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Meinung 27.05.14
Präsidentenwahl
Die Ukrainer, geeint und erwachsen
Das Votum der Menschen fiel klarer aus als erwartet. Eindrücke von der Wahl in Kiew zeigen: Aus einer apolitischen postsowjetischen Masse ist eine Gemeinschaft selbstbewusster Bürger geworden. Von Inga Pylypchuk
Foto: REUTERS In Demut zur Wahl: Ukraines Premier Arsenij Jatseniuk (ganz links) wartet wie alle anderen darauf, seine Stimme abgeben zu können
Als mein Flugzeug bereits zur Landung in Kiew angesetzt hatte, brach plötzlich ein Gewitter los. Die Blitze zuckten in furchterregend kurzen Abständen auf, lautes Donnern dröhnte am Himmel. Eine Sitznachbarin staunte über dieses Naturspektakel mit weit geöffneten Augen. "So oft kann es doch gar nicht blitzen. Sind das vielleicht Bombenexplosionen?", fragte sie sich.
Alle lachten, und in diesem Lachen war auch eine Spur Galgenhumor zu spüren. Denn im Luftraum über der Ukraine schienen dieser Tage selbst solche brutalen Szenarien möglich. Kriegerisches Vokabular hat einen neuen, erschreckenden Realitätsbezug in der Alltagskommunikation bekommen. Das Flugzeug wurde schwer durchgeschüttelt. Nach vierzig Minuten konnten wir endlich landen. Doch die Turbulenzen waren damit nicht vorbei.
An jeder Ecke, bei jeder Fernsehsendung und Pressekonferenz, in den Bussen und in den Taxis, in den Büros und in den Klubs waren die Ukrainer vor der Wahl damit beschäftigt, ihr Land, das auseinanderzufallen drohte, zusammenzuhalten. Und damit auch all den Ängsten zu widerstehen – vor dem Krieg, vor Blutvergießen, vor dem Tod, ja, vielleicht auch vor Bombenexplosionen. Das war eine schwere tagtägliche psychologische Arbeit.
Sind dafür Menschen gestorben?
Die Angst hat die Ukrainer aber auch geeint. Das haben sie mit dem Wahlergebnis deutlich gezeigt. Mit rund 55 Prozent Zustimmung für Petro Poroschenko, die ihm einen Sieg bereits im ersten Wahlgang bescheren, haben die Ukrainer eine pragmatische, ausgewogene Entscheidung getroffen. Sie haben gezeigt, dass sie ein klares Ziel vor Augen haben: die Gewalt im Osten des Landes so schnell wie möglich zu stoppen. Das trauen sie nur einem starken, handlungsfähigen Politiker wie Poroschenko zu.
Diese Entscheidung war ein Kompromiss, der den Ukrainern nicht leichtgefallen ist. Ich sah meine Freunde und Bekannte wochenlang zweifeln: Verraten wir nicht den Maidan, wenn wir einen Oligarchen zum Präsidenten wählen? Haben wir dafür viele Monate bei eiserner Kälte auf den verschiedenen Maidanen des Landes verbracht? Was bleibt von den Forderungen des Volkes nach absolut neuen Gesichtern in der Politik, nach neuen Regeln? Wo ist die Garantie dafür, dass ausgerechnet dieser Kandidat, der bereits die verschiedensten politischen Lager repräsentierte, nun die hohen Erwartungen des ukrainischen Volkes erfüllen kann?
Und die wohl heikelste Frage: Was würden die Männer, die in den grausamen Februartagen ihr Leben für die neue Ukraine opferten, dazu sagen? Ich sah Menschen diskutieren und streiten, ich stritt und diskutierte mit. Petro Poroschenkos Sieg ist eine Wahl, die aus der Not der Stunde getroffen wurde, sie ist aber keinesfalls eine Niederlage der Revolution. Die Maidan-Bewegung hat bereits die Zivilgesellschaft und die Medien gestärkt, auch in der Politik wird sie noch Früchte tragen. Es braucht nur Zeit. Am Sonntag wollte und musste die Ukraine aus den Kandidaten wählen, die zur Wahl standen.
Keine Spur von nationalem Kitsch
Doch der Geist des Maidans ist nicht verflogen. Und der Tag der Wahlen selbst war der beste Beweis dafür. Die Ukrainer strömten in die Wahllokale wie noch nie zuvor, wie die Statistiken belegen. Ich selbst stand zwei Stunden in der Schlange und konnte es kaum glauben, wie erwachsen wir als Volk geworden sind, wie entschlossen wir in großer Hitze stehen bleiben, um unsere vier Kreuze auf den Wahlscheinen zu machen – für den Präsidenten, für den Bürgermeister von Kiew und zweimal für die neue Stadtverwaltung nach einem gemischten System – also für eine Partei und für einen bestimmten Kandidaten.
Die Frauen trugen moderne leichte Kleider mit folkloristischen Motiven und Kränze – und diese ganze Symbolik enthielt keine Spur von nationalem Kitsch, vielmehr war sie ein Zeichen der Einheit in diesen schweren Zeiten, ein Plädoyer dafür, die Wahl als ein Fest zu feiern. Denn sie ist ein vorübergehender Sieg über das verlogene Regime von Viktor Janukowitsch.
Und auch ein Sieg über die Politik Wladimir Putins, die ständig behauptet, die Ukraine sei nur ein Vorhof Russlands und habe keine eigene Identität und somit kein Recht auf Selbstbestimmung. Vielleicht war es auch ein kleiner Sieg über die Korruption – einige sagten, finanziell lohne es sich nicht mehr, bei den Wahlen zu arbeiten, denn man könne nicht mehr wie früher mit Bestechungsgeldern rechnen.
Auch alte Menschen wollten nicht zu Hause abstimmen, was sie eigentlich gekonnt hätten – mit Rollatoren und ukrainischen Fahnen kamen sie, um an der Feier der Wahl teilzunehmen. Wir alle haben uns aus einer apolitischen postsowjetischen Masse zu einer Gemeinschaft von Bürgern gewandelt. Bürger eines Landes, die über ihre Zukunft nachdenken, die nach einer gemeinsamen Lösung suchen.
Mein Kandidat hat nicht gewonnen
Es ist bedauerlich, dass so wenige Wahllokale im Osten geöffnet werden konnten. Aber auch dort gab es Menschen, die sich trotz Todesangst in die Wahllokale trauten. All die Propaganda, all dieser Hass, der die Menschen in Ost und West daran hindert, sich in die Augen zu schauen, schienen an diesem Tag, zumindest in einigen Städten der Ukraine, überwunden zu sein.
Und als am Abend das russische Fernsehen mithilfe eines durchsichtigen Tricks den Eindruck zu erwecken versuchte, bei den Wahlen in der Ukraine werde Dmytro Jarosch von der nationalistischen Partei Rechter Sektor gewinnen, während in Wirklichkeit Petro Poroschenko alle Hochrechnungen deutlich anführte, konnte man über diese dreiste Lüge nur noch lachen.
Auch ich habe an diesem Tag meine Stimme abgegeben. Mein Kandidat hat die Wahl nicht gewonnen, aber ich bin mit der Entscheidung der Mehrheit zufrieden. Am meisten stolz macht mich aber die Tatsache, dass, unabhängig davon, wer Präsident wird, die Ukrainer viel wacher, viel bewusster, viel entschiedener geworden sind. Viel europäischer, könnte man auch sagen.
Man kann nur hoffen, dass sie künftig nicht mehr alles mit sich machen lassen. Sie wissen nun, was es heißt, die Initiative zu ergreifen und für eigene Rechte zu kämpfen. Es ist ein schönes Gefühl, ein Teil dieses zu sich selbst findenden Volkes zu sein. Gerade in diesen turbulenten Zeiten.
"Welt"-Autorin Inga Pylypchuk wurde in Kiew geboren, wuchs dort auf und lebt seit sechs Jahren in Berlin.
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Mythos Neurussland
Putin erzählt von der der Heimholung Neurusslands, jenen ehemals russischen Gebieten im heutigen Osten der Ukraine. Doch was ist Neurussland? Die Gebiete um Charkiw, Donezk, Luhansk, bis an das Schwarze Meer! Das sagt jeder eifrige Verehrer Putins. Ach ist das so? Was Putin als Neurussland bezeichnet, hat nicht umsonst den Namenszusatz Neu. Der alte Name ist Dyke Pole, wildes Feld. Ein Gebiet das sich einst von Odessa über die Krim bis nach Rostow erstreckte und vom Osten bis Norden die heutige Grenze der Ukraine um gute 50 bis 200 Kilometer überragte. Bei Kursk und Sumy verlief die Grenze des Gebietes dann südlich von Kyiv nach Tscherkassy und im Westen am Fluss Dnister wieder nach Odessa. Es sind Gebiete der ukrainischen Steppe die durch Ausweitung des Zarenreiches erobert wurden. Gehalten durch einige wenige Garnisonsstädte lebte die ukrainische Bevölkerung bis 1920 weitgehend ungestört. Erst durch den bolschewistischen Terror und Stalins Hungersnot wurde das Gebiet von Ukrainern befreit und mit Menschen aus der ganzen Sowjetunion, vornehmlich aber mit Russen besiedelt. Eine
ethnografische Karte aus Frankreich von 1918 zeigt eindrucksvoll, wie weit sich die Siedlungsgebiete der Ukraine damals in den Osten erstreckten.
Ebenfalls auf der Karte zu sehen ist, dass Ukrainer und Tataren trotz jahrhundertelanger Fremdherrschaft die Mehrheit auf der Krim darstellten. Erst durch die bolschewistische Revolution, Vertreibung der Krimtataren 1944 und militärische Nutzung kippte das Verhältnis im Laufe der Jahrzehnte. Putins Reden von russischer Geschichte auf diesem Boden ist also nur ein propagandistisches Mittel seine wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen beim eigenen Volk mit einer völkischen Idee beliebter zu machen. Und das leider mit Erfolg. Sollte Putin also weiterhin die russische Bevölkerung im Osten der Ukraine zu Separation und Gewalt anstacheln, so ist eine Kettenreaktion nicht auszuschließen. Putin will uneingeschränkten Zugang zum Schwarzen Meer, doch wenn die Situation weiter eskaliert verliert er nicht nur die Krim wieder. Die noch existente ukrainische Bevölkerung im Südwesten Russlands könnte zu den selben Mitteln greifen, wie die Russen in der Ukraine. Rostow und das Einzugsgebiet des Kuban um Krasnodar wären dann aus russischer Sicht in Gefahr. Dort leben mehrheitlich ukrainischstämmige Russen und Kosaken, welche für einen wirtschaftlichen Aufschwung bereit wären, die Grenzen neu zu ziehen. Putins völkische Idee könnte also nach hinten losgehen, weil er nicht bedacht hat, dass diese auch in Russland greifen könnte. Und das, obwohl es im Kaukasus seit Jahrzehnten knallt.
http://www.thebavaroukrainian.com/2014/05/18/mythos-neurussland/