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«Küstendorf» in den Bergen Serbiens

Krajisnik

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Belgrad/Berlin. Wenn Emir Kusturica Witze macht, steckt meistens mehr dahinter. Der bosnische Regisseur sitzt mit zerzaustem Haar auf einem der vielen Sofas in seinem Wohnzimmer. Seine Stimme ist angekratzt.




Die Nacht in den eigenen vier Wänden kam gerade recht nach einem privaten Auftritt mit seiner Band, dem «No Smoking Orchestra». Kusturica lässt den Blick über die Berglandschaft im bosnisch-serbischen Grenzland ziehen. Nicht Belgrad, die Hauptstadt seiner Wahlheimat Serbien, schon gar nicht sein Geburtsort Sarajevo ist Kusturicas Zuhause. Auf der Post, die sich auf dem kleinen Tisch unter dem Panoramafenster mit der traumhaften Aussicht stapelt, steht eine andere Adresse: Küstendorf.

Rund 200 Kilometer südwestlich von Belgrad hat sich Kusturica nicht nur ein eigenes Haus, sondern gleich ein ganzes Dorf gebaut. Wer aus der Hauptstadt nach viereinhalb Stunden Autofahrt über Dörfer, Landstraßen und ungezählte Schlaglöcher bei stechender Sonne in Küstendorf ankommt, wird zumindest den Namen des Ortes für einen Scherz halten - wenn nicht sogar den ganzen Anblick des versprengten Grüppchens von hölzernen Dächern in den Bergen für eine balkanische Fata Morgana: Mit einer Küste hat Küstendorf, 700 Meter über dem Meer und rund 150 Kilometer von der Adria entfernt, so viel zu tun wie Kreuzberg mit den Alpen. Für den Bauherrn und Namensgeber Kusturica ist es dennoch eine ernste Angelegenheit.

Hier will der 50 Jahre alte Bosnier künftig nicht nur wohnen. Küstendorf soll vielmehr ein «Ort der Kultur und der Wissenschaft» werden. Vom kommenden Frühjahr an plant Kusturica Seminare, deren Teilnehmer den Ort mit Leben füllen sollen. Die Pläne für die Kurse reichen von Kino über Sport und Handwerk bis hin zu Nuklearphysik. Die Idee sei ihm während der Dreharbeiten zu seinem neuen Film «Das Leben ist ein Wunder» gekommen, berichtet Kusturica, der 1985 («Papa ist auf Dienstreise») und 1995 («Underground») die Goldene Palme von Cannes gewann. Er zeigt auf ein kaum zu erkennendes Gebäude am gegenüber liegenden Berghang: den Bahnhof von Sargan-Vitasi. «Von dort habe ich diesen Ort gesehen, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, dass es ihn gibt: die Insel inmitten der Berge.»

Im Dorf riecht es überall nach frischem Holz: Die zentrale Promenade, etwa 150 Meter lang, ist wie mit Kopfstein aus quer zersägten Eisenbahnschwellen gepflastert. Zu beiden Seiten reihen sich wie in einem Wildwestdorf hölzerne Bauten: der Empfang, eine Cafeteria, Kusturicas Wohnhaus mit Bibliothek und einem Schwimmbad sowie das unterirdische Kino auf der rechten, ein kleiner Shop, Galerie und Restaurant auf der linken Seite. Hinter der Kirche, die den Fluchtpunkt der Promenade bildet, spannt sich scheinbar ohne Übergang das weite Panorama der Berge. Tatsächlich verbergen sich weiter unten am Hang noch einmal ein halbes Dutzend Hütten, an denen zum Teil noch gebaut wird. Die Dächer leuchten fast weiß in der grellen Sonne, Fenster und Türen heben sich in bunten Farben ab.

«Die Leute kommen schon allein wegen der Schönheit des Ortes», sagt Kusturica. Zurzeit ist Küstendorf noch nicht von Künstlern und Wissenschaftlern, sondern ausschließlich von Touristen bevölkert. Ganze Busladungen sind es an den Wochenenden, und selbst für Schulklassen aus der Umgebung ist der Ort ein beliebtes Ziel geworden. Kusturica, dessen Filme in Serbien einem breiten Publikum bekannt sind und der trotz seiner bosnischen Herkunft den Status eines Nationalhelden genießt, traut sich wegen des Trubels kaum auf die Straße. «Die Leute würden mich umbringen», sagt er mit einem entschuldigenden Lächeln.

Für «Das Leben ist ein Wunder» baute Kusturica zunächst gemeinsam mit der staatlichen Eisenbahngesellschaft eine alte Dampfeisenbahnlinie aus den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wieder auf: die «Acht von Sargan», deren schmalspurige Trasse in der Form einer Acht die Bergstation Sargan-Vitasi mit dem Bahnhof von Mokra Gora im Tal verbindet. «Bevor wir mit der Eisenbahn und dem Film hierher kamen, war die Gegend praktisch Niemandsland zwischen Bosnien und Serbien», erinnert sich Kusturica. Dann kam das Dorf hinzu, und gemeinsam mit der Bahn wurde es zur touristischen Attraktion.

«Es ist ein bisschen wie Fitzcarraldo», sagt Kusturica in Anspielung auf Werner Herzogs aberwitziges Film-Abenteuer über das Vorhaben, mitten im peruanischen Dschungel ein Opernhaus zu errichten. «Aber wer hätte gedacht, dass «Fitzcarraldo» vier Stunden von Belgrad jedes Wochenende tausende Besucher anzieht, die einfach die Schönheit des Ortes genießen wollen?»

Dass Kusturica ein Faible für das Irrationale und Romantische hat, ist aus seinen Filmen bekannt. Auch in «Das Leben ist ein Wunder» mischen sich emotionale und tiefernste Studien über die Liebe in Zeiten des (bosnisch-serbischen) Krieges mit grotesk-surrealen Einfällen, wie sie im europäischen Autorenkino wohl einzigartig sind. In Küstendorf - er spricht es «Kus-Ten-Dorf» mit Betonung auf jeder Silbe - kann Kusturica seinen Hang zur Romantik voll ausleben. «Es ist besser, im Stehen zu sterben, als auf Knien zu leben», steht in spanischer Sprache auf seinem beigefarbenen T-Shirt mit dem Antlitz Che Guevaras.

Mit seinem gerade schulterlangen dunklen Haar, Fünf-Tage-Bart und melancholischem Blick ist der Künstler dem Helden der kubanischen Revolution fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Dazu passt die kubanische Musik, die - wenn auch etwas blechern - aus den Lautsprechern entlang der Promenade dringt: Guantanamera mitten im serbischen Gebirge.

Zur Folklore gehören auch die Herzen und Blumenmuster, die als Motiv immer wieder auftauchen: als Bemalung auf Tischen und Stühlen genauso wie als Holzarbeit in Zäunen und Geländern. Im Café, mit seiner großzügigen Terrasse ein gemütlicher Ort, gibt es neben Wasser nur natürlich zubereitete Getränke: Kaffee, hausgemachte Limonade, Saft und Bier. Markennamen oder Werbebotschaften sind nirgends zu sehen. «Wir werden alle vom globalen Markt und der Firmenwelt beherrscht», sagt Kusturica und gerät dabei ein wenig in Rage: «Wenn ich in irgendeine Bar gehe, gibt es 50 verschiedene alkoholische Getränke und 750 andere. Und wofür soll das gut sein? Für nichts!»

Küstendorf sei in seiner Einfachheit und Bescheidenheit ein Gegenentwurf zu den Entscheidungszwängen, die den Menschen tagtäglich von der Firmenwelt auferlegt werden. Und durch die Reaktionen der Besucher sieht er sich bestätigt. Er dreht seinen Blick in Richtung einer Besuchergruppe, die gerade aus dem Kino kommt. «Schauen Sie sich an, wie glücklich die Leute sind, wenn sie hier herkommen.»

In dem unterirdischen Kinosaal, der rund 100 Besucher fasst, hatte im vergangenen September «Das Leben ist ein Wunder» Premiere. Kusturica wollte den Bewohnern von Mokra Gora und den umliegenden Dörfern zuerst die Möglichkeit geben, den Film zu sehen. «Es hat mich berührt, wie sie sich für die Gelegenheit fein gemacht hatten - als würden sie zum Arzt gehen», erinnert er sich. Heute läuft ein Video aus einer ganz anderen Kunst: «Die 120 besten Tore von Maradona» - ein Verweis auf Kusturicas aktuelles Projekt, ein Filmporträt über die argentinische Fußball-Legende.

Zurück im grellen Tageslicht stoßen die Besucher direkt auf das schönste Bauwerk in Küstendorf, die Kirche. Benannt ist sie - wie die Kathedrale in Belgrad - nach St. Sava, dem ersten serbischen Erzbischof aus dem 13. Jahrhundert. Unter dem vierfach gestaffelten Dach verbirgt sich ein Raum, in dem man sich kaum bewegen kann, wenn mehr als fünf Personen zugleich das Innenleben von St. Sava erkunden wollen. Besonders vor der kunstvoll geschnitzten Ikonostase mit den golden hintermalten Abbildern der christlich-orthodoxen Heiligen drängen sich die Besucher. Vor kurzem fand hier die erste Hochzeit statt.

In der Enge des Gotteshauses verkauft ein Händler für 10 Dinar - etwa zwölf Cent - kleine Kerzen. Die Gläubigen entzünden sie in einer mit Sand gefüllten Schale zu Ehren des Heiligen Sava. Eine Auswahl von Heiligenbildchen und verschiedenfarbigen Holzketten mit Kreuzamuletten gehört ebenfalls zum Sortiment. Doch der Mann bietet nicht nur Ware mit religiösem Bezug an. Für 1500 Dinar ist auch eine serbische Nationalflagge zu haben.

Politische Symbolik und die Betonung nationaler Identitäten sind seit den kriegerischen Auseinandersetzungen im vergangenen Jahrzehnt nicht aus dem Alltag des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien wegzudenken - nicht einmal in Küstendorf, das bei aller Abgeschiedenheit nur wenige Minuten von der Grenze zu Bosnien und nicht einmal 50 Kilometer von Srebrenica entfernt liegt. Der UNICEF- Botschafter Kusturica macht kein Geheimnis daraus, dass es auch ihm um die Bewahrung der Kultur und der Identität seiner Wahlheimat geht. «Jugoslawien steht zum Verkauf», sagt er. «Und die Frage ist, wie man nicht alles verliert.»

So sei die Region um Küstendorf von einer britischen Firma bedroht, die dort Nickel abbauen will - mit negativen Folgen für Umwelt und Gesundheit, wie Kusturica befürchtet. Das zu verhindern, sei seine Mission. «So lange ich lebe und so lange ich etwas zu sagen habe, werde ich alles tun, damit sie diesen wunderschönen Ort nicht zerstören.» Küstendorf ist Kusturicas Antwort auf die Globalisierung.

Wenn es um Politik geht, ist Kusturica allerdings nicht nur als Romantiker bekannt. Seine als pro-serbisch verstandenen Äußerungen zum Balkan-Konflikt haben ihn über das frühere Jugoslawien hinaus zu einer umstrittenen Person gemacht. Regelmäßig sieht er sich mit den Vorwürfen konfrontiert, er sei ein Nationalist, seine Filme - vor allem «Underground» - serbische Propaganda. Kusturica wartet die Frage zu diesem Thema gar nicht erst ab und übernimmt offensiv seine eigene Verteidigung. «Man kann kein Nationalist sein, wenn man seine Filme mit Millionen Menschen auf der ganzen Welt teilt», lautet eine der Antworten, die er längst parat hat.

In Küstendorf zeigt sich aber zumindest seine Nähe zur serbischen Regierung. Den Boden, auf dem der Ort steht, hat Kusturica vom Staat zur kostenlosen Nutzung erhalten, Ministerpräsident Vojislav Kostunica kam zuletzt zur Premiere von «Das Leben ist ein Wunder» in das Dorf. Einen zweifelhaften Ruf genießen andere Figuren aus Kusturicas Umfeld: etwa Aleksandar Tijanic, Propagandaminister unter Slobodan Milosevic und heute Chef des Staatsfernsehens, der frühere Geheimdienstchef Jovica Stanisic, oder der Literat Matija Beckovic, der als einer der glühendsten großserbischen Nationalisten gilt.

So ist Kusturica nicht nur in seinen Filmen, sondern auch im richtigen Leben ein Meister der Verwirrung. Das betrifft nicht zuletzt auch den Namen seines Dorfes. Während er selbst ausschließlich von «Küstendorf» spricht, ist der Ort in Serbien eher als «Etno-selo» (Ethnodorf) oder - nach dem Berg, auf dem das Dorf steht - als «Mecavnik grad» bekannt. Warum also der deutsche Name? «Es ist mein Tribut an die deutsche Kultur, die ich sehr schätze», sagt Kusturica, der auch mit Peter Handke befreundet ist. Kurios, aber auch typisch für den unbequemen Künstler, ist sein zweites Argument: Weil Deutschland in den vergangenen 150 Jahren traditionell mit Serbien verfeindet gewesen sei, stelle ein deutscher Name mitten in Serbien eine Provokation dar. «Eine positive Provokation», wie Kusturica findet.

Nicht zuletzt gefalle ihm der irreführende Hinweis auf die Küste. «Es soll beides sein: witzig und ernst», sagt er und macht eine kurze Pause. «Wie immer bei mir», fügt er schließlich mit einem zufriedenen Lächeln und ein bisschen Stolz in der Stimme hinzu. Vielleicht ist Küstendorf auch einfach «Kustu-Dorf» - Kusturicas Dorf.
 
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