"Man hätte Milošević das Kosovo wegnehmen sollen"
Der Leiter des ehemaligen serbischen Rechtsteams vor dem IGH geht von einem Präzedenzfall aus
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Aktuell - Montag 26 Juli 2010 -
Wahlen und Macht
Tibor Varady im Interview mit EurActiv.de
"Man hätte Milošević das Kosovo wegnehmen sollen"
Ist der Internationale Gerichtshof (IGH) mit seiner Kosovo-Entscheidung der zentralen Frage aus dem Weg gegangen? Tibor Varady, ehemaliger Leiter des serbischen Rechtsteams vor dem IGH, erklärt im Interview mit EurActiv.de, warum es sich beim Kosovo doch um einen Präzedenzfall für andere Staaten handelt, und wie man schon vor Jahren eine Lösung hätte finden können.
ZUR PERSON
Tibor Varady ist Mitglied des Ständigen Schiedshofs in Den Haag.
Er trat in elf Fällen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) als Berater und Bevollmächtigter auf und ist ehemaliger Leiter des serbischen Rechtsteams vor dem IGH.
Seit 1999 ist er Professor an der Emory School of Law in Atlanta, Georgia.
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EurActiv.de: Wie unzufrieden sind Sie dem IGH-Gutachten zum Status des Kosovo?
VARADY: Aus beruflicher Perspektive bin ich ein wenig unzufrieden. Ich glaube, dass die Mehrheit des Gerichts einen sehr spitzfindigen Fokus gefunden hat, der enger gefasst ist als das eigentliche Problem. Lassen Sie mich das erklären: Eines der zentralen Argumente auf Seiten des Kosovo ist das des Selbstbestimmungsrechts. Dem steht Serbiens Argument der territorialen Integrität des Staates gegenüber. Dies sind die beiden sich gegenüberstehenden zentralen Argumente.
Das Gericht hat entschieden, dass es diese nicht als relevant betrachten werde. Stattdessen konzentrierte es sich nur auf den Text der Unabhängigkeitserklärung. Dies ist ein wenig schwierig, da der Text selbst ohne Kontext keine Bedeutung hat. Den Kontext kann man nicht einfach wahrnehmen ohne das Selbstbestimmungsrecht, ohne die territoriale Integrität zu berücksichtigen. Das Gericht hat außerdem ausdrücklich erklärt, dass es die Frage, ob eine solche Erklärung Staatlichkeit produzieren könne, nicht behandelt. Aber die Absicht der Erklärung ist die Erzeugung von Staatlichkeit. Vermutlich um eine Mehrheit in einer sehr schwierigen Situation zu finden, hat das Gericht den Fokus so radikal verengt, so dass ich fürchte, dass keine Antworten auf die eigentlichen Fragen gegeben wurden.
IGH-Richter: Keine zufriedenstellende Antwort
Das Problem von dem ich spreche wurde in der Erklärung des (IGH-)Richters Bruno Simma eindeutig gewürdigt. Zwar stimmte er mit der Mehrheit, erklärte jedoch, dass "durch eine übermäßige Beschränkung der Bandbreite seiner Analyse, das Gericht die gestellte Frage nicht in zufriedenstellender Manier beantwortet hat." Richter Simma betonte auch, dass die enge Interpretation der Frage "jegliche Berücksichtung der wichtigen Frage, ob das internationale Recht einen Anspruch auf die Erklärung der Unabhängigkeit zulassen oder vorhersehen kann, wenn gewisse Bedingungen erfüllt sind, von der Analyse des Gerichts ausschließt."
EurActiv.de: Außenminister Guido Westerwelle erklärte, dass der Entscheid die deutsche Sicht stärke, dass die territoriale Integrität ein unabweisbarer Fakt ist. Stimmt das dann nicht?
VARADY: Die territoriale Integrität war ein Schlüsselargument Serbiens. Ich frage mich, ob Minister Westerwelle das gemeint haben könnte. Das Gegenargument Kosovos war das Recht auf Selbstbestimmung. Aber im Wesentlichen hat das Gericht sehr deutlich gemacht, dass die Selbstbestimmung nicht im Fokus seiner Prüfung liegt. Es verdeutlichte, dass es nicht berücksichtigen würde, ob eine solche Erklärung Staatlichkeit produziere. Dies waren jedoch die zentralen Argumente. Diese sehr spitzfindige Entscheidung hat es geschafft, Schwierigkeiten, aber auch der zentralen Frage aus dem Weg zu gehen.
Ringen um eine Einigung
EurActiv.de: Medienberichten zufolge haben Sie von Manipulation gesprochen...
VARADY: Das ist ein Wort, das ich nicht verwenden würde. Ich weiß nicht, wie das Gutachten entstanden ist und ich würde gerne das positive Bild von dem Gericht beibehalten, das ich über viele Jahre hinweg erlangt habe. Ich glaube nicht, dass man von Manipulation sprechen kann. Was ich mir vorstellen kann ist, dass es ein monatelanges Ringen darum gab, zu einer Form von Einigung zu kommen. Als man endlich zu einer Einigung gefunden hatte, war sie so formell und eng, dass sie die Essenz der Frage, die dem Gericht gestellt wurde, wirklich nicht beantwortet hat.
EurActiv.de: Welche nächsten Schritte wird Serbien unternehmen, insbesondere hinsichtlich einer UN-Resolution zur Eröffnung von neuen Gesprächen?
VARADY: Es ist ziemlich klar, dass das Gutachten Kosovo einen besseren strategischen Ausgangspunkt liefert als Serbien. Darüber besteht kein Zweifel. Jedoch bietet der enge Fokus auch Serbien Raum zum Manövrieren. Ich glaube auch, dass es einen Wettkampf um die Auslegung des Gutachtens geben wird. Angesichts der Tatsache, dass das Gericht beschlossen hat, den Fokus so sehr zu verengen, ist es glaube ich logisch, dass es einen Konflikt bei der Interpretation geben wird. Ich nehme an, dass Serbien irgendeine Initiative vor die Vereinten Nationen bringen wird.
Neutralisierender Effekt serbischer Initiativen?
EurActiv.de: Ist eine Resolution zu Gesprächen über den Status des Kosovo wahrscheinlich?
VARADY: Das müssten sie Politiker fragen. Ich sage lediglich, dass eine Initiative wahrscheinlich ist. Ich habe wirklich keine Meinung dazu, ob es wahrscheinlich ist, dass eine solche angenommen wird.
EurActiv.de: Wird das Gutachten dazu führen, dass mehr Staaten Kosovo anerkennen?
VARADY: Ich glaube, dass die Initiaitive und die Frage, die von der Generalversammlung formuliert wurde, mit Sicherheit das Tempo der Anerkennung verlangsamt haben. Die Anzahl der Länder, die das Kosovo anerkennen, befindet sich noch deutlich unter 50 Prozent der Mitgliedstaaten der UN. Wenn die Entscheidung irgendeinen Effekt hat, wird sie wahrscheinlich zu einem Anstieg der Anerkennung führen. Serbien wird einige diplomatische Initiativen anstoßen und wir werden sehen, ob das einen neutralisierenden Effekt haben kann. Aber an sich ist das Gutachten mit Sicherheit mehr pro Anerkennung als dagegen. Gleichzeitig könnten Länder argumentieren, dass die eigentliche Frage nicht beantwortet wurde. Rumänien hat bereits erklärt, dass es die Staatlichkeit des Kosovo nicht anerkennen wird, und dass das Gutachten es vermieden hat, bezüglich der Frage eine Position zu beziehen, ob die Erklärung zu einem neuen Staat geführt hat oder nicht.
"Die Bürde wurde auf die post-Milošević Regierungen gewälzt"
Lassen Sie mich das in einen breiteren Kontext setzen und eine Sache erwähnen, die ich wirklich nicht verstehe: Wenn es das Konzept eines Unabhängigen Kosovo gab, ist es wirklich seltsam, dass das Kosovo Milošević nicht weggenommen wurde. Es fällt mir schwer, das zu verstehen, da dies zu einer vollkommen anderen Situation im Balkan geführt hätte. Stattdessen wurde die Bürde auf die neuen, fragilen, post-Milošević Regierungen gewälzt; von ihnen wurde erwartet, zu der Erschaffung eines unabhängigen Kosovo beizutragen. Das ist politisch offensichtlich unmöglich. Wäre das Kosovo Milošević weggenommen worden, hätten die neuen Regierungen wahrscheinlich ihr Missfallen über die vollendeten Tatsachen kundgetan, aber das wäre es gewesen. Stattdessen hatte man die Resolution 1244, die das Kosovo eindeutig als autonome Region in Serbien darstellt. Es ist wirklich schwer zu verstehen, warum solch ein Ansatz gewählt wurde.
EurActiv.de: Was halten sie von Serbiens angeblichen Plänen eines Gebiestausches mit Kosovo?
VARADY: Ich glaube, dass eine ausgehandelte Lösung eine gute Idee gewesen wäre und es immer noch ist. Ein Gebietstausch - oder wahrscheinlicher eine Gebietsteilung - könnte eine solche ausgehandelte Lösung sein. Aber ich muss Sie an Folgendes erinnern: Das Signal, das Serbien von der EU und den Vereinigten Staaten gegeben wurde war, dass es Verhandlungen geben werde. Sollten diese nicht erfolgreich sein, würden sie die Unabhängigkeit des Kosovo trotzdem anerkennen. Dies war sicherlich kein Anreiz für die kosovo-albanische Seite zu verhandeln, da sie wussten, dass sie einen hunderprozentigen Sieg einfahren würden, sollten die Verhandlungen scheitern. Es ist schade, dass es nie wirkliche Verhandlungen gab. Es würde sicherlich zu mehr Stabilität führen, wenn solche Erfolg hätten. Heute ist es wahrscheinlich um einiges schwieriger als vor einigen Jahren, als diese Gelegenheit verpasst wurde.
EurActiv.de: Im
EurActiv.de-Interview erklärte kürzlich ein ehemaliger UN-Diplomat, dass er es für unwahrscheinlich hält, dass Serbien ganz offensichtlich eigenes Territorium aufgeben wirderweiterung-und-partnerschaft/artikel/kosovo-bleibt-in-einem-stammeskonflikt-gefangen-003397.
VARADY: Hierzu kenne ich keine Details. Der Punkt, den ich machen möchte ist der, dass irgendeine Art von verhandelter Lösung - basierend entweder auf Territorium oder auf einem anderen Prinzip - gesund wäre. Ich möchte aber hinzufügen, dass dies sehr schwierig ist.
"Ermutigung sezessionistischer Bestrebungen ist sicher"
EurActiv.de: In Bosnien drohen Serben nun auch mit ihrer Abspaltung. Wie wirkt die IGH-Entscheidung auf derartige Bestrebungen aus?
VARADY: Ich glaube nicht, dass dies an sich zu Veränderungen führen wird, aber es wäre sicherlich ein starkes Signal an die Radikalen in Bosnien, die die Abspaltung wollen. Aber noch viel mehr wäre es eine große Ermutigung für Abchasien, Ossetien, das Baskenland. Das Argument, dass dies kein Präzedenzfall sei, ist nicht plausibel. Man kann den IGH nicht außerhalb der Welt der Konsistenz ansiedeln. Der IGH ist ein bedeutender Teil von Konsistenz. Es hat schon immer Bemühungen gegeben, unangenehme Dinge aus dem Bereich der Relevanz zu schieben. Manchmal wurde dies durch geographisce Verlagerung erreicht, wie in Guantanamo - wo wir sehr deutlich eine Verletzung von internationalem Recht sehen. In diesem Fall gibt es die Bestrebung, die Dinge logisch zu verlagern, indem man sagt: es ist kein Präzedenzfall. Ich glaube, solche Dinge funktionieren nicht und können es auch nicht. Es gibt ein internationales System des internationalen Rechts, welches immer globaler wird.
EurActiv.de: Der serbische Außenminister Vuk Jeremić erklärte, dass keine Grenze der Welt mehr sicher wäre (
EurActiv.de vom 22. Juli 2010).
VARADY: So weit würde ich nicht gehen. Es ist aber wirklich schwer, dies nicht als Ermutigung für ähnliche Situationen aufzufassen. Wenn man eine Position des IGH hat (trotz des technisch engen Fokus'), werden die Kosovo-Albaner - und sicherlich nicht nur sie - versuchen, sie so zu interpretieren, dass sie eine wesentlich breitere Relevanz hat. Wieviel Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit wird dies unterstützen, wie groß wird die Ermutigung sein? Das lässt sich schwer abschätzen. Für mich ist jedoch sicher, dass es zu einiger Ermutigung sezessionistischer Bestrebungen führen wird.
Interview: Daniel Tost
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