16. Mai 2012, 17:10
[h=1]Widerstand, keine Ergebung[/h][h=2]Zum Tod des Historikers Arno Lustiger[/h] Der historiografische Essayist Arno Lustiger ist 88-jährig in Frankfurt verstorben. (Bild: Keystone/AP)
[h=3]Arno Lustiger, als Kind polnischer Juden in Schlesien geboren und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entronnen, hat mit seiner Erforschung des jüdischen Widerstands die Geschichtsschreibung verändert. Am 15. Mai ist er in Frankfurt am Main 88-jährig gestorben.[/h] Stefana Sabin
Verfolgung, Verschleppung und Vernichtung waren das typische Schicksal der Juden seiner Generation, das Überleben war eher untypisch. Arno Lustiger, 1924 im Oberschlesischen geboren, überlebte die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz und die Todesmärsche, er wurde von den Alliierten gerettet und blieb, nachdem er in einem amerikanischen Lager für «displaced persons» einige Familienmitglieder, die ihrerseits davongekommen waren, wiedergefunden hatte, in Deutschland. In Frankfurt am Main baute er sich eine Existenz als Geschäftsmann auf und trug mit Überzeugung zur Neugründung der jüdischen Gemeinde und so auch zur Wiederbelebung jüdischer Kultur in Deutschland bei. Darüber hinaus setzte er sich sowohl für das Zusammenleben zwischen Juden und Christen als auch für die Verständigung zwischen den Diasporajuden und den Zionisten ein – ein Engagement, für das er mit mehreren Auszeichnungen gewürdigt wurde.
[h=4]Eine Lebensaufgabe[/h] Wie auch für andere Entronnene war für Lustiger die Auseinandersetzung mit jener dramatischen Epoche europäischer und jüdischer Geschichte, deren Opfer und Zeitzeuge er gewesen war, zunächst – jahrzehntelang – eine persönliche, private Angelegenheit, die er durch Verdrängung zu bewältigen suchte. Aber schliesslich begann er die Vergangenheit auf ganz eigene Art zu erforschen, und daraus erwuchs ihm eine Lebensaufgabe: Arno Lustiger, der während der Todesmärsche mehrmals zu fliehen versucht hatte, wandte sich gegen die geläufige Auffassung, die Juden seien während der Nazizeit passiv gewesen. Er fing zu recherchieren an, trug unzählige Zeugnisse zusammen und entwarf das Narrativ des jüdischen Widerstands: «Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch zum Widerstand der Juden 1933–1945», das 1994 erschien, war die erste Darstellung des jüdischen Widerstands gegen die Verfolgung durch die Nazis.
Lustiger geriet in eine Kontroverse mit dem angesehenen amerikanischen Historiker Raul Hilberg, dem Autor des 1961 erschienenen bahnbrechenden Werkes «Die Vernichtung der europäischen Juden». Hilberg vertrat die These, die Juden hätten in einer jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte Passivität und Resignation nachgerade verinnerlicht und seien deshalb widerstandsunfähig geworden. Anders als Hilberg, der sich auf amtliche Quellen stützte und auf die Archive der Täter, die den Siegern in die Hände gefallen waren, gründete Lustiger seine Darstellung auf Zeugenberichte und auf Aufzeichnungen der Opfer – private Zeugnisse, die er aufspürte. Das gefundene Material deutete er, ohne sein Entsetzen zu verschweigen – auch darin anders als Hilberg, der Aktenberge mit der Sachlichkeit des Berufshistorikers ausgewertet hatte. Bei aller Kritik an Hilbergs Resignationsthese anerkannte Lustiger jedoch ausdrücklich «die ungeheure Bedeutung» von dessen Forschungen «für die Zeitgeschichte und für uns, die Überlebenden».
Immer wieder monierte Lustiger das Desinteresse der Historiker gegenüber Erinnerungen der Überlebenden: «Viele der etablierten Forscher», erklärte er einmal, «wehren sich doch mit Händen und Füssen dagegen, die Erfahrungen von Zeitzeugen mit in ihre Wissenschaft einzubeziehen, weil deren Erinnerungen zu ungenau seien und deshalb für exakte Wissenschaft ungeeignet.» Er stellte demgegenüber die Erinnerungen der Zeitzeugen in den Mittelpunkt seiner Forschung und betrachtete sie als «notwendige Ergänzung zur normalen Geschichtsschreibung».
Dass Lustiger Privatgelehrter war, beeinträchtigte nicht die Wirkung seiner Bemühungen. Mit seiner These vom jüdischen Widerstand gegen das Naziregime lenkte er die Diskussion über die Judenvernichtung in eine neue Bahn und erfand dabei auch eine neue Art der Geschichtsschreibung, die sich zwischen Dokumentation und Narration bewegt. Lustigers schriftstellerische Strategie war nicht das grossangelegte Forschungsprojekt, sondern die kleine Studie: Aus vielen biografischen Skizzen setzte er ein Gemälde jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen, das einen Eindruck nicht nur von der Überlebensfähigkeit, sondern auch von der Kampf- und Widerstandsbereitschaft der Juden vermitteln sollte. Vom jüdischen Sozialismus und von der jüdischen Arbeiterbewegung über die jüdischen Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg und die Aufständischen in den Ghettos von Warschau und Wilna bis hin zu den jüdischen Soldaten in der Sowjetarmee und dem Verhältnis der jüdischen Intellektuellen zu Stalin erzählte Lustiger vom heroischen Kampf der Juden gegen Unterdrückung.
Aber auch denen galt sein Interesse, die den drangsalierten Juden halfen und dabei nicht selten ihr eigenes Leben riskierten. Im letzten Jahr ist bei Wallstein Lustigers umfangreiche Dokumentation dessen erschienen, was er «Rettungswiderstand» nannte. Bis anhin unerschlossene Quellen vor allem aus Osteuropa erzählen von einzelnen Leuten und von kleinen Gruppen, von Städtern und Bauern, von Politikern und Offizieren, von Künstlern und Geistlichen, von Prostituierten und Nonnen, die in Deutschland und in den von den Nazis besetzten Ländern Juden geholfen haben.
[h=4]Das Jiddische[/h] Als historiografischer Essayist ist Lustiger anerkannt, seine literarische Arbeit hingegen wird oft noch verkannt. Seine phonetischen Transkriptionen aus dem Jiddischen waren die Grundlage für Übertragungen ins Deutsche, durch die solche Werke wie «Grosser Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk» von Jizchak Katzenelson und «Jossel Rakovers Wendung zu Gott» von Zvi Kolitz erst bekannt werden konnten. Lustiger war einer der Letzten, die Jiddisch sprachen, jenes Idiom, das auch den Nazis zum Opfer gefallen ist. Nicht zuletzt jiddische Ghetto- und Partisanenlieder galten Lustiger als Beweis eines jüdischen Widerstands, und er trug Wesentliches zur Erschliessung dieses Liedguts bei.
«Sog nit kejnmol as du gehst dem letztn weg», beginnt das Lied von Hirsch Glik aus dem Ghetto Wilna, und es geht so weiter: «chotsch himlen bleiene varstelln bloje teg; / kumen wet noch unser ojsgebenkte scho, / s'wet a pojk ton unser trot – mir senen do!» – «Sag nie nicht, du gehst den allerletzten Weg / Schluckt das Blei im Himmel auch des Tages Licht / Unsre heiss erhoffte Stunde ist schon nah / Trommeln werden unsre Schritte: Wir sind da!» – Arno Lustiger ist am 15. Mai, wenige Tage nach seinem achtundachtzigsten Geburtstag, in Frankfurt am Main gestorben.
Widerstand, keine Ergebung (Kultur, Aktuell, NZZ Online)
[h=1]Widerstand, keine Ergebung[/h][h=2]Zum Tod des Historikers Arno Lustiger[/h] Der historiografische Essayist Arno Lustiger ist 88-jährig in Frankfurt verstorben. (Bild: Keystone/AP)
[h=3]Arno Lustiger, als Kind polnischer Juden in Schlesien geboren und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis entronnen, hat mit seiner Erforschung des jüdischen Widerstands die Geschichtsschreibung verändert. Am 15. Mai ist er in Frankfurt am Main 88-jährig gestorben.[/h] Stefana Sabin
Verfolgung, Verschleppung und Vernichtung waren das typische Schicksal der Juden seiner Generation, das Überleben war eher untypisch. Arno Lustiger, 1924 im Oberschlesischen geboren, überlebte die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz und die Todesmärsche, er wurde von den Alliierten gerettet und blieb, nachdem er in einem amerikanischen Lager für «displaced persons» einige Familienmitglieder, die ihrerseits davongekommen waren, wiedergefunden hatte, in Deutschland. In Frankfurt am Main baute er sich eine Existenz als Geschäftsmann auf und trug mit Überzeugung zur Neugründung der jüdischen Gemeinde und so auch zur Wiederbelebung jüdischer Kultur in Deutschland bei. Darüber hinaus setzte er sich sowohl für das Zusammenleben zwischen Juden und Christen als auch für die Verständigung zwischen den Diasporajuden und den Zionisten ein – ein Engagement, für das er mit mehreren Auszeichnungen gewürdigt wurde.
[h=4]Eine Lebensaufgabe[/h] Wie auch für andere Entronnene war für Lustiger die Auseinandersetzung mit jener dramatischen Epoche europäischer und jüdischer Geschichte, deren Opfer und Zeitzeuge er gewesen war, zunächst – jahrzehntelang – eine persönliche, private Angelegenheit, die er durch Verdrängung zu bewältigen suchte. Aber schliesslich begann er die Vergangenheit auf ganz eigene Art zu erforschen, und daraus erwuchs ihm eine Lebensaufgabe: Arno Lustiger, der während der Todesmärsche mehrmals zu fliehen versucht hatte, wandte sich gegen die geläufige Auffassung, die Juden seien während der Nazizeit passiv gewesen. Er fing zu recherchieren an, trug unzählige Zeugnisse zusammen und entwarf das Narrativ des jüdischen Widerstands: «Zum Kampf auf Leben und Tod. Das Buch zum Widerstand der Juden 1933–1945», das 1994 erschien, war die erste Darstellung des jüdischen Widerstands gegen die Verfolgung durch die Nazis.
Lustiger geriet in eine Kontroverse mit dem angesehenen amerikanischen Historiker Raul Hilberg, dem Autor des 1961 erschienenen bahnbrechenden Werkes «Die Vernichtung der europäischen Juden». Hilberg vertrat die These, die Juden hätten in einer jahrhundertelangen Verfolgungsgeschichte Passivität und Resignation nachgerade verinnerlicht und seien deshalb widerstandsunfähig geworden. Anders als Hilberg, der sich auf amtliche Quellen stützte und auf die Archive der Täter, die den Siegern in die Hände gefallen waren, gründete Lustiger seine Darstellung auf Zeugenberichte und auf Aufzeichnungen der Opfer – private Zeugnisse, die er aufspürte. Das gefundene Material deutete er, ohne sein Entsetzen zu verschweigen – auch darin anders als Hilberg, der Aktenberge mit der Sachlichkeit des Berufshistorikers ausgewertet hatte. Bei aller Kritik an Hilbergs Resignationsthese anerkannte Lustiger jedoch ausdrücklich «die ungeheure Bedeutung» von dessen Forschungen «für die Zeitgeschichte und für uns, die Überlebenden».
Immer wieder monierte Lustiger das Desinteresse der Historiker gegenüber Erinnerungen der Überlebenden: «Viele der etablierten Forscher», erklärte er einmal, «wehren sich doch mit Händen und Füssen dagegen, die Erfahrungen von Zeitzeugen mit in ihre Wissenschaft einzubeziehen, weil deren Erinnerungen zu ungenau seien und deshalb für exakte Wissenschaft ungeeignet.» Er stellte demgegenüber die Erinnerungen der Zeitzeugen in den Mittelpunkt seiner Forschung und betrachtete sie als «notwendige Ergänzung zur normalen Geschichtsschreibung».
Dass Lustiger Privatgelehrter war, beeinträchtigte nicht die Wirkung seiner Bemühungen. Mit seiner These vom jüdischen Widerstand gegen das Naziregime lenkte er die Diskussion über die Judenvernichtung in eine neue Bahn und erfand dabei auch eine neue Art der Geschichtsschreibung, die sich zwischen Dokumentation und Narration bewegt. Lustigers schriftstellerische Strategie war nicht das grossangelegte Forschungsprojekt, sondern die kleine Studie: Aus vielen biografischen Skizzen setzte er ein Gemälde jüdischer Geschichte im 20. Jahrhundert zusammen, das einen Eindruck nicht nur von der Überlebensfähigkeit, sondern auch von der Kampf- und Widerstandsbereitschaft der Juden vermitteln sollte. Vom jüdischen Sozialismus und von der jüdischen Arbeiterbewegung über die jüdischen Freiwilligen im Spanischen Bürgerkrieg und die Aufständischen in den Ghettos von Warschau und Wilna bis hin zu den jüdischen Soldaten in der Sowjetarmee und dem Verhältnis der jüdischen Intellektuellen zu Stalin erzählte Lustiger vom heroischen Kampf der Juden gegen Unterdrückung.
Aber auch denen galt sein Interesse, die den drangsalierten Juden halfen und dabei nicht selten ihr eigenes Leben riskierten. Im letzten Jahr ist bei Wallstein Lustigers umfangreiche Dokumentation dessen erschienen, was er «Rettungswiderstand» nannte. Bis anhin unerschlossene Quellen vor allem aus Osteuropa erzählen von einzelnen Leuten und von kleinen Gruppen, von Städtern und Bauern, von Politikern und Offizieren, von Künstlern und Geistlichen, von Prostituierten und Nonnen, die in Deutschland und in den von den Nazis besetzten Ländern Juden geholfen haben.
[h=4]Das Jiddische[/h] Als historiografischer Essayist ist Lustiger anerkannt, seine literarische Arbeit hingegen wird oft noch verkannt. Seine phonetischen Transkriptionen aus dem Jiddischen waren die Grundlage für Übertragungen ins Deutsche, durch die solche Werke wie «Grosser Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk» von Jizchak Katzenelson und «Jossel Rakovers Wendung zu Gott» von Zvi Kolitz erst bekannt werden konnten. Lustiger war einer der Letzten, die Jiddisch sprachen, jenes Idiom, das auch den Nazis zum Opfer gefallen ist. Nicht zuletzt jiddische Ghetto- und Partisanenlieder galten Lustiger als Beweis eines jüdischen Widerstands, und er trug Wesentliches zur Erschliessung dieses Liedguts bei.
«Sog nit kejnmol as du gehst dem letztn weg», beginnt das Lied von Hirsch Glik aus dem Ghetto Wilna, und es geht so weiter: «chotsch himlen bleiene varstelln bloje teg; / kumen wet noch unser ojsgebenkte scho, / s'wet a pojk ton unser trot – mir senen do!» – «Sag nie nicht, du gehst den allerletzten Weg / Schluckt das Blei im Himmel auch des Tages Licht / Unsre heiss erhoffte Stunde ist schon nah / Trommeln werden unsre Schritte: Wir sind da!» – Arno Lustiger ist am 15. Mai, wenige Tage nach seinem achtundachtzigsten Geburtstag, in Frankfurt am Main gestorben.
Widerstand, keine Ergebung (Kultur, Aktuell, NZZ Online)