"Das Kosovo ist keine Utopie, es ist eine Dystopie", sagt Andrea Capussela. "Das Land ist in den Händen eines autoritären Regimes, das von einer räuberischen Elite kontrolliert wird."
Der Italiener war vier Jahre lang der Kopf der Wirtschaftseinheit der Rechtshilfemission der EU, Eulex. Eulex sollte nach 2008 helfen, einen Rechtsstaat aufzubauen. Sie hat ein jährliches Budget von über 100 Millionen Euro und beschäftigt fast 2000 Menschen, die vor allem gegen Korruption und organisierte Kriminalität kämpfen sollen, es ist die größte Ansammlung von EU-Mitarbeitern außerhalb von Brüssel. Der Jurist gehört zu den schärfsten Kritikern der Rechtsmission. Er hat gerade ein polemisches Buch veröffentlicht, in dem er argumentiert, das Kosovo sei als Staat gescheitert – und somit auch die Außenpolitik der EU. "Eigentlich braucht die EU das Kosovo so wenig wie Montenegro oder Mazedonien. Nur bot sich hier die Möglichkeit einer Intervention, um als globaler Akteur dazustehen."
"Natürlich gehen die Menschen, weil sie keine Arbeit haben", sagt Andrea Capussela. "Aber das hatten sie vor einem Jahr auch noch nicht. Warum begann gerade im Winter 2014 ein solcher Exodus? Ich glaube, sie gingen, weil sie das Vertrauen in das politische System verloren haben", sagt er. "Die Migrationswelle begann genau dann, als die zwei größten Parteien beschlossen, zusammen zu regieren. Das war die Lösung einer sechsmonatigen politischen Krise, aber es zerstörte jede Hoffnung auf Veränderung. Indem sie fortgehen, sagen uns die Kosovaren nicht nur, dass sie keine Besserung erwarten, sondern auch, dass ihr politisches System zu keiner Besserung fähig ist." Und das, obwohl die EU seit dem Krieg 1999 über fünf Milliarden Euro für den Aufbau von Institutionen investiert hat. "Die internationale Intervention ist gescheitert", findet Capussela. "Auch wenn sie auf beispiellose finanzielle und politische Mittel Zugriff hatte, leidet das Kosovo unter den höchsten Arbeitslosen- und Armutsraten der Region." Schlimmer noch, fährt er fort, "das Kosovo ist das einzige autoritäre Regime westlich von Weißrussland, und die Qualität der Regierung hat seit der Unabhängigkeit sogar noch abgenommen."