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Warten auf die Revolution
Warten auf die Revolution
Von Lukas Bärfuss. Aktualisiert um 08:12
Die Krise ist überall. In der Wirtschaft, der Politik und der Religion, fast überall auf der Welt: in Afrika, in Teilen Asiens, in Mittel- und Südamerika, in den Vereinigten Staaten – und natürlich, und nicht zu knapp, auch in Europa.
Die Idee der Demokratie, so hört man, sei in der Krise. Der moderne, freiheitliche Verfassungsstaat gerät an seine Grenzen und gegenüber autokratischen Systemen wirtschaftlich ins Hintertreffen. Die Möglichkeiten zur Gestaltung des Wünschbaren werden kleiner, wenn es denn noch eine Übereinkunft dieses Wünschbaren gibt. Die Interessen haben sich atomisiert. Und während die Interessenvertreter an allen Orten ihren Einfluss durchsetzen, versteckt oder in aller Offenheit, haben die Bürger immer weniger zu sagen. Und, das ist ihr eigenes Verschulden, sie sagen auch immer weniger.
Nicht in der Krise befindet sich allerdings die Idee der Freiheit und der Wahrhaftigkeit. Die Menschen, die in Tunis, Kairo und in Moskau auf die Strasse gehen, zeugen davon. Aber es ist mehr als ungewiss, ob und wann ihr Kampf um die Menschenrechte in einen Staat mündet, der Teilhabe an der Macht und Gewaltenteilung kennt – so, wie es der europäische Nationalstaat für sich in Anspruch nimmt.
Ungebremste Umverteilung
Krise bedeutet nicht Stillstand. Die Verhältnisse sind in Bewegung. Die Vernetzung der Welt schreitet weiter voran. Grenzen werden verschoben. Und die Ungleichheit wird mit jedem Tag grösser. Überall, ganz besonders hierzulande. Der Kampf um die Gleichheit scheint verloren, aufgegeben dieses Ideal, einer der Grundsätze der Aufklärung, niedergeschrieben in den nationalen Verfassungen, formuliert in Artikel eins der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte: «Jeder Mensch ist gleich an Würde und Rechten geboren.»
Die Ungleichheit wächst, und es ist traurig, wie sehr dies eine Binsenwahrheit geworden ist, ein Allgemeinplatz, der kaum mehr etwas besagt. Oder was bedeutet die Tatsache, dass man die Lächerlichkeit von 50'000 Schweizer Franken besitzen muss, das ist der Preis eines Mittelklassewagens, um unter den 10 Prozent Reichsten der Welt zu sein? Daraus ist keine Politik geworden, und es steht zu befürchten, dass es auch keine geben wird. Die Dynamik der Umverteilung der Macht von den vielen zu den wenigen ist ungebremst.
Wie lange wird das noch gut gehen? Vielleicht befinden wir uns in einem Zeitalter wie weiland Montesquieu, jener Verfassungstheoretiker, der dreissig Jahre vor der Französischen Revolution starb – und doch zu Lebzeiten das kommende Ende seines Zeitalters erkannte. Montesquieu war ganz Kind seiner Zeit, über deren Verfall er schrieb. Und mitten in der Krise seiner Verhältnisse entwarf er die Umrisse des modernen Staates, die Gewaltenteilung und die Kontrolle der Macht. Er legte die Grundlagen für eine neue Zeit, die er selbst nicht mehr erlebte.
Wo ist der Staat geblieben?
Also: Man übe sich besser in Geduld. Die gegenwärtige Krise kann noch eine Weile dauern. Sicher ist aber auch: Es wird nicht mehr ewig so weitergehen. Die Widersprüche werden nicht kleiner. Und daher stellt sich die Frage, was man tun sollte und wo der Gestaltungsraum ist. Natürlich: Man kann im Privaten sein Glück suchen und sich den Freunden, Büchern und den frischen Erbsen aus dem Garten zuwenden. Der Frohsinn hat gerade in der Krise eine politische Wirkung und steigert das allgemeine Wohlbefinden. Das ist nicht wenig, aber es ist nicht alles. Das menschliche Leben besteht aus der Präsenz der andern, der Abwesenden, denen wir nie begegnen und mit denen wir doch verbunden sind. Es wird immer ein öffentliches Leben geben. Und damit die Frage, wie wir dieses gestalten wollen, welche Politik, welchen Staat wir uns geben. Was wir mit ihm und durch ihn erreichen wollen. Welchen Zweck und welche Ziele er hat. Es ist die Frage nach dem Menschenbild, nach der Idee des Zusammenlebens, die uns die gegenwärtige Krise stellt.
Wo ist er eigentlich geblieben, dieser Staat? Er ist seltsam abwesend geworden. Verschwunden hinter den Institutionen und ihren Prozeduren, den sogenannten Sachzwängen, den mittlerweile periodischen Skandälchen um Geld und Macht. Vielleicht ist diese Abwesenheit ja wünschenswert. Wer den Staat nicht spürt, hat vielleicht weniger von ihm zu befürchten.
Ein Abkommen zum Schutz der Freiheit
Ja, die Institutionen und ihre Prozeduren funktionieren. Die Kommissionen tagen, die Vernehmlassungen werden beantwortet, die Erlasse verschickt und die Termine eingehalten. Eine mehr oder weniger konstante Minderheit nimmt weiterhin an den Abstimmungen teil, auch wenn offenkundig ist: Immer seltener sind sie Ausdruck eines Begehrens. Meistens bezeichnen sie den Abschluss eines Verwaltungsverfahrens, einen Formalismus. Oder, noch unangenehmer, sie sind ein reines Aufmerksamkeitsspektakel im Dienste des Wahlkampfs. Ist es deshalb unanständig zu fragen, was dieser Staat ausser der Gewährleistung der eigenen Existenz und der gelegentlichen öffentlichen Gaudi im Kern noch leistet?
Er verteilt die Lasten und die Privilegien – aber selbst wenn er diese Aufgaben effektiv erledigen würde: Wäre das nicht etwas wenig? Es geht nicht um politischen Idealismus. Der Staat bezeichnet ein Vertragsverhältnis. Ein Abkommen zum Schutz der Freiheit, der Menschenrechte und der Menschenwürde. Der Staat sollte dem Einzelnen das Handeln ermöglichen, die Gestaltung seines Lebens frei von seiner Herkunft, seinem Vermögen, seiner Religion und seinem Geschlecht. Sind die beiden Vertragspartner aber überhaupt noch willens und mächtig, diesen Vertrag einzuhalten?
Supranational – lokal
Was die Bürger betrifft, so war und ist es schwierig, etwas Gesichertes über ihren Willen auszusagen. Denn dieser Wille kann sich nur im bestehenden System äussern. Ein System, das seine eigene Sprache spricht und nach eigenen Regeln funktioniert. Wer sie nicht kennt, hat keine Stimme. Jene waren und sind viele, und es werden immer mehr. Und der Staat, kann er seinen Teil des Vertrags noch erfüllen? Man muss befürchten: Er kann es immer weniger. Und das liegt unter anderem an einer grundsätzlichen Eigenschaft des Nationalstaates: Er bedarf eines Territoriums. Er braucht Grenzen, innerhalb deren seine Gesetze gelten und er seine Macht vollständig durchsetzen kann.
Doch überall verschieben sich Grenzen. Sie bewegen sich durch die Informationstechnologie. Das Kapital zirkuliert weitgehend ungehindert um den Erdball. Der transkontinentale Luftverkehr ist Alltag. Zoll- und Handelsschranken fallen, und man hat im Grundsatz, wenn auch nicht in der Praxis begriffen, dass die grossen anstehenden Probleme in der Klimapolitik und im Währungssystem nur supranational gelöst werden können. Die Einzigen, die territoriale Grenzen nach wie vor in aller Härte zu spüren bekommen, sind die Schwächsten, die Flüchtlinge.
Gleichzeitig und scheinbar im Widerspruch dazu organisieren sich die Menschen weiterhin lokal. Die Aufstände in den arabischen Metropolen finden auf Plätzen und Strassen statt. Auf dem Tahir in Kairo. Vor dem Kreml, wo dreissigtausend Russinnen und Russen eine Menschenkette bilden. Präsenz ist immer lokal, und es ist die Präsenz der Körper, die Veränderungen in die Wirklichkeit setzt.
Segregation der Gesellschaft
Wo kann es da noch Platz geben für einen Nationalstaat? Sein Territorium wird zunehmend unschärfer. Aber wo könnte ein neuer, demokratischer, freiheitlicher Staat beheimatet sein? Um diese Frage zu beantworten, müsste er um die Volonté générale bemüht sein, um ihre Entwicklung, Deutung und Umsetzung.
Es heisst, wir lebten im Zeitalter der Information. Aber Information ist für Menschen bedeutungslos. Nur Maschinen brauchen Informationen. Was die Menschen zu ihrer Freiheit brauchen, ist Kommunikation. Begegnung, Gespräch, Austausch. Mit einem Wort: Sie brauchen Beziehungen.
Aber diese Beziehungen werden immer schwieriger. Der moderne Mensch begegnet die meiste Zeit sich selbst. Die Segregation der Gesellschaft in oben und unten, in Ausländer und Einheimische, in Alte und Junge, in Frauen und Männer und vor allem in extrem wenige Reiche und extrem viele Arme schreitet voran. Der demokratische Staat wird seine Berechtigung nur behalten, wenn er das Gemeinwohl aller dieser Gruppen sucht und fördert.
Die Gleichheit kommt aus der Vielfalt.
So kann es zum Beispiel legitim sein, durch Ausländergesetze einen Teil der Arbeitnehmenden zu schützen. Aber es ist nicht legitim, Menschen, die hier ihr Leben verdienen, ihre Kinder grossziehen und den Staat durch ihre Steuern finanzieren, von der politischen Mitsprache auszugrenzen. Und es ist nicht legitim, zwar grundsätzlich die Vielgestaltigkeit der Lebensentwürfe zu propagieren, aber gleichzeitig wenig zu tun, um die Bildung für alle zu öffnen und stattdessen die Schule und Universitäten weiter zu standardisieren. Der Staat, wenn er seinen Auftrag ernst nehmen will, muss die Vielfalt ermöglichen. Die Tretmühlen des Glücks, in die uns das wirtschaftliche System zu zwingen versucht, dieser Kreislauf um immer höhere Ansprüche, die das Wachstum befördern, um diese unstillbaren Ansprüche zu befriedigen – dieses Hamsterrad ist nicht schicksalshaft. Es gibt jene, die aussteigen. Und es sind nicht wenige. Die meisten davon werden zu Krankheitsfällen und werden hospitalisiert. Ein paar wenige schaffen es, sich als Stilikonen zu etablieren, an denen sich unsere Sehnsucht nach dem anderen Leben entzündet.
Die Gleichheit kommt aus der Vielfalt. Wenn der Staat nicht das eine durch das andere befördert, verliert er seine Berechtigung. Der demokratische Staat ist kein Selbstzweck. Das ist er nur im Totalitarismus. Er muss den Austausch befördern, Erfahrungen ermöglichen, und er muss sich bewusst sein, dass seine Verfassung einen universellen Anspruch hat. Das Gemeinwohl als das Wohl aller. Es kennt keine Grenzen, weil die Freiheit, so hat es Hannah Arendt formuliert, immer die Freiheit der anderen ist. Wir sind verbunden mit allen Menschen, nicht nur mit sieben Millionen. Wenn es den anderen gut geht, geht es uns besser.
Die Seitenwahl der Schweiz
Vor einigen Tagen meldete diese Zeitung, dass der französische Präsidentschaftskandidat François Hollande nach seinem Wahlsieg eine Reichtumssteuer einführen will. Für die Schweiz befürchtet oder erhofft man deshalb weitere Zuflüsse von Vermögen. Falls das mehr sein sollte als Wahlkampfgetöse: Auf wessen Seite würde sich die Schweiz stellen – auf die Seite des Reichtums der wenigen, oder auf die Seite der vielen, auf die Seite der Gleichheit?
Der Druck wird zunehmen. Die Widersprüche werden offensichtlicher. Man sollte nicht bloss auf die Revolution warten. Man sollte beginnen, sie zu denken.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 01.03.2012, 15:25 Uhr
ig weis langer text blabla....
wer lust hat auf andere gedanken wird vielleicht etwas an diesem text für sich finden!!!
Warten auf die Revolution
Von Lukas Bärfuss. Aktualisiert um 08:12
Die Krise ist überall. In der Wirtschaft, der Politik und der Religion, fast überall auf der Welt: in Afrika, in Teilen Asiens, in Mittel- und Südamerika, in den Vereinigten Staaten – und natürlich, und nicht zu knapp, auch in Europa.
Die Idee der Demokratie, so hört man, sei in der Krise. Der moderne, freiheitliche Verfassungsstaat gerät an seine Grenzen und gegenüber autokratischen Systemen wirtschaftlich ins Hintertreffen. Die Möglichkeiten zur Gestaltung des Wünschbaren werden kleiner, wenn es denn noch eine Übereinkunft dieses Wünschbaren gibt. Die Interessen haben sich atomisiert. Und während die Interessenvertreter an allen Orten ihren Einfluss durchsetzen, versteckt oder in aller Offenheit, haben die Bürger immer weniger zu sagen. Und, das ist ihr eigenes Verschulden, sie sagen auch immer weniger.
Nicht in der Krise befindet sich allerdings die Idee der Freiheit und der Wahrhaftigkeit. Die Menschen, die in Tunis, Kairo und in Moskau auf die Strasse gehen, zeugen davon. Aber es ist mehr als ungewiss, ob und wann ihr Kampf um die Menschenrechte in einen Staat mündet, der Teilhabe an der Macht und Gewaltenteilung kennt – so, wie es der europäische Nationalstaat für sich in Anspruch nimmt.
Ungebremste Umverteilung
Krise bedeutet nicht Stillstand. Die Verhältnisse sind in Bewegung. Die Vernetzung der Welt schreitet weiter voran. Grenzen werden verschoben. Und die Ungleichheit wird mit jedem Tag grösser. Überall, ganz besonders hierzulande. Der Kampf um die Gleichheit scheint verloren, aufgegeben dieses Ideal, einer der Grundsätze der Aufklärung, niedergeschrieben in den nationalen Verfassungen, formuliert in Artikel eins der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte: «Jeder Mensch ist gleich an Würde und Rechten geboren.»
Die Ungleichheit wächst, und es ist traurig, wie sehr dies eine Binsenwahrheit geworden ist, ein Allgemeinplatz, der kaum mehr etwas besagt. Oder was bedeutet die Tatsache, dass man die Lächerlichkeit von 50'000 Schweizer Franken besitzen muss, das ist der Preis eines Mittelklassewagens, um unter den 10 Prozent Reichsten der Welt zu sein? Daraus ist keine Politik geworden, und es steht zu befürchten, dass es auch keine geben wird. Die Dynamik der Umverteilung der Macht von den vielen zu den wenigen ist ungebremst.
Wie lange wird das noch gut gehen? Vielleicht befinden wir uns in einem Zeitalter wie weiland Montesquieu, jener Verfassungstheoretiker, der dreissig Jahre vor der Französischen Revolution starb – und doch zu Lebzeiten das kommende Ende seines Zeitalters erkannte. Montesquieu war ganz Kind seiner Zeit, über deren Verfall er schrieb. Und mitten in der Krise seiner Verhältnisse entwarf er die Umrisse des modernen Staates, die Gewaltenteilung und die Kontrolle der Macht. Er legte die Grundlagen für eine neue Zeit, die er selbst nicht mehr erlebte.
Wo ist der Staat geblieben?
Also: Man übe sich besser in Geduld. Die gegenwärtige Krise kann noch eine Weile dauern. Sicher ist aber auch: Es wird nicht mehr ewig so weitergehen. Die Widersprüche werden nicht kleiner. Und daher stellt sich die Frage, was man tun sollte und wo der Gestaltungsraum ist. Natürlich: Man kann im Privaten sein Glück suchen und sich den Freunden, Büchern und den frischen Erbsen aus dem Garten zuwenden. Der Frohsinn hat gerade in der Krise eine politische Wirkung und steigert das allgemeine Wohlbefinden. Das ist nicht wenig, aber es ist nicht alles. Das menschliche Leben besteht aus der Präsenz der andern, der Abwesenden, denen wir nie begegnen und mit denen wir doch verbunden sind. Es wird immer ein öffentliches Leben geben. Und damit die Frage, wie wir dieses gestalten wollen, welche Politik, welchen Staat wir uns geben. Was wir mit ihm und durch ihn erreichen wollen. Welchen Zweck und welche Ziele er hat. Es ist die Frage nach dem Menschenbild, nach der Idee des Zusammenlebens, die uns die gegenwärtige Krise stellt.
Wo ist er eigentlich geblieben, dieser Staat? Er ist seltsam abwesend geworden. Verschwunden hinter den Institutionen und ihren Prozeduren, den sogenannten Sachzwängen, den mittlerweile periodischen Skandälchen um Geld und Macht. Vielleicht ist diese Abwesenheit ja wünschenswert. Wer den Staat nicht spürt, hat vielleicht weniger von ihm zu befürchten.
Ein Abkommen zum Schutz der Freiheit
Ja, die Institutionen und ihre Prozeduren funktionieren. Die Kommissionen tagen, die Vernehmlassungen werden beantwortet, die Erlasse verschickt und die Termine eingehalten. Eine mehr oder weniger konstante Minderheit nimmt weiterhin an den Abstimmungen teil, auch wenn offenkundig ist: Immer seltener sind sie Ausdruck eines Begehrens. Meistens bezeichnen sie den Abschluss eines Verwaltungsverfahrens, einen Formalismus. Oder, noch unangenehmer, sie sind ein reines Aufmerksamkeitsspektakel im Dienste des Wahlkampfs. Ist es deshalb unanständig zu fragen, was dieser Staat ausser der Gewährleistung der eigenen Existenz und der gelegentlichen öffentlichen Gaudi im Kern noch leistet?
Er verteilt die Lasten und die Privilegien – aber selbst wenn er diese Aufgaben effektiv erledigen würde: Wäre das nicht etwas wenig? Es geht nicht um politischen Idealismus. Der Staat bezeichnet ein Vertragsverhältnis. Ein Abkommen zum Schutz der Freiheit, der Menschenrechte und der Menschenwürde. Der Staat sollte dem Einzelnen das Handeln ermöglichen, die Gestaltung seines Lebens frei von seiner Herkunft, seinem Vermögen, seiner Religion und seinem Geschlecht. Sind die beiden Vertragspartner aber überhaupt noch willens und mächtig, diesen Vertrag einzuhalten?
Supranational – lokal
Was die Bürger betrifft, so war und ist es schwierig, etwas Gesichertes über ihren Willen auszusagen. Denn dieser Wille kann sich nur im bestehenden System äussern. Ein System, das seine eigene Sprache spricht und nach eigenen Regeln funktioniert. Wer sie nicht kennt, hat keine Stimme. Jene waren und sind viele, und es werden immer mehr. Und der Staat, kann er seinen Teil des Vertrags noch erfüllen? Man muss befürchten: Er kann es immer weniger. Und das liegt unter anderem an einer grundsätzlichen Eigenschaft des Nationalstaates: Er bedarf eines Territoriums. Er braucht Grenzen, innerhalb deren seine Gesetze gelten und er seine Macht vollständig durchsetzen kann.
Doch überall verschieben sich Grenzen. Sie bewegen sich durch die Informationstechnologie. Das Kapital zirkuliert weitgehend ungehindert um den Erdball. Der transkontinentale Luftverkehr ist Alltag. Zoll- und Handelsschranken fallen, und man hat im Grundsatz, wenn auch nicht in der Praxis begriffen, dass die grossen anstehenden Probleme in der Klimapolitik und im Währungssystem nur supranational gelöst werden können. Die Einzigen, die territoriale Grenzen nach wie vor in aller Härte zu spüren bekommen, sind die Schwächsten, die Flüchtlinge.
Gleichzeitig und scheinbar im Widerspruch dazu organisieren sich die Menschen weiterhin lokal. Die Aufstände in den arabischen Metropolen finden auf Plätzen und Strassen statt. Auf dem Tahir in Kairo. Vor dem Kreml, wo dreissigtausend Russinnen und Russen eine Menschenkette bilden. Präsenz ist immer lokal, und es ist die Präsenz der Körper, die Veränderungen in die Wirklichkeit setzt.
Segregation der Gesellschaft
Wo kann es da noch Platz geben für einen Nationalstaat? Sein Territorium wird zunehmend unschärfer. Aber wo könnte ein neuer, demokratischer, freiheitlicher Staat beheimatet sein? Um diese Frage zu beantworten, müsste er um die Volonté générale bemüht sein, um ihre Entwicklung, Deutung und Umsetzung.
Es heisst, wir lebten im Zeitalter der Information. Aber Information ist für Menschen bedeutungslos. Nur Maschinen brauchen Informationen. Was die Menschen zu ihrer Freiheit brauchen, ist Kommunikation. Begegnung, Gespräch, Austausch. Mit einem Wort: Sie brauchen Beziehungen.
Aber diese Beziehungen werden immer schwieriger. Der moderne Mensch begegnet die meiste Zeit sich selbst. Die Segregation der Gesellschaft in oben und unten, in Ausländer und Einheimische, in Alte und Junge, in Frauen und Männer und vor allem in extrem wenige Reiche und extrem viele Arme schreitet voran. Der demokratische Staat wird seine Berechtigung nur behalten, wenn er das Gemeinwohl aller dieser Gruppen sucht und fördert.
Die Gleichheit kommt aus der Vielfalt.
So kann es zum Beispiel legitim sein, durch Ausländergesetze einen Teil der Arbeitnehmenden zu schützen. Aber es ist nicht legitim, Menschen, die hier ihr Leben verdienen, ihre Kinder grossziehen und den Staat durch ihre Steuern finanzieren, von der politischen Mitsprache auszugrenzen. Und es ist nicht legitim, zwar grundsätzlich die Vielgestaltigkeit der Lebensentwürfe zu propagieren, aber gleichzeitig wenig zu tun, um die Bildung für alle zu öffnen und stattdessen die Schule und Universitäten weiter zu standardisieren. Der Staat, wenn er seinen Auftrag ernst nehmen will, muss die Vielfalt ermöglichen. Die Tretmühlen des Glücks, in die uns das wirtschaftliche System zu zwingen versucht, dieser Kreislauf um immer höhere Ansprüche, die das Wachstum befördern, um diese unstillbaren Ansprüche zu befriedigen – dieses Hamsterrad ist nicht schicksalshaft. Es gibt jene, die aussteigen. Und es sind nicht wenige. Die meisten davon werden zu Krankheitsfällen und werden hospitalisiert. Ein paar wenige schaffen es, sich als Stilikonen zu etablieren, an denen sich unsere Sehnsucht nach dem anderen Leben entzündet.
Die Gleichheit kommt aus der Vielfalt. Wenn der Staat nicht das eine durch das andere befördert, verliert er seine Berechtigung. Der demokratische Staat ist kein Selbstzweck. Das ist er nur im Totalitarismus. Er muss den Austausch befördern, Erfahrungen ermöglichen, und er muss sich bewusst sein, dass seine Verfassung einen universellen Anspruch hat. Das Gemeinwohl als das Wohl aller. Es kennt keine Grenzen, weil die Freiheit, so hat es Hannah Arendt formuliert, immer die Freiheit der anderen ist. Wir sind verbunden mit allen Menschen, nicht nur mit sieben Millionen. Wenn es den anderen gut geht, geht es uns besser.
Die Seitenwahl der Schweiz
Vor einigen Tagen meldete diese Zeitung, dass der französische Präsidentschaftskandidat François Hollande nach seinem Wahlsieg eine Reichtumssteuer einführen will. Für die Schweiz befürchtet oder erhofft man deshalb weitere Zuflüsse von Vermögen. Falls das mehr sein sollte als Wahlkampfgetöse: Auf wessen Seite würde sich die Schweiz stellen – auf die Seite des Reichtums der wenigen, oder auf die Seite der vielen, auf die Seite der Gleichheit?
Der Druck wird zunehmen. Die Widersprüche werden offensichtlicher. Man sollte nicht bloss auf die Revolution warten. Man sollte beginnen, sie zu denken.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 01.03.2012, 15:25 Uhr
ig weis langer text blabla....
wer lust hat auf andere gedanken wird vielleicht etwas an diesem text für sich finden!!!