Y
Yunan
Guest
19.09.2011
Neoliberalismus nach Lehman-Pleite
Das unzähmbare Monster
Von Stefan Schultz
DPA
Lehman-Filiale: Verstörendes Experiment
Seit dem Crash der US-Bank Lehman Brothers gilt der freie Markt als gescheitert. Selbst Erzkonservative flirten inzwischen mit dem Sozialismus, der Staat mischt wieder mit. Der Neoliberalismus aber lebt - er hat sich so stark im Finanzsystem eingenistet, dass man ihn kaum noch wegregulieren kann.
Es war ein verstörendes Experiment: Eine Wirtschaftstheorie wird unter realen Bedingungen getestet. Die Politik setzt die Theorie um. Doch das Experiment schlägt fehl - und stürzt die Welt in großes Unglück.
Die Rede ist nicht etwa vom Kommunismus, sondern vom Neoliberalismus. Seit dem Crash der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 hat dieses Denken kein Fundament mehr. Der Glaube "Je weniger Staat, desto besser", die Lehre "Der Markt reguliert sich selbst", die Überzeugung, dass die selbstbestimmten Handlungen aller Individuen sich gegenseitig ausgleichen und die Gesellschaft insgesamt in eine positive Richtung weiterentwickeln - all das ist am 15. September 2008 an der Wirklichkeit gescheitert.
Politisch aber ist der Neoliberalismus noch lange nicht tot. Rund zwanzig Jahre lang hat die Theorie die Finanzpolitik vieler Staaten geprägt, und auch heute noch, da selbst glühende Verfechter des freien Markts sich von ihr abwenden, ist der Neoliberalismus stark. Er hat sich so sehr in den Strukturen der Finanzmärkte festgesetzt, hat das System so stark verändert, dass man ihn nur noch schwer wegregulieren kann.
Wie der Neoliberalismus seine heutige Form bekam
Der Aufstieg des Neoliberalismus begann mit seiner Radikalisierung. In den achtziger Jahren wurde der Begriff erkennbar umdefiniert. Ursprünglich umfasste das Wort eine Reihe verschiedener Denkkonzepte. Neoliberale wie Walter Eucken plädierten etwa für einen ordnungspolitischen Rahmen, der Monopole bekämpft; eine progressiv verlaufende Einkommensteuer wurde verteidigt, und unter gewissen Umständen gar ein Mindestlohn.
Dann kamen Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Der US-Präsident und die britische Premierministerin orientierten ihre Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik stark an einer besonders konsequenten Spielart des Neoliberalismus. Sie assoziierten den Begriff fast ausschließlich mit einem schlanken Staat und einem möglichst freien Markt. Grundlage waren die Konzepte von Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek, die staatliche Eingriffe selbst in Konjunkturkrisen ablehnen.
Seit Mitte der achtziger Jahre ergriff dieser "Freiheit über alles"-Gedanke mehr und mehr Besitz von der Finanzpolitik. 1986 erlaubte Thatcher britischen Banken den Einstieg ins Wertpapiergeschäft. 1999 hob der damalige US-Präsident Bill Clinton die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken auf. Und zum 1. Januar 2004 erlaubte der damalige Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) Hedgefonds in Deutschland das öffentliche Handeln.
In den folgenden Jahren entstand an den deregulierten Märkten eine neue Art Kapitalismus: der Casino-Kapitalismus, der die Finanzmärkte immer stärker von den Gütermärkten abkoppelte. Der Wert aller auf der Welt vorhandenen Güter und Dienstleistungen wird auf 63 Billionen Dollar geschätzt. Das Volumen aller Finanzderivate auf rund 600 Billionen Dollar, also auf gut das Zehnfache.
Wie die freien Finanzmärkte die Gesellschaft zersetzen
Nach und nach erzeugte dieses Finanz-Casino eine gewaltige Blase - die mit der Lehman-Pleite platzte. Der zu freie Markt führte geradewegs in die Katastrophe. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler verglich die Finanzmärkte mit einem Monster.
Die neoliberale Theorie hat seitdem kein Fundament mehr. Zu groß und offensichtlich sind ihre Schwächen und Logik-Lücken: Ihr zufolge hätte die Finanzkrise nie passieren dürfen. Dass die Leidenschaften Einzelner das ganze System an den Rand des Zusammenbruchs führen, ist in der Theorie nicht vorgesehen. Doch in genau einer solchen Krise steckt die Welt seit drei Jahren: Diese Krise hat Millionen Menschen den Job gekostet, hat Staaten an den Rand der Pleite gedrängt und zu herben sozialen Einschnitten gezwungen. Die Welt ist nach dem Lehman-Crash ein Stück unsozialer, ein Stück kälter geworden. Die Uno sieht inzwischen gar die Menschenrechte bedroht .
Besonders jene Länder, die neoliberale Ideale in den vergangenen Jahrzehnten konsequent politisch umgesetzt haben, sind gesellschaftlich stark beschädigt. In England randalierten Anfang August Jugendliche auf den Straßen, um ihrem Frust über eine Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, die die Reichen bevorzugt und den unteren Schichten kaum Aufstiegsperspektiven bietet. In den USA, einer traditionell stark wirtschaftsliberal geprägten Nation, ist die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordhoch. Das Ideal, dass sich der Markt zum Wohl aller selbst reguliert, hat mit der Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen nichts mehr zu tun.
So erdrückend sind diese Realitäten, dass inzwischen selbst der offizielle Thatcher-Biograf mit dem Sozialismus flirtet. "Es zeigt sich - wie die Linke immer behauptet hat -, dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die wenigen bereichert", schrieb Charles Moore Ende Juli im "Daily Telegraph". Kurz darauf legte Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der konservativen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in einem Essay nach: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat."
Märkte kaum regulierbar
Der Staat, den die Neoliberalen zuvor so erfolgreich zurückgedrängt hatten, ist seit der Lehman-Pleite wieder unter Handlungsdruck. Regierungen legten Multi-Milliarden-Pakete auf, um Großbanken zu retten - ausgerechnet jene Unternehmen, die zuvor besonders stark für freie Märkte lobbyiert hatten. Sie legten Multi-Milliarden-Konjunkturprogramme auf, die wenige Jahre vorher kaum denkbar gewesen wären. Die Lehren des Ökonomen John Maynard Keynes sind plötzlich wieder in. Die Lehre vom starken Staat als Manager der Weltfinanzkrise löst die Lehre vom freien Markt ab.
Die Renaissance des Keynesianismus setzt sich bis heute fort. Im traditionell eher neoliberalen Amerika hat Präsident Barack Obama gerade ein neues Konjunkturpaket präsentiert. Zum wiederholten Mal greift die US-Regierung ins Wirtschaftsystem ein - obwohl sie sich das angesichts einer Schuldenquote von fast 100 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung kaum noch leisten kann.
Auch gibt es wieder mehr staatliche Regulierung. In den USA hat das Parlament ein rund 800 Seiten starkes Gesetz zur Zähmung der Finanzmärkte verabschiedet; in Europa wird die Einführung einer EU-weiten Steuer auf alle Finanzgeschäfte erwogen, Banken müssen ihre Geschäfte bald mit weit mehr eigenem Kapital absichern als bisher; und selbst das finanzmarktfreundliche England plant tiefgreifende Reformen.
Kritikern gehen diese Reformen nicht weit genug. In England etwa lässt die Regierung den Geldhäusern bis 2019 Zeit, sich neu aufzustellen. In Amerika werden Großbanken noch immer zu lax überwacht, auch der Handel mit gefährlichen Finanzprodukten wie Derivaten ist nur zum Teil reguliert. Der Kampf von rund 1400 Lobbyisten gegen eine zu starke Zähmung der Märkte hat Wirkung gezeigt.
Der globale Casino-Kapitalismus, das wird nun vielen bewusst, lässt sich nur schwer regeln. Das Hauptproblem ist stets, dass einzelne Staaten bei gewissen Regeln nicht mitmachen wollen, weil sie keine Standortnachteile in Kauf nehmen wollen. Wenn aber die Regulierung nicht überall gleich ist, können Zocker einfach in ein anderes Land umziehen, in dem weniger strenge Gesetze gelten. Um die entgrenzten Märkte wirklich konsequent wieder zu begrenzen, bräuchte es idealerweise eine Weltfinanzregierung.
Diese aber wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Und so mag der Neoliberalismus als Theorie massiv an Bedeutung verlieren - das Finanzsystem aber ist noch immer so von ihm durchdrungen, dass eine angemessene Regulierung enorm schwierig wird.
Neoliberalismus nach Lehman-Pleite
Das unzähmbare Monster
Von Stefan Schultz
DPA
Lehman-Filiale: Verstörendes Experiment
Seit dem Crash der US-Bank Lehman Brothers gilt der freie Markt als gescheitert. Selbst Erzkonservative flirten inzwischen mit dem Sozialismus, der Staat mischt wieder mit. Der Neoliberalismus aber lebt - er hat sich so stark im Finanzsystem eingenistet, dass man ihn kaum noch wegregulieren kann.
Es war ein verstörendes Experiment: Eine Wirtschaftstheorie wird unter realen Bedingungen getestet. Die Politik setzt die Theorie um. Doch das Experiment schlägt fehl - und stürzt die Welt in großes Unglück.
Die Rede ist nicht etwa vom Kommunismus, sondern vom Neoliberalismus. Seit dem Crash der US-Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 hat dieses Denken kein Fundament mehr. Der Glaube "Je weniger Staat, desto besser", die Lehre "Der Markt reguliert sich selbst", die Überzeugung, dass die selbstbestimmten Handlungen aller Individuen sich gegenseitig ausgleichen und die Gesellschaft insgesamt in eine positive Richtung weiterentwickeln - all das ist am 15. September 2008 an der Wirklichkeit gescheitert.
Politisch aber ist der Neoliberalismus noch lange nicht tot. Rund zwanzig Jahre lang hat die Theorie die Finanzpolitik vieler Staaten geprägt, und auch heute noch, da selbst glühende Verfechter des freien Markts sich von ihr abwenden, ist der Neoliberalismus stark. Er hat sich so sehr in den Strukturen der Finanzmärkte festgesetzt, hat das System so stark verändert, dass man ihn nur noch schwer wegregulieren kann.
Wie der Neoliberalismus seine heutige Form bekam
Der Aufstieg des Neoliberalismus begann mit seiner Radikalisierung. In den achtziger Jahren wurde der Begriff erkennbar umdefiniert. Ursprünglich umfasste das Wort eine Reihe verschiedener Denkkonzepte. Neoliberale wie Walter Eucken plädierten etwa für einen ordnungspolitischen Rahmen, der Monopole bekämpft; eine progressiv verlaufende Einkommensteuer wurde verteidigt, und unter gewissen Umständen gar ein Mindestlohn.
Dann kamen Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Der US-Präsident und die britische Premierministerin orientierten ihre Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik stark an einer besonders konsequenten Spielart des Neoliberalismus. Sie assoziierten den Begriff fast ausschließlich mit einem schlanken Staat und einem möglichst freien Markt. Grundlage waren die Konzepte von Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek, die staatliche Eingriffe selbst in Konjunkturkrisen ablehnen.
Seit Mitte der achtziger Jahre ergriff dieser "Freiheit über alles"-Gedanke mehr und mehr Besitz von der Finanzpolitik. 1986 erlaubte Thatcher britischen Banken den Einstieg ins Wertpapiergeschäft. 1999 hob der damalige US-Präsident Bill Clinton die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken auf. Und zum 1. Januar 2004 erlaubte der damalige Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) Hedgefonds in Deutschland das öffentliche Handeln.
In den folgenden Jahren entstand an den deregulierten Märkten eine neue Art Kapitalismus: der Casino-Kapitalismus, der die Finanzmärkte immer stärker von den Gütermärkten abkoppelte. Der Wert aller auf der Welt vorhandenen Güter und Dienstleistungen wird auf 63 Billionen Dollar geschätzt. Das Volumen aller Finanzderivate auf rund 600 Billionen Dollar, also auf gut das Zehnfache.
Wie die freien Finanzmärkte die Gesellschaft zersetzen
Nach und nach erzeugte dieses Finanz-Casino eine gewaltige Blase - die mit der Lehman-Pleite platzte. Der zu freie Markt führte geradewegs in die Katastrophe. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler verglich die Finanzmärkte mit einem Monster.
Die neoliberale Theorie hat seitdem kein Fundament mehr. Zu groß und offensichtlich sind ihre Schwächen und Logik-Lücken: Ihr zufolge hätte die Finanzkrise nie passieren dürfen. Dass die Leidenschaften Einzelner das ganze System an den Rand des Zusammenbruchs führen, ist in der Theorie nicht vorgesehen. Doch in genau einer solchen Krise steckt die Welt seit drei Jahren: Diese Krise hat Millionen Menschen den Job gekostet, hat Staaten an den Rand der Pleite gedrängt und zu herben sozialen Einschnitten gezwungen. Die Welt ist nach dem Lehman-Crash ein Stück unsozialer, ein Stück kälter geworden. Die Uno sieht inzwischen gar die Menschenrechte bedroht .
Besonders jene Länder, die neoliberale Ideale in den vergangenen Jahrzehnten konsequent politisch umgesetzt haben, sind gesellschaftlich stark beschädigt. In England randalierten Anfang August Jugendliche auf den Straßen, um ihrem Frust über eine Gesellschaft Ausdruck zu verleihen, die die Reichen bevorzugt und den unteren Schichten kaum Aufstiegsperspektiven bietet. In den USA, einer traditionell stark wirtschaftsliberal geprägten Nation, ist die Arbeitslosigkeit auf einem Rekordhoch. Das Ideal, dass sich der Markt zum Wohl aller selbst reguliert, hat mit der Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen nichts mehr zu tun.
So erdrückend sind diese Realitäten, dass inzwischen selbst der offizielle Thatcher-Biograf mit dem Sozialismus flirtet. "Es zeigt sich - wie die Linke immer behauptet hat -, dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die wenigen bereichert", schrieb Charles Moore Ende Juli im "Daily Telegraph". Kurz darauf legte Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der konservativen "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", in einem Essay nach: "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat."
Märkte kaum regulierbar
Der Staat, den die Neoliberalen zuvor so erfolgreich zurückgedrängt hatten, ist seit der Lehman-Pleite wieder unter Handlungsdruck. Regierungen legten Multi-Milliarden-Pakete auf, um Großbanken zu retten - ausgerechnet jene Unternehmen, die zuvor besonders stark für freie Märkte lobbyiert hatten. Sie legten Multi-Milliarden-Konjunkturprogramme auf, die wenige Jahre vorher kaum denkbar gewesen wären. Die Lehren des Ökonomen John Maynard Keynes sind plötzlich wieder in. Die Lehre vom starken Staat als Manager der Weltfinanzkrise löst die Lehre vom freien Markt ab.
Die Renaissance des Keynesianismus setzt sich bis heute fort. Im traditionell eher neoliberalen Amerika hat Präsident Barack Obama gerade ein neues Konjunkturpaket präsentiert. Zum wiederholten Mal greift die US-Regierung ins Wirtschaftsystem ein - obwohl sie sich das angesichts einer Schuldenquote von fast 100 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung kaum noch leisten kann.
Auch gibt es wieder mehr staatliche Regulierung. In den USA hat das Parlament ein rund 800 Seiten starkes Gesetz zur Zähmung der Finanzmärkte verabschiedet; in Europa wird die Einführung einer EU-weiten Steuer auf alle Finanzgeschäfte erwogen, Banken müssen ihre Geschäfte bald mit weit mehr eigenem Kapital absichern als bisher; und selbst das finanzmarktfreundliche England plant tiefgreifende Reformen.
Kritikern gehen diese Reformen nicht weit genug. In England etwa lässt die Regierung den Geldhäusern bis 2019 Zeit, sich neu aufzustellen. In Amerika werden Großbanken noch immer zu lax überwacht, auch der Handel mit gefährlichen Finanzprodukten wie Derivaten ist nur zum Teil reguliert. Der Kampf von rund 1400 Lobbyisten gegen eine zu starke Zähmung der Märkte hat Wirkung gezeigt.
Der globale Casino-Kapitalismus, das wird nun vielen bewusst, lässt sich nur schwer regeln. Das Hauptproblem ist stets, dass einzelne Staaten bei gewissen Regeln nicht mitmachen wollen, weil sie keine Standortnachteile in Kauf nehmen wollen. Wenn aber die Regulierung nicht überall gleich ist, können Zocker einfach in ein anderes Land umziehen, in dem weniger strenge Gesetze gelten. Um die entgrenzten Märkte wirklich konsequent wieder zu begrenzen, bräuchte es idealerweise eine Weltfinanzregierung.
Diese aber wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Und so mag der Neoliberalismus als Theorie massiv an Bedeutung verlieren - das Finanzsystem aber ist noch immer so von ihm durchdrungen, dass eine angemessene Regulierung enorm schwierig wird.