Geduld beweisen
In solchen Szenen wird eine Nation sichtbar, die sich auch im diplomatischen Geschäft, das zwischen Betörung und Bedrohung schwebt, um einen moralischen Kompass bemüht. Eine Nation, die kühl abwägend, aber weitgehend ohne Zynismus Außenpolitik macht und deren Glaube an die eigene Stärke längst von dem Wunsch ihrer Verbündeten übertroffen wird, die USA sollten doch bitte am besten die gesamten Probleme der Welt auf einmal lösen, im Alleingang und natürlich streng geheim.
Wer aus den Wikileaks-Depeschen wirklich etwas lernen will, darf sie nicht nach kleinen Skandalen durchsuchen. Sicher wird man da irgendwie fündig. Doch der amerikanischen Außenpolitik wird diese Herangehensweise nicht gerecht.
Um zu verstehen, wie die letzte verbliebene Supermacht unsere Welt sieht, muss man Geduld beweisen und sich durch lange Lageberichte, scheinbar nichtssagende Gesprächsprotokolle und heute längst nicht mehr aktuelle politische Einschätzungen arbeiten. Und dann könnte es einem plötzlich dämmern: Amerikas Bild von dieser Welt ist viel komplexer als unser Bild von Amerika.