Erdoğan quälen, Demirtaş wählen
Die prokurdische HDP wird die Parlamentswahl am Sonntag entscheiden. Spitzenkandidat Demirtaş wird gefeiert wie ein Popstar, inzwischen wählen auch Türken den Kurden.
Im Park haben die HDP-Anhänger Fahnen aufgehängt. "Wir kämpfen für die Pressefreiheit" steht auf ihnen, "Freie Frauen" oder "Für eine große Menschlichkeit". Es sind die Wahlkampfsprüche einer Partei, die zwar in der Tradition älterer kurdischer Parteien in der Türkei steht, aber doch neu und anders ist in diesem Land. Und das ist für die Zukunft vielleicht noch wichtiger als die strategische Bedeutung der HPD bei diesen Wahlen.
Vor allem Demirtaş schafft es, sich als echte Alternative zu den anderen Parteien zu präsentieren, zu den alten kemalistischen Eliten der CHP, den neuen islamisch-konservativen Eliten der AKP und den Nationalisten der MHP. Zu all jenen Parteien also, die sehr genau wissen, wie sie die Türkei formen wollen. Die HDP setzt auf Ökologie, Gleichberechtigung und Minderheitenrechte. Sie will die Vielfältigkeit des Landes ernst nehmen, in dem Türken, Kurden, Sunniten, Aleviten und noch viele andere Gruppen miteinander leben.
Das ist auch eine Frage des Stils. Demirtaş schreit nicht, wie es im türkischen Wahlkampf so üblich ist, er heizt dem politisch sowieso schon so aufgeheizten Land rhetorisch nicht noch weiter ein. Er macht Witze über seine Gegner, aber er beleidigt sie nicht. Eine Besonderheit in der Türkei, in der die politischen Lager abgrundtief verfeindet sind.
Demirtas verspottet Erdogan als «Direktor für Eröffnungen»
Istanbul (dpa) - Ob Pferdezuchtzentrum, Mineralwasserfabrik oder Flughafen: Präsident Recep Tayyip Erdogan eröffnet vor der Parlamentswahl in der Türkei alle möglichen Einrichtungen - und muss sich dafür den Vorwurf gefallen lassen, verbotenerweise Wahlkampf zu betreiben. Nun hat der von der Erdogan vielfach geschmähte Oppositionspolitiker Selahattin Demirtas den Präsidenten mit einer «Limonadeneröffnung» auf die Schippe genommen: Bei einem Treffen mit Karikaturisten in Istanbul machte der Ko-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP am Freitag feierlich eine Flasche Limonade auf.
Bereits am Donnerstag hatte Demirtas Erdogan als «Direktor für Eröffnungen» verspottet. «Ihr wollt zu Hause eine Konserve öffnen?», fragte er bei einer Wahlveranstaltung in Konya. «Dann ruft den Präsidenten. Um Wahlpropaganda für die (islamisch-konservative Regierungspartei) AKP zu betreiben, lässt er keine Gelegenheit aus.»
Türkische Medien berichteten, einige der in den vergangenen Tagen eröffneten Einrichtungen seien entweder noch gar nicht fertiggestellt oder bereits zuvor eröffnet worden. Bei einer Veranstaltung in der zentraltürkischen Stadt Kayseri hatte Erdogan kürzlich gleich 50 Einrichtungen auf einen Schlag eingeweiht.
Es wird mit harten Bandagen gekämpft
Der Kampf des kurdischen David gegen den Goliath Erdogan wird mit harten Bandagen ausgetragen. Anfang der Woche gingen zwei Bomben in HDP-Büros in den südtürkischen Städten Adana und Mersin hoch. Landesweit zählt die Partei bereits mehr als hundert Angriffe auf ihre Büros, Fahrzeuge oder Wahlkampfhelfer. Vor ein paar Tagen wurden drei von Selcuks Leuten in einem Istanbuler Außenbezirk zusammengeschlagen. Auf die Frage nach den Tätern zuckt er mit den Schultern. „Die kamen wohl von der AKP oder von der Zivilpolizei, was weiß ich.“
Der Präsident kennt die Gefahr und hat sich deshalb trotz der verfassungsmäßigen Verpflichtung zur parteipolitischen Neutralität als Staatspräsident in den Wahlkampf gestürzt. Mit dem Koran in der Hand warnt Erdogan die konservativen kurdischen Wähler, dem gottlosen HDP-Chef ihre Stimme zu geben. Regierungsnahe Zeitungen sekundieren.: Bei einem Wahlkampfaufenthalt in Deutschland habe Demirtas im vergangenen Jahr Schweinespeck gegessen, berichten sie in großer Aufmachung.
Wahlkampf für die AKP
Als Staatspräsident ist Erdogan eigentlich zu innenpolitischer Neutralität verpflichtet. Doch vor der Parlamentswahl setzt sich der langjährige Ministerpräsident darüber hinweg und macht kräftig Wahlkampf für die von ihm gegründete konservativ-islamische Regierungspartei AKP.
Denn bei dieser Wahl geht es auch um das ganz große Projekt des 61-Jährigen. Erdogan will in der Türkei ein Präsidialsystem schaffen, mit sich selbst an der Spitze. Derzeit hat der türkische Präsident vor allem repräsentative Aufgaben. Damit die Verfassung hin zu einem Präsidialsystem geändert werden kann, braucht Erdogan einen hohen Wahlsieg der AKP.
Wüste Beschimpfungen
Und dafür schreckt der Präsident offenbar vor nichts zurück. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im ostanatolischen Bingöl holte er jetzt zum Rundumschlag gegen die Opposition aus. Nach Angaben von Anadolu brachte er sie unter anderem in Verbindung mit der "armenischen Lobby" und mit "Homosexuellen". Beide Gruppen bezeichnete Erdogan als "Repräsentanten des Unfriedens". Die Opposition sei außerdem Verbündeter der Dogan-Medien, die der Präsident als "Putschisten" bezeichnete. Dem Dogan-Konzern gehören regierungskritische Zeitungen wie "Hürriyet" und "Radikal".
Wie die PKK von Stalin zur Mülltrennung kam
Die prokurdische HDP könnte die Alleinherrschaft der AKP beenden. Die Vorgaben dafür kommen von PKK-Chef Öcalan. Der propagiert heute regionale Autonomie, Frauenförderung und Umweltschutz.
Februniye Akyol ist Co-Bürgermeisterin im südostanatolischen Mardin, die einzige Christin in einem solchen Amt in der Türkei
Manchmal sagt die Architektur alles: In Cizre ist der Regierungssitz ein vierstöckiger Sandsteinbau mit hohem Portal im maurischen Stil. Hier residieren die Behörden des Zentralstaates. In einer Seitenstraße dahinter: ein schäbiger, zweigeschossiger Flachbau. Es könnte sich um einen Geräteschuppen handeln, ist aber das Rathaus von Cizre. Der Staat ist alles, die Stadt nichts.
So überkandidelt wie der Regierungssitz in dieser verstaubten Kleinstadt an der Grenze zu Syrien und zum Irak wirkt, so overdressed wirkt Leyla Imret mit ihrem moosgrünen Damensakko und den Pfennigabsätzen in diesem Rathaus. Sie wirkt fast exotisch in diesem Chefbüro mit seinem schweren Schreibtisch, den schwarzen Ledersesseln und der seidenen türkischen Fahne.
Leyla Imret, 27 Jahre alt, aufgewachsen in Osterholz-Scharmbeck bei Bremen, seit der Kommunalwahl 2014 Bürgermeisterin für die Demokratische Partei der Regionen (DBP). Die ist ihrerseits Teil der Demokratiepartei der Völker (HDP), die bei der Parlamentswahl am nächsten Sonntag nicht mehr mit nominell unabhängigen Kanditen antritt, sondern als Partei.
Mit ihren bunten Listen und ihrem smarten Vorsitzenden Selahattin Demirtaş hat sich die HDP in den Großstädten zu einer Alternative für linke und liberale Wähler gemausert. Doch dass sie gute Aussichten hat, die Zehnprozenthürde zu nehmen und die Alleinherrschaft der AKP zu beenden, liegt an der kurdischen Bewegung. An Orten wie Cizre, wo Leyla Imret 82 Prozent der Stimmen holte.
Im Krieg zwischen der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und dem Staat war diese Gegend schwer umkämpft. Seit zwei Jahren schweigen zwar die Waffen, doch Frieden herrscht hier nicht. Im Oktober starben bei den Protesten anlässlich der Belagerung von Kobani landesweit 50 Menschen bei Auseinandersetzungen zwischen Sympathisanten der PKK, Anhängern der islamistischen Partei Hüda Par und Sicherheitskräften, im Dezember wurden in Cizre vier Demonstranten von der Polizei erschossen. Der älteste war 19, der jüngste zwölf Jahre alt.
Was führt eine junge Frau aus Niedersachsen hierher?
"Sie müssen zuerst fragen, was mich von hier weggeführt hat", antwortet Imret und erzählt ihre Geschichte: Sie ist vier Jahre alt, als ihr Vater, ein Mitglied der PKK, bei einem Gefecht erschossen wird. Imret kommt zu einer Tante nach Deutschland. Sie macht eine Lehre als Friseurin und arbeitet als Kinderpflegerin. "Ich habe gern in Deutschland gelebt", erzählt sie. "Trotzdem wollte ich zurück." Hat sie jemals ihrem Vater vorgeworfen, sie verlassen zu haben? "Selten, als Kind." Und hat sie überlegt, selbst zu den Waffen zu greifen? "Das wollte ich meiner Mutter nicht antun."
Man merkt ihr noch immer die Unsicherheit an. Dabei kann sie erste Erfolge vorweisen: Kürzlich feierte sie die Grundsteinlegung einer Kläranlage, damit die Abwässer der 100.000-Einwohner-Stadt nicht länger ungefiltert in den Tigris fließen. Zudem wurden neue Brunnen gebaut, bis zum nächsten Jahr soll auch im Sommer nicht bloß an zwei, drei Tagen in der Woche Wasser fließen.
Was will sie noch? "Ich möchte die historischen Denkmäler pflegen und eine Recyclinganlage bauen, damit der Müll nicht mehr irgendwo draußen abgeworfen wird." Dann auch mit Mülltrennung? "Klar", strahlt Imret. "Aber das wird schwierig. Als ich nach Cizre zurückkam, fiel mir der Schmutz auf. Die Häuser sind picobello, die Leute pflegen liebevoll ihre Gärten, aber wie es hinter ihren Mauern aussieht, ist ihnen egal."
Imret klagt über den Müll, über die Einzelhändler und die traditionellen Männercafés, die mit ihren Waren und Tischen die Bürgersteige blockieren würden. "Nach der Wahl wollen wir eine Kampagne starten. Und wenn es nicht anders geht, werden wir Strafzettel verteilen." Hat sie den Sinn für die Umwelt aus Deutschland mitgebracht? "Ja", sagt sie, "Aber auch in unserem neuen Paradigma ist Ökologie wichtig, das betont die Führung immer wieder."
"Die Führung", önderlik, meint in der Terminologie der kurdischen Bewegung den inhaftierten Öcalan. Der hatte vor zehn Jahren das "neue Paradigma" verkündet: "Demokratischer Konföderalismus" statt Unabhängigkeit, Stärkung der lokalen Verwaltungen, mehr Zivilgesellschaft, weniger Staat, kulturelle Identität, Kooperativen, Umweltschutz, Frauen.
Seit einigen Jahren sind alle Leitungspositionen, ob in der Guerilla oder den legalen Parteien, mit quotierten Doppelspitzen besetzt. Und obwohl das Kommunalrecht derlei nicht zulässt, treten die über 100 Bürgermeister aus der DBP/HDP mit jeweils einem "Co-Bürgermeister" auf. Eine Frauenquote hat sonst keine Partei in der Türkei. Umso bemerkenswerter, dass es sie ausgerechnet in den kurdischen Gebieten gibt, wo die Religion eine große Rolle spielt. Auch Imret hat einen "Co-Bürgermeister", der formal ihr Stellvertreter ist. Nur ein Posten ist nicht quotiert und nicht gedoppelt: der Öcalans.
Über die Referenzen dieses "neuen Paradigmas" gibt der Buchladen Aram in Diyarbakir Auskunft. Ein großer Laden, in dessen Mitte die Bücher des hauseigenen Verlags aufgebaut sind: Memoiren von PKK-Kämpfern, Schriften von Öcalan. In einer unteren Regalreihe versteckt, finden sich Lenin und Stalin, einst die wichtigsten ideologischen Referenzen der PKK.
"Danach fragen nur noch Studenten, die sich mit den Anfängen unserer Bewegung beschäftigen", erzählt der Buchhändler. Der begehrteste ausländische Autor sei der US-amerikanische Öko-Anarchist Murray Bookchin, von dem sich Öcalan zu seinem "Demokratischen Konföderalismus" inspirieren ließ. "Bookchin ist bei den Bestellungen von PKK-Gefangenen ganz oben", erzählt der Verkäufer. "Und wenn die Führung einen Autor erwähnt, sind diese Bücher sofort ausverkauft." Der letzte Hit sei "Gefährdetes Leben" von der US-Feministin Judith Butler gewesen. Vergriffen.
Die Provinz Diyarbakir hat 1,6 Millionen Einwohner, auf die elf Parlamentssitze entfallen. Die HDP rechnet sich sechs bis acht davon aus, während die restlichen an die AKP gehen dürften. Doch falls die HDP die Hürde verfehlen sollte, dürfte die AKP alle elf Mandate einstreichen. Am Ende könnte das bis zu 50 Sitze für die AKP ausmachen.
Um einen davon kämpft Feleknas Uca. Die 38-Jährige wurde in Celle geboren, war von 1999 bis 2009 Europaabgeordnete der Linken und gründete eine Stiftung für Frauen- und Kinderrechte. Sie gehört der jesidischen Glaubensgemeinschaft an, die durch die Gräueltaten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zur Bekanntheit gelangt ist. In der Türkei leben nach Flucht und Vertreibung nur noch ein paar Hundert Jesiden. Uca engagierte sich für die jesidischen Flüchtlinge im Nordirak und ging schließlich in die Türkei. Denn, so ist sie überzeugt, ohne die Unterstützung der AKP-Regierung für die Dschihadisten in Syrien wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen.
Bei der Wahl fürchten nicht nur Anhänger der HDP Manipulationen. Dennoch zweifelt Uca nicht daran, dass es für die HDP reichen wird. Und wenn nicht? Wird dann, wie manche glauben, Kurdistan brennen? "Wir werden reinkommen", sagt sie bestimmt.
Bombenanschläge auf die HDP-Büros
Sie spricht fließend Kurdisch, Türkisch aber muss sie in einem Sprachkurs lernen. Doch gerade darum sei ihre Kandidatur symbolisch bedeutsam: "Hier leben Menschen mit verschiedenen Muttersprachen. Es gibt Kurden, Araber, Armenier, viele andere. Wir wollen, dass alle Völker und Religionsgemeinschaften gleichberechtigt leben."
Ein Vormittag im Mai im HDP-Büro von Diyarbakir: Uca referiert das Wahlprogramm, man merkt es der gelernten Arzthelferin an, dass sie fast ihr gesamtes Berufsleben als Politikerin verbracht hat. Dann trifft eine Meldung aus den südtürkischen Metropolen Adana und Mersin ein: Bombenanschläge auf die HDP-Büros, nur durch Zufall keine Toten. "Sollten wir den Parkplatz räumen?", fragt jemand. "Was passiert, passiert", antwortet einer. Polizeischutz wird nicht kommen. "Das wäre in einer Demokratie normal", sagt Uca. "Aber diesem Staat trauen wir nicht." Später wird Parteichef Demirtaş die Regierung beschuldigen, für die Bomben verantwortlich zu sein.
Es ist der Tag des Gedenkens an die Märtyrer – "Märtyrer", şehit, nennen in der Türkei alle ihre Toten, auch die PKK. Der Tag beginnt mit einer Kundgebung vor dem ehemaligen Militärgefängnis "Nr. 5", unter der Diktatur der Achtzigerjahre eine besonders gefürchtete Folteranstalt.
Der nächste Termin: ein Essen für Angehörige der "Märtyrer". Im Neonlicht eines Hochzeitssaals begrüßt Uca die Gäste und geht an jeden Tisch. Während des Essens – Fleisch, Reis und Salat – hält sie eine kurze Rede zum Kampf gegen den IS. Es folgt eine Demonstration zum "Märtyrerfriedhof". Vom Band läuft die PKK-Hymne; etwas abseits, an einem der vielen frischen Gräber, streichelt ein Mittfünfziger still den Grabstein. "Schengal", sagt er. "Mein Sohn hatte Kartografie studiert und ist nach Syrien gegangen. Er war 27."
War dies nun eine PKK-Veranstaltung? "Das waren Angehörige der Gefallenen", antwortet Uca unwirsch. Und die Öcalan-Bilder, die auch im HDP-Büro hängen, darunter ein Öcalan in Öl? "Das ist hier nicht verboten." Mehr will sie dazu nicht sagen, der nächste Termin wartet: eine Ausstellungseröffnung, wieder geht es um das einstige Militärgefängnis.
Dazu sind prominente Oppositionelle aus Istanbul angereist, darunter der Soziologe Ismail Beşikçi, der wegen seiner Schriften zur Lage der Kurden 17 Jahre in Haft saß. "Ohne den Widerstand im Gefängnis ,Nr. 5' hätten wir nicht in Kobani und Schengal kämpfen können", sagt er. Als Letzte spricht die Oberbürgermeisterin Gültan Kişanak: Die Gesellschaft müsse sich endlich "mit ihrer verdrängten Geschichte" auseinandersetzen.
Tags darauf in ihrem Büro. Kişanak ist eine freundliche Frau, sie wirkt etwas bieder, aber selbstbewusst. Ob ihre Aufforderung auch für Anschläge der PKK auf Zivilisten gilt? "Natürlich", sagt sie. "Aber wenn wir diese Geschichte nicht aufarbeiten, werden wir uns auch den anderen Ereignissen nicht stellen können." Die 43-Jährige war Journalistin, wechselte ins Parlament und ist nun Kommunalpolitikerin.
"Die lokalen Verwaltungen haben keine Autonomie", sagt sie. "Wir müssen alle Steuern, die wir erwirtschaften, an den Staat abführen, der uns nur einen kleinen Teil zurückgibt. Und der Staat reglementiert genau, was wir wofür ausgeben dürfen." So wie viele Bürgermeister der übrigen Oppositionsparteien klagt sie, dass die AKP-Regierung ihre Stadt benachteiligen würde. Und wofür würde sie eine größere Autonomie nutzen? "Zum Beispiel, um die Grundstücksteuer zu staffeln – höhere Steuern für große Grundstücke, geringere für kleinere."
Doch es ist nicht lange her, dass sich die DBP-Stadtverwaltungen über alle Vorschriften hinwegsetzten: als im vorigen Jahr Hunderttausende kurdische Flüchtlinge vor dem IS in die Türkei kamen. "Der Staat hat sich nicht um sie gekümmert. Also haben wir Krisenzentren eingerichtet, Camps aufgebaut und die Flüchtlinge über unsere Städte verteilt. Und wir helfen ihnen immer noch, auch wenn sie schon zurückgekehrt sind", erzählt Februniye Akyol, Co-Oberbürgermeisterin von Mardin. Obwohl sie selbst einer Behörde vorsteht, grenzt sie sich vom "Staat" ab: "Der Staat ist für uns Polizei und Militär."
Einzige christliche Bürgermeisterin der Türkei
Akyol spricht leise und eloquent, ihr Büro schmücken helle Möbel, Pflanzen und ein expressionistisches Bild. "Man merkt die Frauenhandschrift, nicht wahr?", fragt sie keck. Zuvor sei Mardin von der AKP regiert worden. Nach der Umwandlung zur Großstadt habe die AKP gewusst, dass sie die Wahl verlieren würde und daher Immobilien und sogar das Inventar an Einrichtungen des Staates übertragen. Sie habe die Gelegenheit zum Shoppen genutzt.
Mit ihren seldschukischen Moscheen und assyrischen Kirchen ist die hoch oben gelegene, restaurierte Altstadt von Mardin ein Juwel. Und Akyol ist Assyrerin, die einzige christliche Bürgermeisterin des Landes und mit 26 die zweitjüngste. "Ich bin nicht fromm, aber gläubig", antwortet sie auf die Frage nach dem Kreuz, das sie an ihrer Halskette trägt.
Sie hat in Istanbul Versicherungswirtschaft studiert und kam danach zurück. "Unsere Leute wandern aus", sagt sie. "Aber ich will nicht, dass die assyrische Kultur verschwindet." Darum hat sie sich in einem Kulturverein engagiert, nicht jedoch in der kurdischen Bewegung. "Ich bin ein Öcalan-Projekt", sagt sie. Der habe "angeregt", im kosmopolitischen Mardin eine assyrische Kandidatin aufzustellen.
Nur einer kontrolliert die Jugendlichen: Öcalan
Später setzt sie sich in ihren Dienstwagen, einen Mercedes S350 – eine Spende, wie sie zwar versichert, den Besitz dieses Luxusfahrzeugs in dieser Gegend aber nicht unverdächtiger macht. Es gilt, die Leichname von sieben Kämpfern zu begleiten. Bis zum 35 Kilometer entfernten Grenzübergang schafft es ihr Wagen nicht, zu viele Menschen sind gekommen.
Die Rückfahrt führt durch Orte, in denen Tausende den Konvoi säumen. Als der Wagen einen Polizeiposten passiert, erzählt der Fahrer, die Partei habe die Freunde der Toten nur mit Mühe davon abhalten können, sich auszutoben. "Aber eigentlich gibt es nur einen, der diese Jungs aufhält: die Führung", sagt der Fahrer. "Fragen Sie in zwei Wochen, wie viele von ihnen nach Syrien gegangen sein werden", sagt Akyol.
Wird der Krieg hier irgendwann aufhören? "Wir hoffen es sehr", antwortet Akyol leise. "Wenn nicht, wird man auch mich in so einem Konvoi transportieren."
Türkei:Kurdische Frauen wollen Erdogans Macht brechen - DIE WELT
[h=2]Strafverfolger fordern bis zu 142 Jahre Haft für Chef der prokurdischen HDP[/h]
Türkei: Bis zu 142 Jahre Haft für HDP-Chef gefordert - Politik - Süddeutsche.deSelahattin Demirtaş werden "Terror-Propaganda" und Verbindungen zur PKK vorgeworfen. Eine lange Haftstrafe droht auch der Ko-Vorsitzenden der Partei.
Die türkische Staatsanwaltschaft fordert für den kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş eine Haftstrafe von bis zu 142 Jahren. Das berichten die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu und türkische Medien. Demirtaş, einer der beiden Chefs der prokurdischen Partei HDP, sitzt seit Anfang November im Gefängnis, ihm werden "Terror-Propaganda" und Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen.
Für Ko-Chefin Figen Yüksekdağ forderten die Strafverfolger den Medienberichten zufolge eine Haftstrafe von bis zu 83 Jahren. Auch sie war im November festgenommen worden.
Die türkische Regierung geht seit Monaten gegen die prokurdische Partei vor, etliche HDP-Politiker sitzen in Untersuchungshaft, darunter auch einige Abgeordnete. Die Immunität zahlreicher weiterer Parlamentarier wurde aufgehoben. Allein im Dezember waren nach Razzien mehr als 200 ranghohe Politiker der HDP festgenommen worden, darunter Provinz- und Bezirksvorsitzende. Im Südosten des Landes wurden Bürgermeister der Partei DBP (Demokratik Bölgeler Partisi) - der lokalen Schwesterpartei der HDP - abgesetzt.
Folge dem Video um zu sehen, wie unsere Website als Web-App auf dem Startbildschirm installiert werden kann.
Anmerkung: Diese Funktion ist in einigen Browsern möglicherweise nicht verfügbar.
Wir verwenden essentielle Cookies, damit diese Website funktioniert, und optionale Cookies, um den Komfort bei der Nutzung zu verbessern.
Siehe weitere Informationen und konfiguriere deine Einstellungen