SERBIEN ⋅ Vor 30 Jahren formulierten Top-Wissenschaftler das nationalistische Programm für ein Grossserbien. Nach vielen Kriegen mit mehr als 100'000 Toten ist diese Idee noch lange nicht gestorben.
Thomas Brey / dpa
Je tiefer die wirtschaftliche und soziale Krise im EU-Beitrittsland Serbien wird, desto mehr klammern sich selbst junge Menschen an die alten nationalistischen Ideen. Die wurden vor drei Jahrzehnten von der Serbischen Akademie der Wissenschaften formuliert und sind in breiten Bevölkerungsschichten immer noch topaktuell.
Die Kernthesen: Die Serben wurden im damaligen Vielvölkerstaat Jugoslawien ungerecht behandelt. Wirtschaftlich kamen sie zu kurz, politisch und gesellschaftlich waren sie von den anderen, viel kleineren Nationen unterdrückt.
Rechtfertigung für Kriege
In den folgenden Jahren war das die ideologische Grundlage und politische Rechtfertigung für die von Serben geführten Kriege in Slowenien, Kroatien, Bosnien und am Ende im Kosovo zwischen 1991 und 1999.
Die Spitzenwissenschaftler beklagten in ihrem «Memorandum» den «physischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Völkermord» ihrer Landsleute in der fast nur noch von Albanern bewohnten Provinz Kosovo. Ihrer Minderheit in Kroatien «geht es schlechter als jemals in der Vergangenheit und nie war sie so bedroht».
Die Wurzel allen Übels sahen die Verfasser darin, dass angeblich 3,3 Millionen Serben, also «40,3 Prozent ihrer gesamten Zahl», ausserhalb des serbischen Kernlandes als Minderheit lebte. Das war der Startschuss zum Projekt Grossserbien, in dem «alle Serben in einem Staat» leben sollten.
Milosevic-Mitstreiter in hohen Ämtern
Für dieses Ziel waren dem serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic auch Kriege recht. Er ist nach vielen Niederlagen seiner Armee und Paramilitärs ohne Urteil im Haager Kriegsverbrechertribunal 2006 an einem Herzinfarkt gestorben.
Aber viele seiner damaligen Mitstreiter sind heute wieder in Amt und Würden: Regierungschef Aleksandar Vucic, damals als Informationsminister für die Knebelung der Medien zuständig, hat heute den grossserbischen Ideen abgeschworen und will als lupenreiner europäischer Demokrat gelten.
Milosevic-Sprecher Ivica Dacic ist Aussenminister, der vom Tribunal freigesprochene einstige nationalistische Hetzer Vojislav Seselj Oppositionsführer.
Nichts bereut
Die alten Milosevic-Getreuen haben nichts gelernt, bereuen nichts. Die einstige Nummer zwei hinter dem Autokraten Milosevic, Borisav Jovic, hat gerade ein neues Buch unter dem Titel vorgestellt «Wie die Serben ein ganzes Jahrhundert verloren haben».
Hier stehen wieder genau dieselben alten Thesen und Verschwörungstheorien. Dunkle ausländische Mächte, der Vatikan und alle anderen jugoslawischen Völker hätten Serbien so sehr geschadet, dass es sich immer noch nicht davon erholt hat.
Oder der Milosevic-Zögling, der bosnische Serbenführer Radovan Karadzic. Obwohl er gerade erst zu 40 Jahren Haft verurteilt wurde, hat er an den UNO-Sicherheitsrat geschrieben. Der solle gefälligst die skandalösen «Fehlurteile» des Kriegsverbrechertribunals gegen «das ganze serbische Volk» aufheben.
«Unbewiesene Behauptungen»
Der renommierteste deutsche Serbien-Historiker, Holm Sundhaussen, beurteilt in seinem Standardwerk das Memorandum der Akademie so: «Es entpuppt sich als paranoides Pamphlet zur Lage des serbischen Volkes» und «setzt sich zusammen aus unbewiesenen Behauptungen und Beschuldigungen»: «Die Autoren reaktivieren alte Feindbilder, Stereotypen und Vorurteile»
Der nationalistische Geist, der am 24. September 1986 mit ersten Auszügen des Memorandums in der damals grössten Belgrader Zeitung «Vecernje Novosti» aus der Flasche gelassen war, ist heute noch bei weitem nicht wieder eingefangen.
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