Bei jungen Touristen gilt Serbiens Hauptstadt als cool und trendy. Unser Autor jedoch muss dort leben und erinnert sich an Freunde, die sich umbrachten oder jede Chance zum Abhauen nutzen. Warum er dableibt? Er weiß es nicht.
Von Vladimir Arsenijevic
I Travel Blogger
Es sieht so aus, als wäre es gerade in Mode, Belgrad zu mögen.
Nato-Bomben und eine jahrelange Vernachlässigung epischer Ausmaße haben ihre Narben hinterlassen, und trotzdem wandelt sich Belgrad, Hauptstadt Serbiens und Ex-Hauptstadt Ex-Jugoslawiens, zum neuen Lieblingsziel der Touristen. Die Zwei-Millionen-Stadt wird als cooles Reiseziel entdeckt – von unvoreingenommenen und abenteuersuchenden jungen Menschen, zumeist aus Westeuropa, die die sterile Sauberkeit wohlhabender Gesellschaften leid sind.
Vielleicht kommen sie auch, weil sie auf der Suche sind nach exotischem Material für ihre Travel Blogs. Ich habe einige Zeit im Internet gesurft und gelesen, was diese Besucher über meine Stadt schreiben – bis mir schwindlig wurde. Ich war überwältigt und ziemlich erschöpft.
Gut, Travel Blogs sind sich immer sehr ähnlich, das mag an einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl liegen – aber die Beschreibungen Belgrads klingen fast alle gleich. Die Blogger sind angenehm überrascht, sie erwähnen ausnahmslos schöne Frauen, schick gekleidete Menschen, reichhaltiges Essen, quirliges Straßenleben, gute Englischkenntnisse der Belgrader und ihren Sinn für Humor, hunderte von Cafés, den traditionellen Hang der Stadt zur alternativen Kultur und Avantgarde, Rave-Parties in allen möglichen Locations, die zahlreichen Hausboote am Flussufer und das Nachtleben, das sich über das Morgengrauen in den nächsten Tag ausdehnt und niemals wirklich aufhört…
Offensichtlich gewinnt Belgrad leicht jene Art von Bewunderung, die für Orte reserviert ist, in die wir eigentlich nie wollten und nur durch irgendeinen Zufall hineingestolpert sind. Die meisten lieben es hier. Aber das ist verständlich. Sie leben ja nicht in dieser Stadt.
Sie können sie verlassen, wann immer sie wollen.
II Auf dem Weg zur Toilette
Wenn man hier festsitzt, fühlt sich das alles natürlich ein bisschen anders an. Lokalpatrioten würden das sicher bestreiten, aber in der einfachen Tatsache, aus Belgrad zu kommen, liegt ein Gefühl des Scheiterns, ja sogar des drohenden Unheils – es ist das Gefühl, dass man mit etwas mehr Glück in einem schöneren, größeren und cooleren Ort zur Welt gekommen wäre.
„Wäre Europa eine Kneipe, dann läge Belgrad irgendwo auf dem Weg zur Toilette“, bemerkte ein Freund von mir kürzlich sehr treffend während einer seiner spärlichen Besuche aus London, wo er seit 15 Jahren lebt. Er zog weg, um nicht in den damals in Kroatien tobenden Krieg eingezogen zu werden. Wir lachten laut auf, obwohl es doch eigentlich nichts zu lachen gab. Wie immer nervte die Stadt nach einigen Sommertagen meinen Freund wieder, also packte er seine Sachen und flog zurück nach London. Der Rest von uns blieb hier, noch leise in sich hineinglucksend. Wir konnten einfach nicht aufhören. Auf dem Weg zur Toilette, wie wahr!
Traurigerweise war es ein Witz auf unsere Kosten.
An diesem Tag, auf meinem Rückweg vom Flughafen in die Stadt, nachdem ich meinen Freund verabschiedet hatte und das Lachen sich immer noch an meine Lippen klammerte, sah ich, wie sich vor meinen Augen jenseits des schmutzigen Busfensters all diese vertrauten Straßen entfalteten. Ich spürte: Belgrad ist dieser eine Platz auf Erden, dem ich unmöglich entkommen kann. Ob er mir gefällt oder nicht, ist vollkommen egal. Was immer auch geschieht: Ich bin von hier, ich spüre es bis in meine Knochen, so einfach ist das. Theoretisch könnte ich natürlich beschließen, irgendwo anders zu leben, ich habe ja sogar anderswo gelebt, aber immer als Belgrader. Je mehr Distanz ich zwischen mich und die Stadt brachte, umso stärker fühlte ich diese seltsame Form krankhafter Liebe und unbedingter Sehnsucht. Ich kehrte zurück, immer wieder, aus London, Nikosia, Athen, Mexiko Stadt… um meinen Seelenfrieden zu finden, hier, wo ich herkomme und hingehöre, hier, auf dem Weg zur Toilette. Aber meine Gefühle und Erwartungen wurden jedes Mal enttäuscht.
Ich bin Belgrader, nicht freiwillig, sondern aus unvermeidbarem, erstickendem Schicksal.
Es kostet mich unmenschliche Anstrengungen, in Belgrad zu leben und es zugleich zu lieben. Wie so viele Menschen, die ich kenne, lebe ich in dieser Stadt und plane immer, sie zu verlassen. Dabei weiß ich ganz genau: Ich werde es nicht tun.
Und ich wundere mich: Ist es nur ein Zufall, dass diese drei Wörter, die mich seit so langer Zeit verfolgen, so gleich klingen: live, love, leave – leben, lieben, verlassen?
III Leben, lieben und verlassen
Gott, was für ein schmalziger Titel!, habe ich immer gedacht. Ich erröte heute noch ein bisschen, dabei ist es schon so lange her. Aber „Live, love and leave“ war tatsächlich der unglückliche Titel einer Kassette, geschrieben, gespielt, aufgenommen und produziert von meinem sensiblen Freund, einem vielversprechenden aber gescheiterten Musiker. Er lebte und arbeitete in einem der riesigen, legosteinartigen Apartment-Häuser aus den späten 70ern in Blok 64, dem Teil Novi-Beograds, der berüchtigt ist für seine Unmenschlichkeit. Sie wirkt wie eingebaut, als sei sie sorgfältig und gründlich von vornherein mit eingeplant. Der Wolkenkratzer, in dem er lebte, erhebt sich über einer Betonplatte und einer Mauer, die mit Stacheldraht bedeckt ist, eine Art Grenzwall zu einer Fabrik für landwirtschaftliche Geräte. Der Blick aus dem Fenster über den Hinterhof der Fabrik mit den in Reihen gestapelten Traktoren und Mähdreschern deprimierte meinen Freund so sehr, dass er nur niedrige Möbel in seinem Zimmer hatte, die sich knapp über den Boden erhoben. Auf diese Weise, erklärte er mir, während er es sich auf einem der zahlreichen im Wohnzimmer verstreuten Kissen gemütlich machte, könne er den Himmel sehen anstelle der hässlichen Fabrikanlagen und der Blöcke vorgefertigter Gebäude unterhalb seines Fensters.
Eines Morgens fuhren Arbeiter in orangefarbenen Overalls vor, und bevor mein Freund auch nur begreifen konnte, was vor sich ging, hatten sie Leitungsmasten direkt neben seinem Fenster errichtet. Dicke schwarze Kabel zerschnitten seinen geliebten Blick in den klaren blauen Himmel. Schon bald war er zu verzweifelt, um Gäste einzuladen. Klaustrophobie und tiefe Depression zogen ein. Die Musik, die er in seinem Schlafzimmer aufnahm, wurde düsterer und düsterer. Bis niemand sie mehr anhören mochte.
Eines Nachts, kurz vor Sonnenaufgang, brachte er sich um. Er schnitt sich tief in die Pulsadern, und während sein Blut den Raum besudelte, versuchte er noch, sich an der Heizung zu strangulieren. Kalt und tot fand ihn seine Mutter am nächsten Morgen auf dem Boden unter dem Fenster. Auf einen Zettel hatte er gekritzelt: „Ovako se ne živi…“ – So kann man nicht leben…
Heute, fast 20 Jahre später, fällt es mir schwer, mir meinen Freund bildlich ins Gedächtnis zu rufen. Ich schäme mich dafür, aber ich erinnere mich nicht einmal an seinen Namen. Er starb in den späten 80ern, und kurz nach seinem Selbstmord kamen die 90er, schön und fröhlich für die einen, dunkel und tragisch für uns, mit Kriegen und Zerstörung, ausufernder Gewalt und Elend. Die 90er, in denen nach ihm noch viele starben, während andere die Stadt und das zerfallende Land hastig verließen, um nie wiederzukehren. Vor dieser Kulisse endloser Schrecken und Traurigkeit wurde mir schmerzhaft bewusst, dass Belgrad nur zwei Sorten Menschen hervorbringt: solche, die zu früh und gewaltsam sterben, und solche, die es für immer verlassen. Die meisten meiner Freunde haben einen dieser Pfade beschritten, während ich irgendwo dazwischen für immer gefangen zu sein scheine, in der Rolle des ständigen Beobachters…
Diese Erkenntnis gab mir ein Gefühl wahrer Tragik, die Stadt allerdings erschien in meinen Augen nicht liebenswerter. Ganz im Gegenteil.
Aber ich entdeckte, dass ich zumindest darüber schreiben konnte.
IV Von Toten und Fortgezogenen
Es gibt Städte in dieser Welt, die ihren Einwohnern unentwegt Fragen stellen, die man nicht beantworten kann. Belgrad ist eine davon. Was machen mit dieser Stadt? Wie kann ich nur hier leben und zufrieden sein? Wenn Du an solch einen Ort gebunden bist, dann wirst Du unfreiwillig sehr vertraut mit ihm, und es wird immer schwerer, ihn angemessen zu hassen. Entweder du lebst in dieser Stadt, und du liebst sie – oder du gehst einfach. Letzteres natürlich nur, wenn du kannst. Einer meiner Freunde ist rechtzeitig nach London gegangen, ein anderer hat sich umgebracht, als er es nicht mehr aushielt. Währenddessen hänge ich hier noch rum, obwohl meine Beziehung zu Belgrad nichts von einer Liebesaffäre hat, nicht mal von einer wackeligen Beziehung. Aus der Hassliebe, die wir automatisch zu jeder Stadt entwickeln, in der wir lange genug leben, ist im Fall Belgrad und mir nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, nur der Hass übrig geblieben. Aber wir haben uns nicht getrennt, und wir werden es auch niemals tun. Es ist so wie in jeder gescheiterten Ehe, in der die Partner sich so aneinander gewöhnt haben, dass sie unfähig geworden sind, alles einfach zu beenden.
Es ist 2006, und Belgrad ist nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für eine prosperierende Stadt. Sie ist wie ein zurückgebliebenes Kind, das nie die Chance hatte, sich normal zu entwickeln. Ein Underdog, oder im besten Fall ein Boxer, den man übel zusammengeschlagen hat und der jetzt ohne Hilfe seine Wunden leckt. Belgrad war und ist die Heimat einiger der dümmsten und bösartigsten Politiker unserer Zeit. Einige der berüchtigtsten Kriegsverbrecher verstecken sich hier. Alles gleicht einem unendlichen Chaos: Die Wirtschaft geht nieder, Armut ist weit verbreitet, und es ist unmöglich, ein Visum für reichere Länder zu bekommen. Wenn man zu oft in Belgrad ist, fühlt man sich wie in einem versiegelten Scheißloch, das jeden Moment explodieren könnte. Ich beneide diejenigen, die an Orten leben, die sie mögen und in denen sie aufgehen. Ich betrachte das als Privileg, das mir seit meiner Jugend verwehrt worden ist.
Ich vermute, dass das dazu beigetragen hat, dass ich mich an meinen toten Musikerfreund erinnerte, während ich meinen Kopf gegen die kalte, dreckige Fensterscheibe des rumpelnden Busses lehnte, der mich ins Zentrum brachte, nachdem ich am Flughafen den anderen Freund verabschiedet hatte. Meistens zieht es mich runter, wenn ich Belgrad aus dem Bus betrachte. Also begann ich zu mir selbst zu sprechen und sprach doch gleichzeitig zu meinem toten Freund: „Du hattest Recht. So sollte man nicht leben. Du hattest so schrecklich Recht.“ Ich schüttelte meinen Kopf und kämpfte mit den Tränen. Dann nahm ich mich zusammen. Denn ich weiß, dass dies nur Launen sind, eine Art mechanischer Reaktion, ein Phantomschmerz. So, als wenn einer glaubt, seine amputierten Gliedmaßen zu spüren.
In Wirklichkeit schreitet die Zeit mit Siebenmeilenstiefeln voran. Die schlimmen 80er Jahre sind Gott sei dank vorbei (keine hässlichen Haarschnitte, keine doofen Designerklamotten mehr) und die 90er (tragischer als in unseren schlimmsten Alpträumen) liegen auch hinter uns. Wir haben viel durchgemacht, aber wir schreiben das Jahr 2006, und das Leben normalisiert sich.
Obwohl, manchmal scheint es, als seien einige von uns für immer infiziert mit der Vergangenheit. Wenn sie es überhaupt geschafft haben, die dunkle Ära zu überleben.
Also, vergessen wir mich, wie ich in diesem ruinierten Bus sitze und meine Nase gegen das dreckige Fenster drücke. Und denken wir nicht an meine toten und vor langer Zeit gegangenen Freunde.
Es ist eine Tatsache: Keiner von uns hat allzu viele nette Dinge zu erzählen.
V Kirschstrudel
Wenn ich nämlich Sie wäre, würde ich eher auf die Leute hören, die in ihren Travel-Blogs über Belgrad schreiben. Ein Trost liegt in der Gleichförmigkeit ihrer Berichte, und absurderweise begreifen diese Reisenden die Stadt vielleicht viel besser, als ich es jemals könnte.
Also los: „Ich war angenehm überrascht“, schreibt einer, „pulsierende Straßen mit Mengen von schick angezogenen Einkäufern und Kaffeetrinkern. Belgrad fühlte sich eher westlich als östlich an.“ – „Die Serben sind wunderschöne Menschen“, schreibt ein anderer, „groß gewachsen und mit markanten Wangenknochen. Am Anfang ernst, ausdruckslos und reserviert, dann warm lächelnd und bescheiden grüßend…“
„Belgrad ist ein schöne Stadt“, zirpt der nächste. „Belgrads Straßen sind nach den skandinavischen die sichersten.“
Dann einer, alle anderen übertreffend: „Mann, ich mag Belgrad.“
Oder: „Belgrad hat das gewisse Etwas. Ist es der Kirschstrudel im kleinen Café auf der Terazije? Der Blick vom Dach des Hotels Casina? Der freundliche Buchverkäufer auf der Knez Mihajlova? Die ehrlichen Taxifahrer?“ Er kommt dann zu dem Schluss: „Mmm, Belgrad. Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder.“
Na gut, nach allem, was bisher geschrieben wurde, wer bin ich, um mit ihm zu streiten?
Also lasse ich es damit bewenden.
Der Autor wurde 1965 in Pula/Jugoslawien geboren. Für seinen ersten Roman „Cloaca Maxima“ (deutsch bei Rowohlt) bekam er 1995 den renommierten serbischen Nin-Literaturpreis.
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Kemper und Philipp Lichterbeck.
Von Vladimir Arsenijevic
I Travel Blogger
Es sieht so aus, als wäre es gerade in Mode, Belgrad zu mögen.
Nato-Bomben und eine jahrelange Vernachlässigung epischer Ausmaße haben ihre Narben hinterlassen, und trotzdem wandelt sich Belgrad, Hauptstadt Serbiens und Ex-Hauptstadt Ex-Jugoslawiens, zum neuen Lieblingsziel der Touristen. Die Zwei-Millionen-Stadt wird als cooles Reiseziel entdeckt – von unvoreingenommenen und abenteuersuchenden jungen Menschen, zumeist aus Westeuropa, die die sterile Sauberkeit wohlhabender Gesellschaften leid sind.
Vielleicht kommen sie auch, weil sie auf der Suche sind nach exotischem Material für ihre Travel Blogs. Ich habe einige Zeit im Internet gesurft und gelesen, was diese Besucher über meine Stadt schreiben – bis mir schwindlig wurde. Ich war überwältigt und ziemlich erschöpft.
Gut, Travel Blogs sind sich immer sehr ähnlich, das mag an einer Art Zusammengehörigkeitsgefühl liegen – aber die Beschreibungen Belgrads klingen fast alle gleich. Die Blogger sind angenehm überrascht, sie erwähnen ausnahmslos schöne Frauen, schick gekleidete Menschen, reichhaltiges Essen, quirliges Straßenleben, gute Englischkenntnisse der Belgrader und ihren Sinn für Humor, hunderte von Cafés, den traditionellen Hang der Stadt zur alternativen Kultur und Avantgarde, Rave-Parties in allen möglichen Locations, die zahlreichen Hausboote am Flussufer und das Nachtleben, das sich über das Morgengrauen in den nächsten Tag ausdehnt und niemals wirklich aufhört…
Offensichtlich gewinnt Belgrad leicht jene Art von Bewunderung, die für Orte reserviert ist, in die wir eigentlich nie wollten und nur durch irgendeinen Zufall hineingestolpert sind. Die meisten lieben es hier. Aber das ist verständlich. Sie leben ja nicht in dieser Stadt.
Sie können sie verlassen, wann immer sie wollen.
II Auf dem Weg zur Toilette
Wenn man hier festsitzt, fühlt sich das alles natürlich ein bisschen anders an. Lokalpatrioten würden das sicher bestreiten, aber in der einfachen Tatsache, aus Belgrad zu kommen, liegt ein Gefühl des Scheiterns, ja sogar des drohenden Unheils – es ist das Gefühl, dass man mit etwas mehr Glück in einem schöneren, größeren und cooleren Ort zur Welt gekommen wäre.
„Wäre Europa eine Kneipe, dann läge Belgrad irgendwo auf dem Weg zur Toilette“, bemerkte ein Freund von mir kürzlich sehr treffend während einer seiner spärlichen Besuche aus London, wo er seit 15 Jahren lebt. Er zog weg, um nicht in den damals in Kroatien tobenden Krieg eingezogen zu werden. Wir lachten laut auf, obwohl es doch eigentlich nichts zu lachen gab. Wie immer nervte die Stadt nach einigen Sommertagen meinen Freund wieder, also packte er seine Sachen und flog zurück nach London. Der Rest von uns blieb hier, noch leise in sich hineinglucksend. Wir konnten einfach nicht aufhören. Auf dem Weg zur Toilette, wie wahr!
Traurigerweise war es ein Witz auf unsere Kosten.
An diesem Tag, auf meinem Rückweg vom Flughafen in die Stadt, nachdem ich meinen Freund verabschiedet hatte und das Lachen sich immer noch an meine Lippen klammerte, sah ich, wie sich vor meinen Augen jenseits des schmutzigen Busfensters all diese vertrauten Straßen entfalteten. Ich spürte: Belgrad ist dieser eine Platz auf Erden, dem ich unmöglich entkommen kann. Ob er mir gefällt oder nicht, ist vollkommen egal. Was immer auch geschieht: Ich bin von hier, ich spüre es bis in meine Knochen, so einfach ist das. Theoretisch könnte ich natürlich beschließen, irgendwo anders zu leben, ich habe ja sogar anderswo gelebt, aber immer als Belgrader. Je mehr Distanz ich zwischen mich und die Stadt brachte, umso stärker fühlte ich diese seltsame Form krankhafter Liebe und unbedingter Sehnsucht. Ich kehrte zurück, immer wieder, aus London, Nikosia, Athen, Mexiko Stadt… um meinen Seelenfrieden zu finden, hier, wo ich herkomme und hingehöre, hier, auf dem Weg zur Toilette. Aber meine Gefühle und Erwartungen wurden jedes Mal enttäuscht.
Ich bin Belgrader, nicht freiwillig, sondern aus unvermeidbarem, erstickendem Schicksal.
Es kostet mich unmenschliche Anstrengungen, in Belgrad zu leben und es zugleich zu lieben. Wie so viele Menschen, die ich kenne, lebe ich in dieser Stadt und plane immer, sie zu verlassen. Dabei weiß ich ganz genau: Ich werde es nicht tun.
Und ich wundere mich: Ist es nur ein Zufall, dass diese drei Wörter, die mich seit so langer Zeit verfolgen, so gleich klingen: live, love, leave – leben, lieben, verlassen?
III Leben, lieben und verlassen
Gott, was für ein schmalziger Titel!, habe ich immer gedacht. Ich erröte heute noch ein bisschen, dabei ist es schon so lange her. Aber „Live, love and leave“ war tatsächlich der unglückliche Titel einer Kassette, geschrieben, gespielt, aufgenommen und produziert von meinem sensiblen Freund, einem vielversprechenden aber gescheiterten Musiker. Er lebte und arbeitete in einem der riesigen, legosteinartigen Apartment-Häuser aus den späten 70ern in Blok 64, dem Teil Novi-Beograds, der berüchtigt ist für seine Unmenschlichkeit. Sie wirkt wie eingebaut, als sei sie sorgfältig und gründlich von vornherein mit eingeplant. Der Wolkenkratzer, in dem er lebte, erhebt sich über einer Betonplatte und einer Mauer, die mit Stacheldraht bedeckt ist, eine Art Grenzwall zu einer Fabrik für landwirtschaftliche Geräte. Der Blick aus dem Fenster über den Hinterhof der Fabrik mit den in Reihen gestapelten Traktoren und Mähdreschern deprimierte meinen Freund so sehr, dass er nur niedrige Möbel in seinem Zimmer hatte, die sich knapp über den Boden erhoben. Auf diese Weise, erklärte er mir, während er es sich auf einem der zahlreichen im Wohnzimmer verstreuten Kissen gemütlich machte, könne er den Himmel sehen anstelle der hässlichen Fabrikanlagen und der Blöcke vorgefertigter Gebäude unterhalb seines Fensters.
Eines Morgens fuhren Arbeiter in orangefarbenen Overalls vor, und bevor mein Freund auch nur begreifen konnte, was vor sich ging, hatten sie Leitungsmasten direkt neben seinem Fenster errichtet. Dicke schwarze Kabel zerschnitten seinen geliebten Blick in den klaren blauen Himmel. Schon bald war er zu verzweifelt, um Gäste einzuladen. Klaustrophobie und tiefe Depression zogen ein. Die Musik, die er in seinem Schlafzimmer aufnahm, wurde düsterer und düsterer. Bis niemand sie mehr anhören mochte.
Eines Nachts, kurz vor Sonnenaufgang, brachte er sich um. Er schnitt sich tief in die Pulsadern, und während sein Blut den Raum besudelte, versuchte er noch, sich an der Heizung zu strangulieren. Kalt und tot fand ihn seine Mutter am nächsten Morgen auf dem Boden unter dem Fenster. Auf einen Zettel hatte er gekritzelt: „Ovako se ne živi…“ – So kann man nicht leben…
Heute, fast 20 Jahre später, fällt es mir schwer, mir meinen Freund bildlich ins Gedächtnis zu rufen. Ich schäme mich dafür, aber ich erinnere mich nicht einmal an seinen Namen. Er starb in den späten 80ern, und kurz nach seinem Selbstmord kamen die 90er, schön und fröhlich für die einen, dunkel und tragisch für uns, mit Kriegen und Zerstörung, ausufernder Gewalt und Elend. Die 90er, in denen nach ihm noch viele starben, während andere die Stadt und das zerfallende Land hastig verließen, um nie wiederzukehren. Vor dieser Kulisse endloser Schrecken und Traurigkeit wurde mir schmerzhaft bewusst, dass Belgrad nur zwei Sorten Menschen hervorbringt: solche, die zu früh und gewaltsam sterben, und solche, die es für immer verlassen. Die meisten meiner Freunde haben einen dieser Pfade beschritten, während ich irgendwo dazwischen für immer gefangen zu sein scheine, in der Rolle des ständigen Beobachters…
Diese Erkenntnis gab mir ein Gefühl wahrer Tragik, die Stadt allerdings erschien in meinen Augen nicht liebenswerter. Ganz im Gegenteil.
Aber ich entdeckte, dass ich zumindest darüber schreiben konnte.
IV Von Toten und Fortgezogenen
Es gibt Städte in dieser Welt, die ihren Einwohnern unentwegt Fragen stellen, die man nicht beantworten kann. Belgrad ist eine davon. Was machen mit dieser Stadt? Wie kann ich nur hier leben und zufrieden sein? Wenn Du an solch einen Ort gebunden bist, dann wirst Du unfreiwillig sehr vertraut mit ihm, und es wird immer schwerer, ihn angemessen zu hassen. Entweder du lebst in dieser Stadt, und du liebst sie – oder du gehst einfach. Letzteres natürlich nur, wenn du kannst. Einer meiner Freunde ist rechtzeitig nach London gegangen, ein anderer hat sich umgebracht, als er es nicht mehr aushielt. Währenddessen hänge ich hier noch rum, obwohl meine Beziehung zu Belgrad nichts von einer Liebesaffäre hat, nicht mal von einer wackeligen Beziehung. Aus der Hassliebe, die wir automatisch zu jeder Stadt entwickeln, in der wir lange genug leben, ist im Fall Belgrad und mir nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, nur der Hass übrig geblieben. Aber wir haben uns nicht getrennt, und wir werden es auch niemals tun. Es ist so wie in jeder gescheiterten Ehe, in der die Partner sich so aneinander gewöhnt haben, dass sie unfähig geworden sind, alles einfach zu beenden.
Es ist 2006, und Belgrad ist nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für eine prosperierende Stadt. Sie ist wie ein zurückgebliebenes Kind, das nie die Chance hatte, sich normal zu entwickeln. Ein Underdog, oder im besten Fall ein Boxer, den man übel zusammengeschlagen hat und der jetzt ohne Hilfe seine Wunden leckt. Belgrad war und ist die Heimat einiger der dümmsten und bösartigsten Politiker unserer Zeit. Einige der berüchtigtsten Kriegsverbrecher verstecken sich hier. Alles gleicht einem unendlichen Chaos: Die Wirtschaft geht nieder, Armut ist weit verbreitet, und es ist unmöglich, ein Visum für reichere Länder zu bekommen. Wenn man zu oft in Belgrad ist, fühlt man sich wie in einem versiegelten Scheißloch, das jeden Moment explodieren könnte. Ich beneide diejenigen, die an Orten leben, die sie mögen und in denen sie aufgehen. Ich betrachte das als Privileg, das mir seit meiner Jugend verwehrt worden ist.
Ich vermute, dass das dazu beigetragen hat, dass ich mich an meinen toten Musikerfreund erinnerte, während ich meinen Kopf gegen die kalte, dreckige Fensterscheibe des rumpelnden Busses lehnte, der mich ins Zentrum brachte, nachdem ich am Flughafen den anderen Freund verabschiedet hatte. Meistens zieht es mich runter, wenn ich Belgrad aus dem Bus betrachte. Also begann ich zu mir selbst zu sprechen und sprach doch gleichzeitig zu meinem toten Freund: „Du hattest Recht. So sollte man nicht leben. Du hattest so schrecklich Recht.“ Ich schüttelte meinen Kopf und kämpfte mit den Tränen. Dann nahm ich mich zusammen. Denn ich weiß, dass dies nur Launen sind, eine Art mechanischer Reaktion, ein Phantomschmerz. So, als wenn einer glaubt, seine amputierten Gliedmaßen zu spüren.
In Wirklichkeit schreitet die Zeit mit Siebenmeilenstiefeln voran. Die schlimmen 80er Jahre sind Gott sei dank vorbei (keine hässlichen Haarschnitte, keine doofen Designerklamotten mehr) und die 90er (tragischer als in unseren schlimmsten Alpträumen) liegen auch hinter uns. Wir haben viel durchgemacht, aber wir schreiben das Jahr 2006, und das Leben normalisiert sich.
Obwohl, manchmal scheint es, als seien einige von uns für immer infiziert mit der Vergangenheit. Wenn sie es überhaupt geschafft haben, die dunkle Ära zu überleben.
Also, vergessen wir mich, wie ich in diesem ruinierten Bus sitze und meine Nase gegen das dreckige Fenster drücke. Und denken wir nicht an meine toten und vor langer Zeit gegangenen Freunde.
Es ist eine Tatsache: Keiner von uns hat allzu viele nette Dinge zu erzählen.
V Kirschstrudel
Wenn ich nämlich Sie wäre, würde ich eher auf die Leute hören, die in ihren Travel-Blogs über Belgrad schreiben. Ein Trost liegt in der Gleichförmigkeit ihrer Berichte, und absurderweise begreifen diese Reisenden die Stadt vielleicht viel besser, als ich es jemals könnte.
Also los: „Ich war angenehm überrascht“, schreibt einer, „pulsierende Straßen mit Mengen von schick angezogenen Einkäufern und Kaffeetrinkern. Belgrad fühlte sich eher westlich als östlich an.“ – „Die Serben sind wunderschöne Menschen“, schreibt ein anderer, „groß gewachsen und mit markanten Wangenknochen. Am Anfang ernst, ausdruckslos und reserviert, dann warm lächelnd und bescheiden grüßend…“
„Belgrad ist ein schöne Stadt“, zirpt der nächste. „Belgrads Straßen sind nach den skandinavischen die sichersten.“
Dann einer, alle anderen übertreffend: „Mann, ich mag Belgrad.“
Oder: „Belgrad hat das gewisse Etwas. Ist es der Kirschstrudel im kleinen Café auf der Terazije? Der Blick vom Dach des Hotels Casina? Der freundliche Buchverkäufer auf der Knez Mihajlova? Die ehrlichen Taxifahrer?“ Er kommt dann zu dem Schluss: „Mmm, Belgrad. Ich hoffe, ich sehe dich bald wieder.“
Na gut, nach allem, was bisher geschrieben wurde, wer bin ich, um mit ihm zu streiten?
Also lasse ich es damit bewenden.
Der Autor wurde 1965 in Pula/Jugoslawien geboren. Für seinen ersten Roman „Cloaca Maxima“ (deutsch bei Rowohlt) bekam er 1995 den renommierten serbischen Nin-Literaturpreis.
Übersetzung aus dem Englischen: Anna Kemper und Philipp Lichterbeck.