auf einem Weg gehen, nicht unbedingt bewaffnet, und Du kannst einfach auf ihn schießen." Laut der Tageszeitung "Haaretz" gab es innerhalb der israelischen Einheit vor dem tödlichen Schuss eine Diskussion über die Auslegung der Einsatzregeln. Dabei sei herausgekommen, dass alle noch im Zentrum Gazas verbliebenen Menschen Terroristen seien und erschossen werden könnten. Daraufhin habe ein Offizier die Tötung der alten Frau befohlen.
Scharfschütze erschießt Mutter und Kinder
Ein Führer einer Infanterietruppe berichtet von einem weiteren Zwischenfall. Demnach erschoss ein Scharfschütze der israelischen Armee eine palästinensische Frau und ihre zwei Kinder. Mutter und Kinder hätten von einem anderem Soldaten die Anweisung erhalten, ihr Haus in einer bestimmten Richtung zu verlassen. Die Frau verstand die Anweisung nicht und ging in die entgegengesetzte Richtung. Daraufhin tötete ein Scharfschütze Mutter und Kinder von einem Dach aus. Er folgte einem Befehl, wonach ein bestimmter Bereich nicht betreten werden durfte, hieß es bei "Haaretz". Im Bewusstsein der israelischen Truppe sei das Leben von Palästinensern viel weniger wert als das Leben der israelischen Soldaten, sagte einer der Augenzeugen in seinem Bericht.
Wollen israelische Offiziere etwas vertuschen?

[Bildunterschrift: Israelische Soldaten warten an der Grenze zum Gazastreifen auf weitere Anweisungen ]
Der Chef der Militärakademie, Dani Zamir, erlaubte nach Gesprächen mit der Armeeführung die Veröffentlichung der Augenzeugenberichte. Zamir fasste im israelischen Rundfunk zusammen, mit welcher Devise die Absolventen seiner Akademie aus dem Dienst in Gaza entlassen wurden: "Mehr als einmal haben wir von Leuten, mit denen wir gesprochen haben, gehört, dass ihre Offiziere ihnen am Ende der Offensive gesagt hätten, dass uns ja keiner zu Hause von der Zerstörung hier erzählt, okay?" So oder so ähnlich, sei es ihm berichtet worden, sagt Zamir. "Das heißt, die mittlere bis obere Ebene in Gaza wusste, dass hier Grenzen übertreten worden sind. Deshalb wurden viele Gespräche mit Soldaten geführt, dass sie das nicht erzählen sollen."
Ein Sprecher der israelischen Armee erklärte nach der Veröffentlichung, die Aussagen der Soldaten würden auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft. Dann werde gegebenenfalls eine Untersuchung eingeleitet.
Armee bestreitet Kriegsverbrechen
Die Berichte der Kriegsteilnehmer werden mit Sicherheit auch im Ausland genau gelesen. Sie könnten im Falle einer möglichen Klage gegen die israelische Regierung wegen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof herangezogen werden. Ein israelischer Regierungssprecher wies den Vorwurf, die Armee habe sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht, in dieser Woche erneut zurück "Es ist wohl bekannt, dass keine internationale Organisation mit politischer Verantwortung diese Behauptungen aufgestellt hat, weil es keinen Beweis für Kriegsverbrechen gibt, die angeblich von Israel begangen worden sein sollen. Nur Organisationen, die eine eindeutige politische Agenda haben und keine politische Verantwortung, haben sich auf dieses düstere Terrain begeben, solche Behauptungen aufzustellen.“
Die Diskussion über mögliche israelische Kriegsverbrechen und über den moralischen Verfall der israelischen Armee hat gerade erst begonnen. Das Nachspiel zum Gaza-Krieg wird Israel noch lange beschäftigen - "Haaretz" will weitere Zeugenaussagen veröffentlichen.