27.09.2011
Gefahren des Türkei-Aufschwungs
Erst Boom, dann Knall
Aus Istanbul berichtet Oliver Trenkamp
Wachstum, um jeden Preis: Ganze Gegenden werden in Istanbul zu Neubaugebieten erklärt - und die Armen vertrieben.
Größenwahn am Bosporus: Mit immer neuen Mega-Projekten befeuert Premier Erdogan den türkischen Boom. Doch Ökonomen und Geschäftsleute fürchten, dass die Wirtschaft heißläuft. Folgt auf den beispiellosen Aufschwung ein brutaler Absturz?
Sie tragen Uniformen, die aussehen, als stammten sie aus dem Kostümfundus, aber sie sollen den neuen türkischen Wohlstand verteidigen: An den Eingängen vor dem Istanbuler Einkaufszentrum Kanyon stehen Wachleute und durchleuchten Taschen und Rucksäcke, schicken Kunden durch Scanner-Schleusen, als betrete man die Sicherheitszone eines Flughafens.
Die Angst vor Anschlägen, wie vor wenigen Tagen in Ankara oder im vergangenen Herbst am Taksim-Platz , ist groß. Doch es sind weniger solche Attacken, die den beispiellosen türkischen Aufschwung der vergangenen Jahre bedrohen. Der Boom selbst könnte das Problem sein.
Geschäftsleute und Ökonomen sorgen sich: Wie nachhaltig wirtschaftet die Türkei? Wie lange kann es gutgehen, mehr zu importieren als zu exportieren und so immer neue Schulden anzuhäufen? Wächst die Wirtschaft zu schnell? Droht die Implosion?
Es gibt Dutzende Zentren wie das Kanyon, allein in Istanbul; eine Shopping-Mall mit angeschlossener Kino-Kuppel, Feinkost-Supermarkt, Bio-Bistros und hunderten Büros; es steht in Levent, dem Finanzviertel. Der Aufschwung hat eine Mittelschicht hervorgebracht, die konsumieren will. Die großen Investmentbanken haben hier in einem Hochhaus ihre türkischen Außenposten errichtet, Merrill Lynch, UBS, JP Morgan; zur Börse ist es nicht weit.
"Wir haben nicht so viele Spielzeuge", sagt ein Banker
Drinnen, hinter den Sicherheitsschleusen, sitzt einer der Banker bei einem Glas Tee, hellblaues Hemd, randlose Brille; iPhone und Hausausweis vor sich auf dem Tisch. Seinen Namen will er nicht veröffentlicht sehen, er spricht nicht offiziell für seine Firma. Einerseits sagt er, alles laufe stabil - die Regierung habe nach der letzten großen Krise die richtigen Maßnahmen ergriffen . Die Banken würden streng reguliert, seien vergleichsweise kapitalstark, faule Papiere gebe es kaum: "Wir haben nicht so viele Spielzeuge, die gefährlich werden können." Das sorgt für Vertrauen: In der vergangenen Woche stufte die Rating-Agentur Standard & Poors die Türkei hoch, was die regierungsfreundliche Zeitung "Zaman" mit dem Wort "endlich" kommentierte.
Doch andererseits sorgt auch den Banker, was Ökonomen ein Handelsbilanzdefizit nennen. Seit Jahren führt die Türkei mehr Güter und Dienstleistungen ein als sie ans Ausland verkauft - und macht so Schulden. Das liegt zum einen am steigenden privaten Konsum, zum anderen aber auch an der Struktur der türkischen Wirtschaft: Das Land muss nicht nur Öl importieren, sondern, um überhaupt etwas produzieren zu können, viele andere Rohstoffe und Vorprodukte. "Wir führen mittlerweile sogar Getreide ein", sagt der Banker, "das schmerzt mich, wir hatten eine große Landwirtschaft".
Die Unwucht bei Ex- und Importen macht die Türkei anfällig für Paniken auf den Finanzmärkten: Wenn die Investoren nervös werden und ihr Geld plötzlich abziehen, droht der Absturz. Der "Economist" führt die Türkei auf den vorderen Plätzen einer Liste mit Schwellenländern, deren Wirtschaft zu überhitzen droht.
Höher, schneller, weiter - Antrieb für den Aufschwung
Die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan will den Boom jedoch weiter befeuern - auch mit megalomanischen Bauvorhaben. Immer neue Hochhäuser lässt sie errichten, etwa den "Saphir von Istanbul", das höchste Gebäude der Türkei, 261 Meter misst es vom Boden bis zur Antennenspitze. Ein Schnellbahnnetz soll sich bald durch die Türkei ziehen. Und im Wahlkampf kündigte Erdogan an, einen zweiten Bosporus ausheben zu lassen, einen gigantischen Kanal, der Marmarameer und Schwarzes Meer verbindet, 50 Kilometer lang, 150 Meter breit. Zum 100. Jahrestag der türkischen Republik 2023 sollen er und die Bahntrassen fertig sein.
Erdogan verspricht seinen Wählern, dass sie alle reich sein werden, dass sich ihr Verdienst verdreifacht, dass ihr Land bald zu den zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt gehört.
Aber kann das klappen? "Wenn ich ein ausländischer Investor wäre, ich würde der Türkei nicht trauen", sagt Mehmet Inhan, 53, Hauptgeschäftsführer eines Internet-Unternehmens und Wirtschaftsdozent an der Bosporus-Universität. Er kann sich noch gut an die letzte große Krise von 2001 erinnern: Als die Aktienkurse einbrachen, saß er zusammen mit seinem Geschäftspartner im Büro, sie betrieben eine Unternehmensberatung, gegründet mit Risikokapital. Das Telefon habe geklingelt, ein Kunde kündigte seinen Vertrag, dann der nächste, dann wieder. Am Ende des Tages hatten sie keine Aufträge mehr. "Wir haben nur noch gelacht", sagt Inhan, vor Verzweiflung.
Neue Länder, neue Märkte
Aber die Türken seien krisenerfahren: "Wir machen irgendwie immer weiter, auch wenn es wehtut." Er suchte sich einen neuen Job, schlug sich durch, jetzt baut er gerade einen Buchversand mit auf.
Mit harten Reformen schaffte es auch das ganze Land, sich wieder aufzuraffen - und versucht mittlerweile, neue Märkte zu erschließen, vor allem im Nahen Osten und in Afrika. Die Türkei öffnet Botschaften und Konsulate, um neue Kontakte aufzubauen und alte zu pflegen. Gerade erst reise Erdogan durch die Länder des arabischen Frühlings. Mit den neuen libyschen Machthabern hoffen die Türken wieder ins Geschäft zu kommen - immerhin bekamen türkische Firmen schon unter Gaddafi die größten Bau-Aufträge.
Aber noch ist die EU, vor allem Deutschland, der wichtigste Handelspartner der Türkei, ein Handelspartner, der durch seine tiefste Krise taumelt. "Die Nachfrage nach türkischen Produkten wird schon bald zurückgehen", fürchtet Inhan.
Sollte der Boom tatsächlich zum Knall werden, wird die Krise allerdings auf andere Weise ihren Anfang nehmen als vor zehn Jahren. Damals reichte eine Lappalie, um alles zusammenbrechen zu lassen: Staatspräsident und Regierungschef stritten darum, ob die Korruption hart genug bekämpft wurde. Die Kurse brachen ein, Investoren zogen Milliarden aus der Türkei ab, schließlich zerbrach die Regierung.
Die Türkei von 2011 ist politisch weitaus stabiler, Erdogans AKP ging erneut gestärkt aus den letzten Wahlen hervor. "Das macht Entscheidungen schneller und verlässlicher", sagt der Banker im Kanyon-Center. Allerdings wächst bei vielen Geschäftsleuten die Furcht vor politischem Druck - und davor, dass nur jene profitable Aufträge bekommen, die den Premier und seine Politik unterstützen.
Die Ängste sind nicht unbegründet. Als der Unternehmerverband Tüsiad sich nicht für Erdogans Verfassungsreform aussprechen wollte, drohte der Premier damit, den Verband zu eliminieren. Die Firmenchefs dürften sich nicht wundern, sollte die Regierung stumm bleiben, wenn die Unternehmer bei ihr anklopfen würden.
Denn eines verteidigt Erdogan härter als als den Boom der Türkei: seine Macht.