[h1] Der verachtete Rohstoff [/h1]
[h2] Menschlicher Urin wird bisher weggespült. Doch das könnte sich bald ändern. Von Atlant Bieri [/h2]
Eingerieben soll er Warzen entfernen, gegurgelt Husten lindern, und getrunken soll er Verstopfungen beseitigen. Nach einer langen Laufbahn als alternatives Heilmittel will der menschliche Urin neuerdings die Welt als Dünger erobern. Urin enthält hohe Anteile an Stickstoff und Phosphor. Anstatt ihn also in Form von Klärschlamm in einer Verbrennungsanlage enden zu lassen, könnte man ihn geradeso gut sammeln, aufbereiten und als hochwertigen Dünger in der Landwirtschaft verwenden. Diese Idee hat die Eawag, das Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs, sechs Jahre lang auf ihre Praktikabilität hin untersucht. Nun hat sie die Resultate an einer Konferenz an der ETH Zürich vorgestellt. Urin, so scheint es, hat sich vom Gurgelwasser zum Dünger der Zukunft emanzipiert.
Um Urin als Dünger einsetzen zu können, muss man ihn erst einmal sammeln. Das geschieht in einer speziellen in Schweden entwickelten Toilette, die den Urin vorne durch eine separate Öffnung auffängt und in einen Tank leitet, während sie die Fäkalien hinten wegspült. Ein Fass voll Urin macht aber noch lange keinen Dünger. Bei kranken Menschen enthält Urin oft Viren oder Bakterien. Auch durch Verunreinigungen mit Fäkalien können Krankheitserreger in den Urintank gelangen. Sie machen den Urin als Dünger zu einem Gesundheitsrisiko. Man muss darum mindestens sechs Monate lang warten, bis die Bakterien abgestorben sind, bevor man zu düngen beginnt.
Ein noch viel grösseres Problem sind die im Urin gelösten Hormone und Pharmazeutika. Die Untersuchungen der Eawag ergaben, dass der menschliche Körper durchschnittlich fast zwei Drittel eines eingenommenen Wirkstoffes mit dem Urin wieder ausscheidet. Potenziell gefährliche Stoffe müssen daher vor dem Ausbringen des Urins entfernt werden.
Max Maurer, Verfahrenstechniker in der Ingenieurabteilung der Eawag, hat mit seinen Kollegen verschiedene Methoden getestet, um den Urin von solchen Verunreinigungen zu säubern. Eine Methode ist die Begasung des Urins mit Ozon. «Dabei werden Mikroverunreinigungen durch die Zugabe von Ozon oxidiert und unschädlich gemacht», sagt Maurer.
Diesen sauberen Urin könnte man jetzt ohne Umweltrisiken ausbringen. Doch die Flüssigkeit ist als Dünger noch ein wenig umständlich zu handhaben. Die Nährstoffe sind in einer relativ grossen Menge Wasser gelöst, und ihre Lagerung nimmt daher viel Platz in Anspruch. In einem weiteren Verfahren konnte Maurer durch die kontrollierte Zugabe von Magnesium fast den gesamten Phosphor und einen Teil des Stickstoffs aus dem Urin ausfällen. Das Produkt ist Struvit, ein bewährter Mehrkomponentendünger, der direkt auf das Feld ausgebracht werden kann.
Urin wiederzuverwerten, ist auch eine Frage der Energieeinsparung. Jeder Kubikmeter Urin belastet eine Kläranlage mit 80 kWh. Die Herstellung der gleichen Menge Stickstoff, die im Urin verloren geht, benötigt nochmals 80 kWh. Jeder Kubikmeter Urin, der ungenutzt die Toilette runter fliesst, ist also insgesamt 160 kWh wert - so viel wie ein Fernseher einer vierköpfigen Familie im Jahr verbraucht.
Auch der Umwelt kommt die Urinseparierung zugute. Sie könnte vor allem in Schwellenländern zur Verbesserung der Umweltqualität beitragen. Die Kläranlagen dort reinigen oft nur einen Bruchteil der gesamten Abwassermenge. Der Rest fliesst ins Meer.
Die Eawag hat auch eine Umfrage zur Akzeptanz von Urindünger bei Landwirten und der Bevölkerung durchgeführt. Knapp 60% der Landwirte fanden Urindünger eine gute Idee. Noch optimistischer sahen es die Konsumenten. Zwei Drittel würden mit Urin gedüngtes Gemüse kaufen. Das verbleibende Drittel ekelte sich aber vor dieser Idee und hatte auch gesundheitliche Bedenken. Ihnen könnte eine Studie aus Finnland vielleicht helfen, ihre Skrupel zu überwinden. Helvi Heinonen-Tanski und seine Kollegen von der Universität Kuopio testeten den Geschmack von Gurken, die entweder mit herkömmlichem Dünger oder mit Urin gedüngt wurden. Die Mehrheit der Prüfer konnte einen geschmacklichen Unterschied feststellen. Doch «die Prüfer hatten keine Vorliebe für die eine oder die andere Gurke. Alle Gurken wurden als gut schmeckend und gut aussehend mit schöner Textur beurteilt», schreibt Heinonen-Tanski.
Bis sich in der Schweiz die neuen WC-Schüsseln durchsetzen, können noch einige Jahrzehnte vergehen. Bis dahin werden wohl noch alle Gurken gleich schmecken.
Der verachtete Rohstoff ( NZZ Online)