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Was stimmt hier nicht?
Von Simon Brunner
Demokratie im Osten, Diktatur im Westen: Der heimliche EU-Wegbereiter Eurovision Song Contest zeigt ein anderes Europa. Sogar die Schweiz ist dabei: als Schurkenstaat.
Der 1956 entstandene Eurovision Song Contest spielt eine «historische Rolle» (The Economist) – weniger in der Musikgeschichte als in der politischen Entwicklung Europas. Ein Jahr vor der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet, sind die Parallelen zwischen Eurovision Song Contest (ESC) und Europäischer Union (EU) nicht zu übersehen. Beide sollten das kriegsgeschädigte Europa einen, beide waren ursprünglich westeuropäischen Ländern vorenthalten, beide orientieren sich seit dem Mauerfall nach Osten.
Die EU zählt heute 25, der ESC 40 Mitglieder (17 davon aus dem ehemaligen Ostblock). Wie in der EU ist eine Müdigkeit der Gründungsmitglieder zu verzeichnen: Italien und Luxemburg sind nicht mehr dabei, weil das Interesse der Bürger abgeflaut ist. Dennoch wird der ESC weiter wachsen, ost- und südwärts (Nordafrika). Etwa 100 Millionen Menschen schauen sich den Contest am Fernsehen jedes Jahr an.
Den Mitgliedern ist es freigestellt, wie sie ihren Kandidaten auswählen und welche Nationalität er hat. Der ESC-Demokratie-Index der Weltwoche unterscheidet drei Klassen: Basisdemokratie (100 Prozent Volkswahl, 17 Länder), expertokratische Demokratie (Jury und Volk gemischt, 16 Länder) und TV-Diktatur (der nationale Rundfunk bestimmt, 6 Länder).
Albanien (1) - Bevölkerung und Fachjury entschieden sich für das Ex-Model Ledina Çelo. Der Song spricht vielen Albanern aus dem Herzen: «Tomorrow I go».
Andorra (2) - Für den kleinen Pyrenäen-Staat ist der Song Contest eine grosse Sache: In einer täglichen TV-Show wurden die 32 Kandidaten vorgestellt, dann folgte ein kompliziertes Verfahren, bis Marie-An Van De Wal als Gewinnerin feststand – eine Holländerin. Wiederum demokratisch wurde anschliessend bestimmt, welchen Song De Wal in Kiew singen muss.
Belgien (3) - In Belgien führt abwechselnd der frankophone und der flämische Rundfunk die Vorentscheidung durch. Heuer waren die Frankophonen an der Reihe. Sie entschieden sich für den Portugiesen Nuno.
Bosnien und Herzegowina (4) - B&H entschied sich via expertokratische Demokratie für eine Girlieband namens Feminnem. Eine kluge Entscheidung: 64,5 Prozent aller Eurovisionsgewinner sind weiblich – obwohl dem Song Contest immer nachgesagt wird, vor allem Homosexuelle anzuziehen.
Bulgarien (5) - Aus Protest gegen die Organisatoren trat das Duo Trifonov&Marinova im Vorentscheidungsfinal nicht auf, es sprach von Schiebung und behauptete, die Gruppe Kaffe gewinne «auf jeden Fall». Was auch geschah. Trifonov&Marinova wurden trotz Abwesenheit Zweite. Beim Vortrag des Siegerliedes buhte das Publikum und verliess grösstenteils die Halle.
Dänemark (6) - Ein Sieg hat die Karrieren von Céline Dion, Udo Jürgens und Abba in Schwung gebracht. Doch bei den Olson Brothers scheint der Erfolg (2000) nicht einmal für den Durchstart im eigenen Land zu reichen. Bei der äusserst demokratischen Vorausscheidung kamen sie dieses Jahr nur auf Platz zwei.
Deutschland (7) - Gracia Baur nahm bereits an «Deutschland sucht den Superstar» teil, wo sie Fünfte wurde. Warum man nicht den Erst-, Zweit- oder Drittplatzierten nach Kiew schickt, ist unklar. Baurs Produzent ist David Brandes, der die Schweizer Vertretung Vanilla Ninjas an die Spitze der Charts gemogelt hat. Die Vorausscheidung soll demokratisch vonstatten gegangen sein.
Estland (8) - Noch eine Girlieband, vom Volk gewählt wie in allen drei baltischen Staaten. Mehr zu Estland unter Schweiz.
Finnland (9) - Finnland gehört zu den erfolglosesten Eurovisionsteilnehmern. Beste Platzierung ist ein sechster Rang – vor 30 Jahren. 503 Finnen meldeten sich dieses Jahr, um in Kiew versenkt zu werden.
Frankreich (10) - Nach Irland das zweiterfolgreichste ESC-Land. Der letzte Erfolg liegt allerdings schon über 25 Jahre zurück. Letzter Gewinnersong auf Französisch: Céline Dion 1988 für die Schweiz («Ne partez pas sans moi»). Das Wahlverfahren ist eine halbdemokratische Interpretation von égalité: Volk 50%, Jury 50%.
Griechenland (11) - Das Fernsehen hat die vollbusige Helena Paparizou ausgewählt, das Volk durfte mitbestimmen, welchen Song sie in Kiew singt. Paparizou ist die Favoritin der Wettbüros und Internetforen und könnte die erste griechische Siegerin werden.
Grossbritannien (12) - 2003 kassierte die englische Delegation erstmals in der Geschichte des ESC ein «nul points»; die BBC versprach als Reaktion auf das nationale Schockerlebnis, das demokratische Auswahlprozedere zu verbessern. Resultat: Javine hüpfte so vor Freude über ihren Sieg in der Vorentscheidung, dass ihr die Brüste aus dem Kleidchen rutschten.
Irland (13) - Der Rekordgewinner (7 Siege) ist im Formtief: Letztes Jahr gab es einen vorletzten Finalplatz, die schlechteste Platzierung je. Das früher so erfolgreiche irische Singer-Songwriter-Konzept kommt in den neuen Ost-Eurovisionsländern nicht gut an. Trotzdem soll es auch dieses Jahr ein demokratisch gewähltes Duett mit einem Liebeslied richten.
Island (14) - Der Trend der Saison ist das Comeback. Für Griechenland, Malta und Zypern starten Performer, die bereits einmal dabei waren. Auch der isländische Rundfunk schickt mit Selma Björnsdóttir die erfolgreichste isländische Eurovisionsteilnehmerin (zweiter Platz 1999) nach Kiew. Das Volk hatte bei der Wahl nichts zu sagen.
Israel (15) - Aussergewöhnliche Bedingung an den israelischen Beitrag: Der Rundfunk IBA verlangte, dass mindestens die Hälfte des Texts Hebräisch ist. Shiri Maimon, Gewinnerin der Volkswahl, weiss, wie man die Massen unterhält. In der Armee war sie bei der Air Force Entertainment Group.
Kroatien (16) - Die traditionelle kroatische Vorausscheidung «Dora» wurde als TV-Schultag inszeniert: Im Fach Kunst mussten die Kandidaten vom eigenen Image sprechen, im Turnen vom Auftreten auf der Bühne, in der Gemeinschaftsstunde von der bisherigen Karriere. Jury und Televoter bestimmten Boris Novkovic feat. Lado Members als Klassenerste.
Lettland (17) - Der basisdemokratisch gewählte Song heisst «The war is not over». Doch politische Songs haben es schwer. Norwegens Anti-Nuklear-Song wurde 16. (1980), Finnlands «Verschrottet die Bomben» (1982) erzielte «nul points». Ausnahme: «Ein bisschen Frieden» errang 1982 den bisher einzigen Sieg für Rekordteilnehmer Deutschland.
Libanon (18) - Die Hitfabrik im arabischen Raum wollte dieses Jahr erstmals teilnehmen. Sängerin und Song wurden von Télé Liban bestimmt, im letzten Moment aber zurückgezogen. Der Grund: Die Eurovisions-Leitung verbot Télé Liban, die ESC-Übertragung während des israelischen Beitrags zu unterbrechen.
Litauen (19) - Auf dem All-Time-Ranking von nul-points.net belegt Litauen, bisher fünfmal Teilnehmer, den letzten Rang. Auch dieses Jahr hinkt man den Trends hinterher und setzt auf den Renner von 2000: Liebeslied. 16 der 24 Songs der damaligen Veranstaltung gingen ans Herz. Eine eindrückliche Strophe des litauischen Songs lautet: «So baby come on hold me tight.»
Malta (20) - Malta hat weniger Einwohner als Genf, aber mehr Kandidaten als Spanien oder die Türkei: 186. Jeder 2000. Malteser bewarb sich für die Eurovision 2005. Klar, durfte auch beim Auswahlverfahren jeder mitmachen.
Mazedonien (21) - «UAAAAAAAAAAAAAUA. We should’ve sent a hot girl to Kiev!», beklagt sich ein Mazedonier in einem Internetforum über die Jurywahl des nicht sehr gut aussehenden Martin Vucic. Die zweitplatzierte Alexandra Pileva wäre sehr schön gewesen und genoss auch den Zuspruch der Bevölkerung, doch die hatte wenig zu sagen. Der Vorwurf der Manipulation kam umgehend.
Moldau (22) - Ein Land hat eine Identität, sobald die Flagge von der eigenen Airline in der Welt spazieren geführt wird. Für die jungen Osteuropäer gilt: Ein Land hat eine Identität, sobald die Flagge auf der ESC-Punkteübersicht auftaucht. Herzlich willkommen!
Monaco (23) - Das Fürstentum braucht keine Eurovision zur Identitätsstiftung, entsprechend stiefmütterlich behandelt man den Singwettbewerb: Dieses Jahr wurde keine Vorausscheidung durchgeführt, der öffentliche Rundfunk bestimmte als Kiew-Kandidatin die Zweitplatzierte vom letzten Jahr.
Niederlande (24) - Als sie 12 Jahre alt war, trat sie mit Audrey Hepburn auf, mit 13 sang sie ein Duett mit Julio Igesias. Jetzt ist Glennis «Amazing» Grace 26 und wartet immer noch auf den Durchbruch. Vor zwei Jahren wurde sie von ihrer Plattenfirma gefeuert. Ihr Song heisst: «My Impossible Dream».
Norwegen (25) - Ein tapferes Eurovision-Verliererland: Schon achtmal wurde man Letzter, viermal gab’s «nul points». Nur ein anderes Land hat so oft keine Punkte erhalten: die Schweiz. Die norwegischen Eingänge werden oft belächelt, nicht zuletzt wegen dem legendären Text des 1968er Songs: «Ma, ma, ma, ma, ma, ma... ga, ga, ga, ga, ga, ga... ha, ha, ha, ha, ha, ha.» Die Wahl dieses Jahr war de, de, de, de, de, demokratisch.
Österreich (26) - Die Vorausscheidungs-Show war so peinlich, dass sogar DJ Ötzi absagte. Das Volk entschied sich für die Band Global Kryner, die Österreich mit einer Mischung aus Folklore, kubanischen Rhythmen und Jazz vertreten. Die Wettquoten verheissen nichts Gutes.
Polen (27) - Gaga-Texte gehören zur Eurovision. «La la la» ist die beliebteste Zeile. Der irische Beitrag 1974 enthielt 78, der von 1982 gar 111 «La». Spanien ist das Mutterland des «La» und gewann 1968 mit 138 Wiederholungen der Silbe. Polens Rundfunk baut das Thema nun aus und schickt einen Song nach Kiew, der hauptsächlich aus «lai lai lai lai» besteht.
Portugal (28) - In Portugal bestimmte der Rundfunk absolutistisch, dass 2B nach Kiew müssen. Vermutlich war die Direktion beeindruckt vom Karaoke-Palmarès des weiblichen Teils des Duos: Luciana hat zwischen 2000 und 2004 jedes Karaoke gewonnen, an dem sie teilnahm.
Rumänien (29) - Man gibt sich siegesgewiss: «Wir sind bereit, einen ESC zu organisieren. Und auch das Wetter ist bei uns besser als in Kiew.» Dafür ist das Auswahlprozedere weniger demokratisch als in der Ukraine – aber dieses ist ohnehin nicht zu toppen (siehe Ukraine).
Russland (30) - Russland wurde dieses Jahr auf dem internationalen Freiheitsbarometer, dem Freedom-House-Index, abgewertet und findet sich jetzt in der illustren Gruppe mit Afghanistan und Ruanda. Auch beim ESC-Auswahlverfahren ging es lange diktatorisch zu und her. Nun wollte der Organisator Channel One erstmals ein demokratisches Televoting durchführen. Von Wladiwostok bis Petersburg wurde «gevotet». Doch Channel One soll nicht alle SMS gezählt und die Performance einer Konkurrentin verfälscht haben.
Schweden (31) - Das Auswahlverfahren ist nur halbdemokratisch, logisch: Müssten die Schweden alle 3000 Anmeldungen anhören und bewerten, wäre ein «ESC-Monat» vonnöten.
Schweiz (32) - Die SRG hat sich dieses Jahr für ein diktatorisches Auswahlverfahren entschieden und die estnische Girlieband Vanilla Ninja als Kandidaten bestimmt. Die Ninjas werden nicht abstürzen wie die demokratisch auserkorenen Piero Esteriore & The Music Stars letztes Jahr, verschiedene Buchmacher führen sie in den Top 5. Vanilla Ninja wollte schon für ihr Heimatland Estland an die Eurovision, doch bei der Vorausscheidung 2003 erreichten sie nur Platz neun.
Serbien und Montenegro (33) - In der gemeinsamen Auswahl bewerteten die vier montenegrinischen Juroren die Favoritin aus Serbien mit: 0, 0, 0, 0. Als Racheakt verweigerte die serbische Presse die Berichterstattung über die Gewinner, die aus Montenegro stammen.
Slowenien (34) - Der Vorzeigestaat des Balkans (Freedom-House-Index: 1) macht seinem Demokratieanspruch Ehre: Als einziges der sechs Balkanländer kriegt es eine Eins auf dem ESC-Index.
Spanien (35) - Spanien ist nicht nur das Mutterland der «La», sondern auch der Casting-Shows als Vorausscheidung für die Eurovision. Seit 2002 qualifizierte sich der Sieger der hyperdemokratischen «Operación Triunfo» für das ESC-Finale. Viele Länder kopierten das Format, die Spanier haben es dieses Jahr wieder abgeschafft.
Türkei (36) - Das Land nimmt seit 30 Jahren teil, gewann aber lange keinen Blumentopf. Erst 2003 hat es mit dem Sieg geklappt. Die Integration der Türkei braucht eben Zeit.
Ukraine (37) - Seit der orange Revolution kann es nicht demokratisch genug sein in Kiew: Die dortige Eurovision-Project-Managerin schreibt der Weltwoche: «Der Beitrag wurde von der ganzen Bevölkerung gewählt. Man muss natürlich berücksichtigen, dass nicht alle Menschen Telefone haben hier, wir können nicht garantieren, dass wirklich alle gewählt haben.»
Ungarn (38) - Der Name der Show für die Vorausscheidung: Eurovíziós Dalverseny Magyar Dönto. Ähnlich kompliziert war das Auswahlverfahren mit verschiedenen Runden, Jury und Volkswahl in bunter Zusammensetzung.
Weissrussland (39) - Der weissrussische Eurovision-Verantwortliche schreibt über den Juryentscheid: «Alle drei Finalisten waren nicht sehr gut (...) Wir entschieden, dass Anzhelicas Performance am Bildschirm am besten aussieht, darum ist sie unsere Wahl.» Anzhelica ist ehemalige Miss Weissrussland, Miss Photo USSR und Miss Russland.
Zypern (40) - Noch ein Comeback: 1996 trat Constantinos Christoforou solo an (Platz 9), 2002 als Mitglied einer Boygroup (Platz 6). Jetzt ist er wieder allein unterwegs. Wie jedes Jahr wird es auch diesmal 12 Punkte von Griechenland geben. Die Fernsehstation hat den Sänger gewählt, das Volk den Song
http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=10955&CategoryID=66
Von Simon Brunner
Demokratie im Osten, Diktatur im Westen: Der heimliche EU-Wegbereiter Eurovision Song Contest zeigt ein anderes Europa. Sogar die Schweiz ist dabei: als Schurkenstaat.
Der 1956 entstandene Eurovision Song Contest spielt eine «historische Rolle» (The Economist) – weniger in der Musikgeschichte als in der politischen Entwicklung Europas. Ein Jahr vor der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet, sind die Parallelen zwischen Eurovision Song Contest (ESC) und Europäischer Union (EU) nicht zu übersehen. Beide sollten das kriegsgeschädigte Europa einen, beide waren ursprünglich westeuropäischen Ländern vorenthalten, beide orientieren sich seit dem Mauerfall nach Osten.
Die EU zählt heute 25, der ESC 40 Mitglieder (17 davon aus dem ehemaligen Ostblock). Wie in der EU ist eine Müdigkeit der Gründungsmitglieder zu verzeichnen: Italien und Luxemburg sind nicht mehr dabei, weil das Interesse der Bürger abgeflaut ist. Dennoch wird der ESC weiter wachsen, ost- und südwärts (Nordafrika). Etwa 100 Millionen Menschen schauen sich den Contest am Fernsehen jedes Jahr an.
Den Mitgliedern ist es freigestellt, wie sie ihren Kandidaten auswählen und welche Nationalität er hat. Der ESC-Demokratie-Index der Weltwoche unterscheidet drei Klassen: Basisdemokratie (100 Prozent Volkswahl, 17 Länder), expertokratische Demokratie (Jury und Volk gemischt, 16 Länder) und TV-Diktatur (der nationale Rundfunk bestimmt, 6 Länder).
Albanien (1) - Bevölkerung und Fachjury entschieden sich für das Ex-Model Ledina Çelo. Der Song spricht vielen Albanern aus dem Herzen: «Tomorrow I go».
Andorra (2) - Für den kleinen Pyrenäen-Staat ist der Song Contest eine grosse Sache: In einer täglichen TV-Show wurden die 32 Kandidaten vorgestellt, dann folgte ein kompliziertes Verfahren, bis Marie-An Van De Wal als Gewinnerin feststand – eine Holländerin. Wiederum demokratisch wurde anschliessend bestimmt, welchen Song De Wal in Kiew singen muss.
Belgien (3) - In Belgien führt abwechselnd der frankophone und der flämische Rundfunk die Vorentscheidung durch. Heuer waren die Frankophonen an der Reihe. Sie entschieden sich für den Portugiesen Nuno.
Bosnien und Herzegowina (4) - B&H entschied sich via expertokratische Demokratie für eine Girlieband namens Feminnem. Eine kluge Entscheidung: 64,5 Prozent aller Eurovisionsgewinner sind weiblich – obwohl dem Song Contest immer nachgesagt wird, vor allem Homosexuelle anzuziehen.
Bulgarien (5) - Aus Protest gegen die Organisatoren trat das Duo Trifonov&Marinova im Vorentscheidungsfinal nicht auf, es sprach von Schiebung und behauptete, die Gruppe Kaffe gewinne «auf jeden Fall». Was auch geschah. Trifonov&Marinova wurden trotz Abwesenheit Zweite. Beim Vortrag des Siegerliedes buhte das Publikum und verliess grösstenteils die Halle.
Dänemark (6) - Ein Sieg hat die Karrieren von Céline Dion, Udo Jürgens und Abba in Schwung gebracht. Doch bei den Olson Brothers scheint der Erfolg (2000) nicht einmal für den Durchstart im eigenen Land zu reichen. Bei der äusserst demokratischen Vorausscheidung kamen sie dieses Jahr nur auf Platz zwei.
Deutschland (7) - Gracia Baur nahm bereits an «Deutschland sucht den Superstar» teil, wo sie Fünfte wurde. Warum man nicht den Erst-, Zweit- oder Drittplatzierten nach Kiew schickt, ist unklar. Baurs Produzent ist David Brandes, der die Schweizer Vertretung Vanilla Ninjas an die Spitze der Charts gemogelt hat. Die Vorausscheidung soll demokratisch vonstatten gegangen sein.
Estland (8) - Noch eine Girlieband, vom Volk gewählt wie in allen drei baltischen Staaten. Mehr zu Estland unter Schweiz.
Finnland (9) - Finnland gehört zu den erfolglosesten Eurovisionsteilnehmern. Beste Platzierung ist ein sechster Rang – vor 30 Jahren. 503 Finnen meldeten sich dieses Jahr, um in Kiew versenkt zu werden.
Frankreich (10) - Nach Irland das zweiterfolgreichste ESC-Land. Der letzte Erfolg liegt allerdings schon über 25 Jahre zurück. Letzter Gewinnersong auf Französisch: Céline Dion 1988 für die Schweiz («Ne partez pas sans moi»). Das Wahlverfahren ist eine halbdemokratische Interpretation von égalité: Volk 50%, Jury 50%.
Griechenland (11) - Das Fernsehen hat die vollbusige Helena Paparizou ausgewählt, das Volk durfte mitbestimmen, welchen Song sie in Kiew singt. Paparizou ist die Favoritin der Wettbüros und Internetforen und könnte die erste griechische Siegerin werden.
Grossbritannien (12) - 2003 kassierte die englische Delegation erstmals in der Geschichte des ESC ein «nul points»; die BBC versprach als Reaktion auf das nationale Schockerlebnis, das demokratische Auswahlprozedere zu verbessern. Resultat: Javine hüpfte so vor Freude über ihren Sieg in der Vorentscheidung, dass ihr die Brüste aus dem Kleidchen rutschten.
Irland (13) - Der Rekordgewinner (7 Siege) ist im Formtief: Letztes Jahr gab es einen vorletzten Finalplatz, die schlechteste Platzierung je. Das früher so erfolgreiche irische Singer-Songwriter-Konzept kommt in den neuen Ost-Eurovisionsländern nicht gut an. Trotzdem soll es auch dieses Jahr ein demokratisch gewähltes Duett mit einem Liebeslied richten.
Island (14) - Der Trend der Saison ist das Comeback. Für Griechenland, Malta und Zypern starten Performer, die bereits einmal dabei waren. Auch der isländische Rundfunk schickt mit Selma Björnsdóttir die erfolgreichste isländische Eurovisionsteilnehmerin (zweiter Platz 1999) nach Kiew. Das Volk hatte bei der Wahl nichts zu sagen.
Israel (15) - Aussergewöhnliche Bedingung an den israelischen Beitrag: Der Rundfunk IBA verlangte, dass mindestens die Hälfte des Texts Hebräisch ist. Shiri Maimon, Gewinnerin der Volkswahl, weiss, wie man die Massen unterhält. In der Armee war sie bei der Air Force Entertainment Group.
Kroatien (16) - Die traditionelle kroatische Vorausscheidung «Dora» wurde als TV-Schultag inszeniert: Im Fach Kunst mussten die Kandidaten vom eigenen Image sprechen, im Turnen vom Auftreten auf der Bühne, in der Gemeinschaftsstunde von der bisherigen Karriere. Jury und Televoter bestimmten Boris Novkovic feat. Lado Members als Klassenerste.
Lettland (17) - Der basisdemokratisch gewählte Song heisst «The war is not over». Doch politische Songs haben es schwer. Norwegens Anti-Nuklear-Song wurde 16. (1980), Finnlands «Verschrottet die Bomben» (1982) erzielte «nul points». Ausnahme: «Ein bisschen Frieden» errang 1982 den bisher einzigen Sieg für Rekordteilnehmer Deutschland.
Libanon (18) - Die Hitfabrik im arabischen Raum wollte dieses Jahr erstmals teilnehmen. Sängerin und Song wurden von Télé Liban bestimmt, im letzten Moment aber zurückgezogen. Der Grund: Die Eurovisions-Leitung verbot Télé Liban, die ESC-Übertragung während des israelischen Beitrags zu unterbrechen.
Litauen (19) - Auf dem All-Time-Ranking von nul-points.net belegt Litauen, bisher fünfmal Teilnehmer, den letzten Rang. Auch dieses Jahr hinkt man den Trends hinterher und setzt auf den Renner von 2000: Liebeslied. 16 der 24 Songs der damaligen Veranstaltung gingen ans Herz. Eine eindrückliche Strophe des litauischen Songs lautet: «So baby come on hold me tight.»
Malta (20) - Malta hat weniger Einwohner als Genf, aber mehr Kandidaten als Spanien oder die Türkei: 186. Jeder 2000. Malteser bewarb sich für die Eurovision 2005. Klar, durfte auch beim Auswahlverfahren jeder mitmachen.
Mazedonien (21) - «UAAAAAAAAAAAAAUA. We should’ve sent a hot girl to Kiev!», beklagt sich ein Mazedonier in einem Internetforum über die Jurywahl des nicht sehr gut aussehenden Martin Vucic. Die zweitplatzierte Alexandra Pileva wäre sehr schön gewesen und genoss auch den Zuspruch der Bevölkerung, doch die hatte wenig zu sagen. Der Vorwurf der Manipulation kam umgehend.
Moldau (22) - Ein Land hat eine Identität, sobald die Flagge von der eigenen Airline in der Welt spazieren geführt wird. Für die jungen Osteuropäer gilt: Ein Land hat eine Identität, sobald die Flagge auf der ESC-Punkteübersicht auftaucht. Herzlich willkommen!
Monaco (23) - Das Fürstentum braucht keine Eurovision zur Identitätsstiftung, entsprechend stiefmütterlich behandelt man den Singwettbewerb: Dieses Jahr wurde keine Vorausscheidung durchgeführt, der öffentliche Rundfunk bestimmte als Kiew-Kandidatin die Zweitplatzierte vom letzten Jahr.
Niederlande (24) - Als sie 12 Jahre alt war, trat sie mit Audrey Hepburn auf, mit 13 sang sie ein Duett mit Julio Igesias. Jetzt ist Glennis «Amazing» Grace 26 und wartet immer noch auf den Durchbruch. Vor zwei Jahren wurde sie von ihrer Plattenfirma gefeuert. Ihr Song heisst: «My Impossible Dream».
Norwegen (25) - Ein tapferes Eurovision-Verliererland: Schon achtmal wurde man Letzter, viermal gab’s «nul points». Nur ein anderes Land hat so oft keine Punkte erhalten: die Schweiz. Die norwegischen Eingänge werden oft belächelt, nicht zuletzt wegen dem legendären Text des 1968er Songs: «Ma, ma, ma, ma, ma, ma... ga, ga, ga, ga, ga, ga... ha, ha, ha, ha, ha, ha.» Die Wahl dieses Jahr war de, de, de, de, de, demokratisch.
Österreich (26) - Die Vorausscheidungs-Show war so peinlich, dass sogar DJ Ötzi absagte. Das Volk entschied sich für die Band Global Kryner, die Österreich mit einer Mischung aus Folklore, kubanischen Rhythmen und Jazz vertreten. Die Wettquoten verheissen nichts Gutes.
Polen (27) - Gaga-Texte gehören zur Eurovision. «La la la» ist die beliebteste Zeile. Der irische Beitrag 1974 enthielt 78, der von 1982 gar 111 «La». Spanien ist das Mutterland des «La» und gewann 1968 mit 138 Wiederholungen der Silbe. Polens Rundfunk baut das Thema nun aus und schickt einen Song nach Kiew, der hauptsächlich aus «lai lai lai lai» besteht.
Portugal (28) - In Portugal bestimmte der Rundfunk absolutistisch, dass 2B nach Kiew müssen. Vermutlich war die Direktion beeindruckt vom Karaoke-Palmarès des weiblichen Teils des Duos: Luciana hat zwischen 2000 und 2004 jedes Karaoke gewonnen, an dem sie teilnahm.
Rumänien (29) - Man gibt sich siegesgewiss: «Wir sind bereit, einen ESC zu organisieren. Und auch das Wetter ist bei uns besser als in Kiew.» Dafür ist das Auswahlprozedere weniger demokratisch als in der Ukraine – aber dieses ist ohnehin nicht zu toppen (siehe Ukraine).
Russland (30) - Russland wurde dieses Jahr auf dem internationalen Freiheitsbarometer, dem Freedom-House-Index, abgewertet und findet sich jetzt in der illustren Gruppe mit Afghanistan und Ruanda. Auch beim ESC-Auswahlverfahren ging es lange diktatorisch zu und her. Nun wollte der Organisator Channel One erstmals ein demokratisches Televoting durchführen. Von Wladiwostok bis Petersburg wurde «gevotet». Doch Channel One soll nicht alle SMS gezählt und die Performance einer Konkurrentin verfälscht haben.
Schweden (31) - Das Auswahlverfahren ist nur halbdemokratisch, logisch: Müssten die Schweden alle 3000 Anmeldungen anhören und bewerten, wäre ein «ESC-Monat» vonnöten.
Schweiz (32) - Die SRG hat sich dieses Jahr für ein diktatorisches Auswahlverfahren entschieden und die estnische Girlieband Vanilla Ninja als Kandidaten bestimmt. Die Ninjas werden nicht abstürzen wie die demokratisch auserkorenen Piero Esteriore & The Music Stars letztes Jahr, verschiedene Buchmacher führen sie in den Top 5. Vanilla Ninja wollte schon für ihr Heimatland Estland an die Eurovision, doch bei der Vorausscheidung 2003 erreichten sie nur Platz neun.
Serbien und Montenegro (33) - In der gemeinsamen Auswahl bewerteten die vier montenegrinischen Juroren die Favoritin aus Serbien mit: 0, 0, 0, 0. Als Racheakt verweigerte die serbische Presse die Berichterstattung über die Gewinner, die aus Montenegro stammen.
Slowenien (34) - Der Vorzeigestaat des Balkans (Freedom-House-Index: 1) macht seinem Demokratieanspruch Ehre: Als einziges der sechs Balkanländer kriegt es eine Eins auf dem ESC-Index.
Spanien (35) - Spanien ist nicht nur das Mutterland der «La», sondern auch der Casting-Shows als Vorausscheidung für die Eurovision. Seit 2002 qualifizierte sich der Sieger der hyperdemokratischen «Operación Triunfo» für das ESC-Finale. Viele Länder kopierten das Format, die Spanier haben es dieses Jahr wieder abgeschafft.
Türkei (36) - Das Land nimmt seit 30 Jahren teil, gewann aber lange keinen Blumentopf. Erst 2003 hat es mit dem Sieg geklappt. Die Integration der Türkei braucht eben Zeit.
Ukraine (37) - Seit der orange Revolution kann es nicht demokratisch genug sein in Kiew: Die dortige Eurovision-Project-Managerin schreibt der Weltwoche: «Der Beitrag wurde von der ganzen Bevölkerung gewählt. Man muss natürlich berücksichtigen, dass nicht alle Menschen Telefone haben hier, wir können nicht garantieren, dass wirklich alle gewählt haben.»
Ungarn (38) - Der Name der Show für die Vorausscheidung: Eurovíziós Dalverseny Magyar Dönto. Ähnlich kompliziert war das Auswahlverfahren mit verschiedenen Runden, Jury und Volkswahl in bunter Zusammensetzung.
Weissrussland (39) - Der weissrussische Eurovision-Verantwortliche schreibt über den Juryentscheid: «Alle drei Finalisten waren nicht sehr gut (...) Wir entschieden, dass Anzhelicas Performance am Bildschirm am besten aussieht, darum ist sie unsere Wahl.» Anzhelica ist ehemalige Miss Weissrussland, Miss Photo USSR und Miss Russland.
Zypern (40) - Noch ein Comeback: 1996 trat Constantinos Christoforou solo an (Platz 9), 2002 als Mitglied einer Boygroup (Platz 6). Jetzt ist er wieder allein unterwegs. Wie jedes Jahr wird es auch diesmal 12 Punkte von Griechenland geben. Die Fernsehstation hat den Sänger gewählt, das Volk den Song
http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=10955&CategoryID=66