Vetternwirtschaft, verschuldete Haushalte, sinkende Wettbewerbsfähigkeit: Verantwortlich für den Verfall der türkischen Lira sind nicht ausländische Kräfte, sondern Erdogans Wirtschaftspolitik.
Von Reinhard Baumgarten, SWR
Der tiefe Fall der türkischen Lira innerhalb weniger Tage ist dramatisch. Gleichzeitig ist er nur die sichtbare Spitze eines riesigen Eisbergs, auf den die türkische Wirtschaft zusteuert. Die Inflation steht derzeit bei 16 Prozent. Sie könnte binnen Jahresfrist auf bis zu 30 Prozent steigen. Der türkische Außenhandel ist seit Jahren im Minus. Gegenwärtig steht das Handelsbilanzdefizit bei rund sieben Prozent des Bruttosozialprodukts.
Türkische Banken und Unternehmen haben fast 470 Milliarden Dollar Auslandsschulden. Der Schuldendienst muss in harter, ausländischer Währung geleistet werden. Wenn die türkische Lira immer weicher und im Vergleich zu Dollar und Euro immer wertloser wird, ist das kaum zu schaffen. Da auch viele private Firmen betroffen sind, wird die Arbeitslosigkeit zunehmen.
Seit seinem Wahlsieg vom 24. Juni ist Recep Tayyip Erdogan gleichzeitig Staats- und Regierungschef - ausgestattet mit beispielloser Macht. Doch selbst wenn er wollte, könnte er die Kollision mit dem Eisberg allenfalls mildern aber keinesfalls verhindern. Denn zu viele Indikatoren deuten auf eine Bruchlandung der lange Jahre als "Tiger am Bosporus" gefeierten Türkei hin.
Drei Säulen der Wirtschaftspolitik
Schuld daran ist maßgeblich die Wirtschaftspolitik des heute 64-Jährigen Erdogan. Diese stützte sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich auf drei Säulen: den privaten Konsum, den Tourismus und die Baubranche. Viele private Haushalte sind mittlerweile hoch verschuldet. Sie müssen den Gürtel enger schnallen. Der Tourismus ist nach dem starken Einbruch von 2016 wieder in Gang gekommen.
Doch während die Besucherzahlen auf jährlich rund 34 Millionen gestiegen sind, verharren die Tourismuseinnahmen bedingt durch Währungsverfall und Billigreisen seit gut zehn Jahren bei etwa 25 Milliarden Dollar pro Jahr. Parallel dazu steckte die öffentliche Hand riesige Summen in den Ausbau der Infrastruktur, die der Tourismusbranche zugutekommen, aber nicht im erhofften Maße zur Steigerung der Wertschöpfung beiträgt.
Die von der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch vom Sommer 2016 veröffentlichten Wachstumsraten von bis zu 6,5 Prozent wirken beeindruckend. Sie täuschen aber darüber hinweg, dass die Wertschöpfung aus eigener Kraft im internationalen Vergleich mit knapp elf Prozent nach wie vor eher gering ist. Hinzu kommt: Die Wettbewerbsfähigkeit der Türkei sinkt seit Jahren. Laut dem Global Competitive Index des World Economic Forum ist die Türkei zwischen 2012 und 2016 von Platz 43 auf Rang 55 von insgesamt 138 bewerteten Ländern gefallen.
Verhängnisvolle Vetternwirtschaft
Erdogans wichtigster Konjunkturmotor ist seit Jahren die Baubranche. Mit immer neuen Großprojekten versucht der Staats- und Regierungschef, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Dabei bedient er sich gerne so genannter PPP-Projekte - Public Private Partnership. Hierbei gehen private Holdings in finanzielle Vorleistung und dürfen dann nach Fertigstellung solange die Einnahmen einstreichen, bis ihre Investitionen plus einer gewissen Gewinnmarge ausgeglichen sind.
Bei privat vorfinanzierten Projekten wie der dritten Bosporusbrücke wurden viel zu hohe Gewinnerwartungen festgeschrieben. Der Staat muss die Differenz zwischen Gewinnerwartung und tatsächlichem Gewinn ausgleichen. Die privaten Holdings betreiben die Vorfinanzierung über ausländische Kredite. Laut Zahlen der Weltbank stehen die vier Holdings Limak, Cengiz, Kolin und MNG mit annähernd 140 Milliarden Dollar bei ausländischen Kreditgebern in der Kreide. Diese und andere Holdings im Energiesektor sowie in der Medienbranche gelten als eng mit der AKP und Präsident Erdogan verbandelt. Erdogans Kritiker sprechen von einer verhängnisvollen Vetternwirtschaft.
Investoren wenden sich ab
Zu der sich beschleunigenden Inflation kommt nun auch ein auf rund 25 Prozent angestiegener Produzentenpreisindex hinzu. Konkret heißt das: Wer in der Türkei Waren fertigt, muss aufgrund des drastischen Währungsverfalls deutlich höhere Preise für Rohstoffe, Investitionsgüter und Halbfabrikate bezahlen.
Etliche ausländische Investoren haben der Türkei in den vergangenen zwei Jahren den Rücken gekehrt. Ausschlaggebende Gründe dafür waren nicht zuletzt Präsident Erdogans Griff nach der totalen Macht und daraus entstehende Rechtsunsicherheiten. Ein sich möglicherweise verschärfender Konflikt mit den USA dürfte potenzielle Investoren weiter verunsichern und noch viele Jobs in der Türkei kosten.