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Albanien ist allen voraus

skenderbegi

Ultra-Poster
Balkanische Avantgarde

Unbeachtet von der Welt findet in Albanien eine politische Umwälzung statt. Vertreter der Bürgergesellschaft steuern wichtige Regierungsgeschäfte. Der zum Minister avancierte Aktivist Erion Veliaj übt den Gang durch die Institutionen.

Um es gleich klarzumachen: Diese Geschichte handelt weder von Blutrache noch von organisierten Kriminellen oder Schwurjungfrauen. Es gibt auch Erfreuliches aus Albanien zu vermelden. In diesem Fall trägt das Gute einen Vor- und einen Nachnamen: Erion Veliaj, Minister für Jugend, Arbeit und soziale Wohlfahrt der Republik Albanien, im Amt seit August. Seine Person steht beispielhaft für ein Konzept, das Demokratie-Experten, Diplomaten und Aktivisten auf dem Balkan vorantreiben und für das sie nach einem Vierteljahrhundert mit unzähligen Workshops und Konferenzen stets nur jenen seltsamen Fachterminus kennen: Ownership.
Die Leute verärgern

Besitz oder Eigentümerschaft lautet die Übersetzung von «ownership». Und genau daran mangelte es dem zehnjährigen Erion, als er sich im Sommer 1991 mit seinem Onkel über die grüne Grenze nach Nordgriechenland absetzte. Der Vater war kurz zuvor an Krebs gestorben, seine Mutter, Shqiponja, hatte den Buben ihrem Bruder anvertraut. Damals verliessen die Albaner in Scharen ihr während über vier Jahrzehnten hermetisch abgeschlossenes Land, kaperten Schiffe zur Überfahrt nach Italien oder gingen zu Fuss nach Süden. Alles war besser als die Heimat, wo das System kollabiert war, die Bevölkerung hungerte und Chaos herrschte.
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Der kleine Erion kehrte schliesslich zur Mutter nach Tirana zurück, lernte in der Schule wie ein Besessener und ergatterte als 17-Jähriger ein mageres Uni-Stipendium in den USA. Als 19-Jähriger kam er zurück, engagierte sich in Nordalbanien im Auftrag einer amerikanischen NGO für die Kosovo-Flüchtlinge und blieb im Milieu der globalisierten humanitären Hilfe hängen, was ihn nach Kongo-Kinshasa, El Salvador, Südafrika und Rwanda führte. Als 24-Jähriger kehrte der polyglotte Uni-Absolvent nach Tirana zurück, wo ihm der Sinn nach etwas stand, wofür er eine englische Redensart wählt: «ruffle the feathers» – in übertragenem Sinne: die Leute verärgern.
«Erion Veliaj von der albanischen Jugendbewegung Mjaft! (Genug!) nannte als grösstes Problem die Apathie der Mehrheit, die nicht mehr glaube, etwas verändern zu können», stand am 3. November 2004 in dieser Zeitung in einem Bericht aus Bern über die Stärkung der Bürgergesellschaft durch die Osteuropa-Hilfe des Bundes. Titel des Artikels: «Die Bürger müssen ihren Staat selbst formen». Zehn Jahre später ist dieser Prozess in Albanien in vollem Gange. Für Schlagzeilen sorgt er nicht.
Seine besten Freunde hat Albanien nicht in Europa, sondern in den USA. Das kleine, von Bunkern übersäte Bergland an der Adria öffnete im Frühling 1999 den amerikanischen Truppen seine Tore, um als Auffangstation für albanische Flüchtlinge und Nachschubbasis für die Operation zur Vertreibung der serbischen Armee aus Kosovo einen Beitrag zu leisten. Die Dankbarkeit der Albaner den USA gegenüber sitzt seither tief. Albanien entsandte Soldaten in den Irakkrieg, nahm als erstes europäisches Land Häftlinge aus dem Gefangenenlager Guantánamo auf und stand Washington auch sonst stets treu zu Diensten. In dieser Tradition erschien es als selbstverständlich, dass Albanien im letzten Herbst die aus Syrien ausgeschafften Chemiewaffen annehmen und fachgerecht zerstören würde. Das Land hatte darin Erfahrung. Im Jahr 2007 war das eigene Arsenal an C-Waffen, akquiriert zu Zeiten der Herrschaft Enver Hoxhas, mit amerikanischem (und schweizerischem) Fachwissen zerstört worden. Doch dann trat das Unglaubliche ein: Die Albaner sagten Nein, wollten keine syrischen C-Waffen im Land und stürzten die im Sommer gewählte Regierung des Sozialisten Edi Rama in arge Verlegenheit.
Es war das Beste, was Rama und seinen Leuten geschehen konnte, sagen in Tirana rückblickend auch jene Leute, die der neuen Regierung kritisch gegenüberstehen. Dem Nein vorausgegangen war eine der grössten Demonstrationen, die Albanien je erlebt hatte und die in einem Umzug vor die amerikanische Botschaft gipfelte. Es sammelte sich im Zentrum Tiranas eine Riesenmenge – Islamisten, Grüne, Anhänger der abgewählten Demokraten, Schwule, Junge und Alte –, um eines klarzumachen: Wir sind nicht länger der Abfalleimer Europas. Einer der Organisatoren des Massenprotests stellt es so dar: «C-Waffen sind nichts anderes als Sondermüll.» Er weiss, wovon er spricht. Als Aktivist kämpfte er während Jahren gegen den Import von italienischem Hauskehricht. Effiziente Unterstützung in seinem Kampf erhielt er von der 2004 gegründeten Organisation Mjaft, einer studentisch geprägten Gruppierung, die mit unkonventionellen Mitteln die Reichen und Mächtigen provozierte und auch nicht davor zurückschreckte, das skrupellose Schleppergeschäft mit seinen Routen über die Adria anzuprangern.
Zehn Jahre später besetzt eine Reihe der einst führenden Köpfe von Mjaft Kabinettsposten – mit sichtbarem Resultat. Als eine ihrer ersten Handlungen erliess Ramas Regierung ein Verbot für jeglichen Import von Müll. Und ausgerechnet dann kam die Anfrage aus Washington. Was tun? Rückblickend sieht es Minister Veliaj so: «Das ist Demokratie: Ausgleichen zwischen Interessen von Freunden und Anliegen von Bürgern.» Der Ministerpräsident selbst stellt es so dar, dass er über die Freisprechanlage seines Telefon mit dem amerikanischen Aussenminister verbunden war und gleichzeitig im Hintergrund die lärmenden Demonstranten zu hören waren.
Politik als Schmutzgeschäft

Eine Regierung, die dem Druck der Strasse nachgibt, steht in balkanischem Verständnis als Verliererin da. Ansehen, Macht und Reichtum sind hier untrennbar verbunden. Die vonseiten der EU postulierte Bürgernähe ist fremdes Gedankengut in einer Gesellschaft, die jegliche Politik als unvermeidliches, aber schmutziges Geschäft erduldet und auch weltoffene Zeitgenossen zum Schluss kommen lässt: Typen wie Veliaj sind Verräter. In ihrer Sicht der Dinge kann nicht sein, was sich derzeit in Albanien abspielt. Nämlich eine Reform des Systems von innen.
«Diese Leute verändern die Strukturen nicht», sagt eine Universitätsprofessorin, denn auch Minister hätten in diesem Land nur begrenzten Einfluss. Sekundiert wird sie von dem für seine Gradlinigkeit bekannten Journalisten Gjergj Erebara: «Man kann dem System beitreten, aber es lässt sich nicht verändern.» Kategorisch in ihrer Ablehnung der neuen Regierung sind, was nicht verwundert, die Parteigänger des abgewählten letzten Regierungschefs, Sali Berisha. Er, der einst Enver Hoxha mit ärztlichem Rat versah, erlitt im letzten Juni eine vernichtende Wahlniederlage. Was Rama zu bieten habe, sei alles nur Form ohne Inhalt, sagt einer von Berishas ehemaligen Ministern. Etwas milder äussert sich der Kopf der Online-Publikation «Res Publica», Mustafa Nano. Er will erst einmal abwarten und die neuen Leute an ihren Taten messen.
Exzentrischer Nonkonformist

Nano sagt dies ausgerechnet an jenem Ort, wo die Taten des Edi Rama sichtbarer nicht sein könnten, in einem einladenden Grand-Café im Stadtpark an der Ecke der Ibrahim-Rugova-Strasse und des Bulevardi Zhan D'Ark. Da, wo heute satter Rasen, schattige Bäume, Parkbänke und ein Teich zum Verweilen einladen, standen vor 15 Jahren Kioske, Imbissbuden, Kleincasinos und Verkaufsstände, alles dicht gedrängt. Der öffentliche Raum im Zentrum Tiranas war nach dem Zusammenbruch des Systems von Zuzügern aus allen Landesteilen überbaut worden.
Es war Edi Rama, der dem wilden Treiben ein Ende bereitete. Im Jahr 2000 zum Bürgermeister Tiranas gewählt, machte er sich auf, Albaniens graue Hauptstadt umzukrempeln. Er, der in Paris Kunst studiert und gelehrt hatte, verlieh ganzen Strassenzügen eigenwillige Farbkonzepte, liess illegale Bauten reihenweise abreissen, auch im Stadtpark, und gefiel sich mit dem Zitat, Politik sei nichts mehr als eine andere Form von Kunst. Ein Spinner? Das sagten seine Feinde. Mit Fassadenmalerei lasse sich kein Staat erneuern. War es Neid ob der internationalen Aufmerksamkeit, die dem hünenhaften Bürgermeister zuteil wurde? Vielleicht. Rama jedenfalls erklärte sein Tun damit, bei der Stadtbevölkerung Besitzerstolz wecken zu wollen. Wer sich als Teil seiner Umgebung fühle, der trage dafür mehr Sorge. Das tönte banal – aber es funktionierte. Die Stadt hat ihr explosionsartiges Wachstum, eine Vervierfachung der Bevölkerung innert zwanzig Jahren, vergleichsweise gut bewältigt.
Rama wurde vor neun Jahren zum Chef der Sozialisten gewählt, der einstigen kommunistischen Staatspartei. Ein exzentrischer Nonkonformist in Albaniens nationaler Politik? Das kann nicht gut kommen, lautete damals das Urteil ausländischer Beobachter. Der selbstbewusste Kunstmaler trat auf nationaler Ebene zunächst mit verbalen Kraftmeiereien in Erscheinung. Seine Tiraden wiederum liessen den für seine cholerischen Anfälle gefürchteten Berisha zu Höchstform auflaufen, was zwar Unterhaltungswert bot, aber die aus Brüssel entsandten EU-Funktionäre nachhaltig enttäuschte. Seither fordern sie von Albaniens Politikern unablässig «kooperativen gegenseitigen Umgang». Ihnen entgeht, dass Albaniens Volksvertreter nach dem Systemwechsel vor allem eine Lektion sehr rasch begriffen haben: The winner takes it all.
Und weil dem so ist, gilt für albanische Politiker vor allem eines: das Rampenlicht suchen. «Man kann nie genug Information bieten», sagt Veliaj, der fleissig twittert und über Facebook seine Wähler laufend am ministeriellen Alltag teilnehmen lässt. Sie bestürmen ihn ihrerseits mit Anfragen, oft Hunderte pro Tag. Mails beantwortet der Minister persönlich bis spät in die Nacht. «Transparenz bedeutet hier, dass man nichts zu verstecken hat», sagt er. Diesen Beweis gelte es täglich zu erbringen.
An einem Freitagmorgen hält Edi Rama im Zentrum Tiranas vor einer frisch renovierten Villa in italienischem Kolonialstil eine flammende Rede über die Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit. In dem schmucken Gebäude werden die Akten von 12 700 ehemaligen politischen Gefangenen verwaltet. Sie warten seit Jahren auf Kompensationszahlungen des Staates (siehe Kasten). So wie es der Ministerpräsident gelobt, verspricht auch sein für dieses Dossier verantwortlicher Vorredner Erion Veliaj eine speditive Bearbeitung dieser Altlast. Nach dem Ende der Reden werden die Kameras abgeschaltet, keinem der vielen Fernsehreporter fällt es ein, die vor den Toren der Villa zahlreich ausharrenden und gut hörbar murrenden ehemaligen Gefangenen auszufragen. Im Unterschied zu Rama, der nach dem offiziellen Auftritt im Tross mit schwarzer Limousine entschwindet, lässt sich Veliaj auf die ihn bedrängenden, armselig gekleideten älteren Männer ein und hört sich ihre Sorgen an, ohne dass sich die Reporter dafür interessieren.
«Es sind einzelne Personen, die Strukturen verändern», sagt Pandeli Majko beim Kaffee im Hotel Rogner, dem Angelpunkt österreichischer Gastlichkeit in Albanien. Der Sozialist Majko war 1998 im Alter von 30 Jahren zum Ministerpräsidenten ernannt worden, hielt sich im Amt während eines Jahres, kehrte später nochmals kurz als Regierungschef zurück, bis er im Machtgerangel den Kürzeren zog. Seither haftet dem freundlichen Mann das Image des Verlierers an, womit er aber gut zu leben scheint. Er nimmt für sich in Anspruch, Erion Veliaj bei den Sozialisten eingeführt zu haben. 2000 Parteidelegierte davon zu überzeugen, dass dieser junge Mjaft-Aktivist in ihre Reihen passe, sei ein Kraftakt gewesen. Schliesslich hatten Veliaj und seine Mitstreiter mit ihren Sponti-Aktionen alte Parteikader bis zur Weissglut gereizt. Ein Generationenwechsel, wie ihn auch andere ehemalige kommunistische Staatsparteien durchgemacht haben?
Nein, sagt Remzi Lani, es handle sich hier um eine Strukturveränderung. Als einer der Vaterfiguren von Albaniens Bürgergesellschaft ist Lani vorsichtig im Urteil. Er verweist darauf, dass sich die Präsidentschaft, die Justiz und die Armee immer noch unter der Kontrolle von Berishas Demokraten befänden. Wenn Rama nun Ernst mache mit der Reform aller Institutionen und korrupte Beamte und Richter entlasse, gerate er unweigerlich in Konflikt mit geltendem Gesetz und mit den aus Brüssel entsandten EU-Diplomaten, die buchstabengetreues rechtsstaatliches Vorgehen einfordern. Tatsächlich hatte die EU Albaniens Begehren nach dem Status eines Beitrittskandidaten im letzten Dezember abgelehnt, weil es mit der Rechtsstaatlichkeit noch hapere.
Doch was ist Rechtsstaatlichkeit? Knochenarbeit und Fachkompetenz, sagt Veliaj beim Kaffee an einem Samstagmorgen am Konferenztisch in seinem Büro. Als er das Amt übernahm, stiess er auf den Fall eines Dorfes mit über hundert Bezügern von Invalidenrenten. Zu Beginn der Wahlkampagne im Vorjahr waren in demselben Dorf lediglich drei Personen als behindert registriert. Ein krasser Fall von Stimmenkauf und jenem politischen Klientelismus, wie er auf allen Ebenen des Systems funktioniert. Veliajs neuer und ihrerseits körperbehinderter Stellvertreterin obliegt es nun, die gesamte Sozialfürsorge zu durchforsten. Nach 200 Tagen im Amt twitterte Veliaj: «80% of Ministry of Social Affairs leadership, agencies and staff are women – explains success of new team.» Ein anderer (übersetzter) Tweet am selben Tag: «Wussten Sie, dass Albanien mehr Ministerinnen, Vizeministerinnen und Parlamentarierinnen hat als jedes andere Land Südosteuropas und was für einen guten Job sie tun?»
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Erion Veliaj in der Chrom-Mine von Bulqize im Norden Albaniens.(Anjeza Hoxha)Das ist Propaganda in eigener Sache und Werbung für die Frauen. Warum tut dies Veliaj? Der Grund dafür ist in seiner ungewöhnlichen Biografie zu suchen. Seine Mutter Shqiponja bricht in Tränen aus, als sie aus ihrem Leben berichtet. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes verlor sie die Stelle beim Staat und stand vor dem Nichts, allein mit zwei Buben in einer chaotischen Stadt, wo kein fürsorglicher Staat mehr da war und jeder auf seine Art zu überleben versuchte. Erion bot auf dem Markt getrocknete Feigen feil, die Verwandte im Dorf geerntet hatten. Sie bedaure es sehr, dass ihr Sohn keine normale Kindheit gehabt habe, sagt die Mutter und schluchzt. Ihr Kummer sitzt tief und erklärt die in ihrer Wohnung lastende Beklemmung. «Er war sehr früh erwachsen», beendet sie das Schweigen.
Gründet der Schmerz von Erions Mutter in Schuldgefühl ihrem Sohn gegenüber? Glaubt die ernste Frau, in ihrer Mutterrolle versagt zu haben? Dabei hätte sie allen Grund zur Freude über ihren erfolgreichen Sohn, von dessen Wirken in aller Welt an die Wohnzimmerwand geheftete Zeitungsausschnitte und Fotos zeugen. Veliaj selbst sieht die Sache unsentimental: «Hiesige Männer sind meistens in irgendwelche politische Intrigen verwickelt. Und sie sind von Natur aus nicht besonders fleissig. Einer unserer Nationaldichter beschrieb schon vor hundert Jahren, wie Frauen die harte Feldarbeit erledigen und Männer sich anderweitig vertun.» – Es sind denn auch vor allem Frauen, die in der vor vier Monaten neu eröffneten Arbeitsvermittlungsstelle gegenüber Veliajs Ministerium die Knochenarbeit leisten. In dem hellen, attraktiv gestalteten Ladenlokal an bester Passantenlage werden Arbeitssuchende von adrett und einheitlich gekleideten Hostessen persönlich empfangen, dann für ein Beratungsgespräch eingetragen oder an die computerisierte Job-Vermittlung verwiesen. Die Beamtinnen wurden bei der Internationalen Arbeitsorganisation ausgebildet und erhielten in Deutschland Einblick ins Funktionieren professioneller Arbeitsbörsen. Die Stellensuchenden sind des Lobes voll über die neue Dienstleistung, die in den ersten Monaten ihres Bestehens für Hunderte von Arbeitslosen in eine bezahlte Beschäftigung mündete. Was vor allem beeindruckt: Hier begegnen sich Vertreter der Obrigkeit und einfache Bittsteller auf Augenhöhe. Der Staat im Dienst der Bürger – das ist neu auf dem Balkan.
Ein jugendlicher Agitator

«Ich bin gleichzeitig im System und ausserhalb», sagt Leart Kola. Er ist etwa gleich alt wie Veliaj, hat schulterlange Haare und sieht so aus, wie man sich einen Berufsjugendlichen vorstellt, was er auch ist. Kola sitzt im Denkzentrum von Veliajs Ministerium, wo er ein Beratermandat innehat. Mit dem Minister verbindet ihn die gemeinsame Zeit als Mjaft-Aktivist. Heute steht er offen dazu, einst vehement gegen jeden Einstieg in die etablierte Politik opponiert zu haben. Als Veliaj und andere Aktivisten eine neue politische Partei gründeten, war er dagegen. Der Versuch scheiterte damals, die Partei blieb bei den Wahlen 2009 chancenlos.
Er sei immer schon Sozialist gewesen, sagt Kola. «Wenn sich das Verhältnis zwischen Bürger und Staat nicht verändert, werden Rama und seine Leute scheitern», prognostiziert er. Aus diesem Grund verdiene Edi Ramas Regierung seine Unterstützung. Nun dient er der Regierung als Agitator, als einer, der die Jungen dafür gewinnen soll, etwas Handfestes zu lernen. Albaniens boomende Branche der Privat-Universitäten produziert Massen von Ökonominnen und Juristen. Dringend benötigt aber würden, so die Bilanz der neu organisierten Arbeitsvermittlungsstelle, gut ausgebildete Fachkräfte in fast allen beruflichen Branchen. Wenn weiterhin alle nur auf einen Job beim Staat hofften, werde jede Regierung stets nur ihre eigenen Klienten bedienen und das Land verharre in Inkompetenz, so Kolas Analyse. Sie bestätigt die Strategie jener in Albanien seit Jahren geleisteten Entwicklungszusammenarbeit, die auf Berufsbildung setzt, und fordert einen neuen Sozialkontrakt zwischen Bürger und Staat. Diesbezüglich besteht berechtigte Hoffnung, etwa in der zwei Autostunden südlich von Tirana gelegenen Küstenstadt Vlora, wo Bürgerproteste Wunder bewirkten.
Dynamit gegen die Bau-Mafia

«Edi Rama gab uns das Meer zurück», jubelt eine gestandene Umweltaktivistin und zeigt auf die Stelle am Sandstrand, wo bis vor kurzem noch ein protziges siebenstöckiges Appartementhaus stand. Dieses und eine Reihe anderer illegal erstellter Gebäude mit «unverbaubarer Meersicht» liess Ramas Regierung fachgerecht sprengen, um wie in Tirana den baulichen Wildwuchs zu beseitigen. Die Neugestaltung von Vloras Uferpromenade wurde international ausgeschrieben. Ein belgisches Architekturbüro gewann kürzlich den Wettbewerb. Wenn alles nach Plan läuft, wird Vlora zur touristischen Perle an der Adria. Ausgerechnet Vlora, wo vor zehn Jahren noch Schnellboote ablegten und verzweifelte Emigranten an bestochenen Grenzpolizisten vorbei an die nahe italienische Küste schleusten. Ausländische Touristen mieden den übel beleumdeten Ort. – Entscheidend war die in der Stadt verankerte Bürgerallianz, eine von Umweltaktivisten und Tourismus-Promotoren getragene Bewegung. Deren Protestaktionen verhinderten vor sechs Jahren einen geplanten gigantischen Industriepark. Das von ausländischen Investoren und einheimischen Profiteuren getragene Vorhaben hätte einen irreversiblen Umweltschaden verursacht und die Adria um eine ihrer letzten unverbauten Buchten beraubt.
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Erion Veliaj mit ehemaligen politischen Gefangenen in Tirana.(Anjeza Hoxha)Der betagte Arzt Hodo Kabello, geistiger Vater des Bürgerprotests, sieht Licht am Ende des Tunnels. Sonntäglich gekleidet zur Ehre des Besuchers, sitzt er in der guten Stube und diktiert: «Die Volksmeinung ist wie ein Hurrikan. Wenn Leute mit den richtigen Ideen den Sturm lenken, dann kommt es gut.» Er, der als Kind gefallener Partisanen des Zweiten Weltkriegs im Waisenhaus aufwuchs und Albaniens totale Isolation unter Enver Hoxha schmerzlich empfand, strahlt Zufriedenheit aus. «In den USA und in Europa beginnt man zu realisieren, dass es existiert, das albanische Volk.»
In Vlora setzte die Bürger-Allianz mehr in Bewegung, als dies gradlinige Politiker je vermocht hätten. Also besser ein Leben lang Aktivist bleiben und die Finger von der schmutzigen Politik lassen? Veliaj kennt den Einwand. «Ich mag kein Zyniker sein», sagt er. Wenn seine Kritiker einen kreativeren Weg wüssten, um das Pensionswesen zu reformieren oder die Sozialdienste zu durchforsten, dann schmeisse er seinen neuen Job sofort hin. Da spricht einer, der zu kämpfen gewohnt ist und auch als Minister immer noch die Mittel des Aktivisten einsetzt: Überraschungseffekt und Medienmacht.
Mediatisierte Provokation

Wie das funktioniert, bewies Veliaj gleich nach Amtsantritt. Am Rande von Tiranas Innenstadt campierte eine Roma-Gemeinschaft von 220 Personen auf dem Trottoir einer Schnellstrasse. Das von ihnen zuvor bewohnte angrenzende Gelände war geräumt worden, um dort neue Wohnbauten zu errichten. Die Lebensbedingungen für die vertriebenen Roma seien extrem hart gewesen, erinnert sich Veliaj, der sich als Minister für Soziales persönlich vor Ort begab. Die Lage war auch schockierend. Veliaj stiess auf den von einem Auto angefahrenen und am Bein schwerverletzten zweijährigen Buben Endon, der mit seiner Mutter im staatlichen Spital abgewiesen worden war, weil man dort, wie ihnen gesagt wurde, keine dreckigen Sinti und Roma behandle.
Veliaj lud Mutter und Buben in seine schwarze Limousine, meldete sich selbst beim Spital als Notfall an und fuhr los, natürlich von einer Kamera begleitet. Chefarzt und Krankenschwestern standen stramm, als der hochrangige Notfallpatient eintraf – und reagierten sprachlos beim Anblick des kerngesunden Ministers und von dessen ungewöhnlicher Begleitung. Die Sache schlug damals hohe Wellen. Roma werden in dem Spital nicht länger diskriminiert, was Albaniens Image förderlich ist und in Brüssel mit Genugtuung verfolgt wird.
Der kleine Endon ist heute wohlauf, seine gut behandelte Verletzung ist ausgeheilt, und er lebt mit allen übrigen Mitgliedern seiner Gemeinschaft in einem Aufnahmezentrum der Armee am Stadtrand. Wird er einst besser leben als seine Vorfahren? Veliaj beantwortet die Frage mit einem Erlebnis aus Rwanda, wo er im Dienste der Uno bei der Aufarbeitung des Völkermords tätig war. «Ich sprach mit Häftlingen, als mich einer fragte, woher ich komme. Sie mussten raten und fanden es nicht heraus. Als sie es erfuhren, waren sie schockiert. Schliesslich sagte einer: ‹Bruder, das tut mir aber sehr leid.› Erst da wurde mir bewusst, wie der schlechte Ruf eines Landes selbst in die Misere anderer Länder eindringen kann. Das ist sehr menschlich. Überall auf der Welt finden Leute Trost im Elend anderer. Albanien soll nicht länger als Trost für andere herhalten müssen. Albanien soll andere dazu inspirieren, selbst aus dem Elend herauszufinden.»
Hoffnung unter den ehemaligen politischen Gefangenen

Vor der renovierten Villa in italienischem Kolonialstil flattern nebeneinander die Fahne Albaniens und jene der EU. In dem herrschaftlichen Anwesen im Zentrum Tiranas werden die Dossiers von insgesamt 12 760 ehemaligen politischen Gefangenen verwahrt. Sie sind gemäss einem Gesetz aus dem Jahr 2007 alle zu finanzieller Kompensation berechtigt. Während der von 1944 bis 1991 dauernden kommunistischen Herrschaft waren gegen 200 000 Albaner in politisch begründeter Gefangenschaft, wo sie unter härtesten Bedingungen Zwangsarbeit leisteten.
Anlässlich der Neueröffnung des Verwaltungsgebäudes versprach Erion Veliaj die sofortige Auszahlung der Entschädigungen an jene Ex-Gefangenen, die bisher noch gar nichts erhalten hatten. Der albanische Staat hat im laufenden Jahr rund 18 Millionen Dollar für diese Auszahlungen budgetiert. Gesetzlich vorgesehen sind individuelle Entschädigungen auf Basis der in Gefangenenlagern verbrachten Zeit. Die Kompensation hätte in acht Etappen bis im Jahr 2015 ausbezahlt werden sollen. Albaniens Umgang mit den einstigen «Systemfeinden» wird in Brüssel genau beobachtet und gilt, wie auch der Schutz ethnischer Minderheiten, als Gradmesser für Rechtsstaatlichkeit.
Im Herbst 2012 trat eine Gruppe ehemaliger Gefangener in den Hungerstreik, um ihre unerfüllten Forderungen durchzusetzen. Während der einmonatigen Protestaktion setzten sich zwei der ehemaligen Gefangenen selbst in Brand, einer von ihnen erlag den Verletzungen. Der unter Druck geratene damalige Regierungschef Berisha bezeichnete die Protestierenden als Abschaum und bezichtigte die Opposition, den Hungerstreik angezettelt zu haben.
Einer der Teilnehmer der Protestaktion, Skender Tufa, erinnert daran, dass derzeit nur noch etwa 2700 der politischen Gefangenen am Leben seien, alle von ihnen hätten durch die Haft bedingte gesundheitliche Probleme. Tufa und seine Mitstreiter warten immer noch auf eine offizielle Entschuldigung des Staates. Immerhin gestehen sie der neuen Regierung guten Willen zu und sagen, die Sozialisten hätten heute ein neues Gesicht. Noch trauen sie Veliajs Versprechen aber nicht, denn, so formulierte es Tufa: «Es gibt keine Ehrlichkeit in der Politik.»

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für die meisten user wird es zu viel text sein ;-)
die die es lesen wollen finde viele wichtige punkte & Ereignisse bezüglich der geschichte & Entwicklung Albanien`s was die letzten 25 jahre betrifft.

Sollte dieser Artikel schon gepostet worden sein so bitte um Entschuldigung....danke

Balkanische Avantgarde: Albanien ist allen voraus - Nachrichten - NZZ.ch
 
Der Bericht stimmt mich zuversichtlich für die Zukunft Deines Landes. Danke, skenderbegi!
 
Genau so habe ich den Text auch empfunden!!! Leider haben solche positiven Berichte/Reportagen häufig keine Chance gegenüber dem alltäglichen Grauen weltweit, aber dennoch machen sie ein wenig Mut...
Warum auch, schlechte Nachrichten fördern das Verlangen auf Popcorn doch mehr!
 
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