Kein amtierender Botschafter geht gegen sein Land vor Gericht – keiner, ausser Jakob Finci, Botschafter der Republik Bosnien-Herzegowina in Bern. Weil sein Land die Menschenrechte verletzt.
Jakob Finci, seit Anfang Jahr Botschafter der Republik Bosnien-Herzegowina in der Schweiz, möchte Präsident seines Landes werden. Oder zumindest grundsätzlich das Recht haben, als Präsident zu kandidieren. Die Verfassung seines Heimatlandes verwehrt ihm die Kandidatur jedoch – weil Finci jüdischen Glaubens ist. Deshalb hat er sein Land vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wegen Diskriminierung eingeklagt – eine Diskriminierung, die ausgerechnet das Friedensabkommen von Dayton zu verantworten hat, das unter internationaler Vermittlung 1995 das Ende des Bosnien-Krieges herbeiführte. Das Strassburger Verdikt wird noch im September erwartet.
Jüdisch-europäische Biografie
Fincis bosnische Lebensgeschichte reflektiert die grossen Verwerfungen, die Europa im vergangenen Jahrhundert zerrissen haben. Sprössling einer alteingesessenen jüdischen Familie, die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs aus Sarajevo flüchtete, ist er 1943 in einem Internierungslager in Italien geboren. «85 Prozent der bosnischen Juden haben den Holocaust nicht überlebt», erzählt Finci. Seine Familie hat Glück. Nach dem Krieg, zurück im sozialistischen Jugoslawien, verläuft das Leben in geordneten Bahnen. Finci studiert Recht, heiratet und wird Vater zweier Söhne. Er arbeitet als Anwalt und ist für Energoinvest tätig, die damals grösste jugoslawische Exportfirma – zuletzt in einer Abteilung, die den Übergang von der Staatswirtschaft zur freien Marktwirtschaft vorbereiten soll. Und dann, 1992, kommt wieder ein Krieg.
Der Zerfall Jugoslawiens hatte mit den Kriegen in Slowenien und Kroatien bereits im Vorjahr begonnen, dann erreichte die Gewalt auch Bosnien. «Im Krieg braucht niemand Juristen, im Krieg sprechen nur die Gewehre», sagt Finci und erzählt, wie er damals erst Vizepräsident und dann Präsident von «La Benevolencija» wurde, einer über hundert Jahre alten humanitären Organisation der jüdischen Gemeinde. «Im Sozialismus war es natürlich verboten, Organisationen zu betreiben, die sich über die Religionszugehörigkeit definierten. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus haben wir ,La Benevolencija‘ aber wiederbelebt, und während des Krieges konnten wir vielen Menschen in Sarajevo helfen. Nicht nur den Juden, sondern allen. Wir operierten auf einer strikt nichtkonfessionellen Basis.» «La Benevolencija» versorgte die Bevölkerung beispielsweise mit Medikamenten und betrieb eine Suppenküche, die in Sarajevo täglich bis zu 350 Mahlzeiten verteilte.
Der Krieg sollte gut dreieinhalb Jahre dauern, gegen 100000 Menschen wurden getötet, Sarajevo war fast vier Jahre lang belagert. Auch sieben Mitglieder der jüdischen Gemeinde, die damals einige Hundert Köpfe zählte, kamen in jener Zeit ums Leben, erschossen von Scharfschützen. «Das waren zufällige Todesopfer. Juden waren nicht Angriffsziel – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte waren wir nicht Opfer, weil wir Juden waren.» Seit 450 Jahren gibt es Juden in Sarajevo, in der überwiegenden Mehrheit Sepharden, die vor der spanischen Inquisition flohen und hier eine neue Heimat fanden. «Assimiliert haben wir uns nie, aber wir waren stets gut integriert», sagt Finci, der nebst Bosnisch und Englisch auch Ladino spricht, das sephardische Pendant zum osteuropäischen Jiddisch.
Friedensabkommen mit Makel
Nach fast vier todbringenden Kriegsjahren wurde im November 1995 im US-amerikanischen Dayton ein Abkommen ausgehandelt, das die Kriegshandlungen stoppen sollte. Serbiens Präsident Slobodan Milosevic als Vertreter der bosnischen Serben, der kroatische Präsident Franjo Tudjman und Bosniens Präsident Alia Izetbegovic einigten sich darauf, das Gebiet aufzuteilen: In der Republika Srpska würde fortan eine serbische Mehrheit leben und regieren, in der bosnisch-herzegowinischen Föderation je eine Mehrheit von muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten. «Ohne Dayton würden wir jetzt noch Krieg führen», sagt Jakob Finci: «Dass das Friedensabkommen aber gleichzeitig auch eine neue Verfassung beinhaltete, finde ich doch etwas seltsam.»
Die Verfassung, Anhang Nummer 4 des Dayton-Abkommens, zementiert die Machtteilung entlang ethnischen Grenzen und schafft in Bosnien vier Kategorien von Bürgern: Bosniaken, Kroaten, Serben und «andere». Diese «anderen» – Roma, Juden, Kinder aus gemischten Ehen und Angehörige weiterer Minderheiten – sind vom höchsten Staatsamt ausgeschlossen. «Das widerspricht eindeutig der Europäischen Menschenrechtskonvention», sagt Finci. «Im Jahr 2005 hat Bosnien das 12. Zusatzprotokoll der Konvention unterzeichnet und ratifiziert; das Protokoll enthält das allgemeine Diskriminierungsverbot. Damit hatte ich eine Handhabung, um meinen eigenen Staat in Strassburg vor Gericht zu ziehen.» Auch Dervo Sejdic, ein bosnischer Roma, hat Klage gegen Bosnien eingereicht, und im vergangenen Juni präsentierten Finci und Sejdic ihren Fall vor der Grossen Kammer des Gerichtshofes.
Mangel an politischem Willen
Er sei kein Brutus, der Cäsar töten wolle – wiewohl er sein Heimatland vor Gericht ziehe, sei es nicht ein Fall gegen, sondern für Bosnien, sagt Finci: «Es ist seltsam, aber fast alle Politiker in Bosnien unterstützen mich. Sie sagen mir: ,Jakob, du hast recht, du musst das Recht haben zu kandidieren – aber es liegt nicht an mir, Veränderungen anzustossen.‘ Bis jetzt hat es also schlicht am politischen Willen gemangelt, die Verfassung zu ändern.»
Möchte Jakob Finci wirklich Präsident der Republik Bosnien-Herzegowina werden? Der Botschafter lächelt verschmitzt und sagt, es sei noch etwas früh, um diese Frage zu beantworten, erst müssten er und Sejdic den Fall gewinnen. «Ich glaube nicht, dass es zwischen den Menschen verschiedenen Glaubens und verschiedener Volkszugehörigkeit grosse Unterschiede gibt. Wer qualifiziert ist, kann Präsident werden, ob er nun jüdisch, katholisch, muslimisch oder was auch immer ist.» Als bosnischer Jude sei er vielleicht noch bosnischer als die anderen Bosnier – weil er nicht direkt ins Kriegsgeschehen involviert gewesen sei, empfinde er keinen Hass auf die anderen Volksgruppen.
Bosnier, Jude, Anwalt, Botschafter: Jakob Finci ist nebst dem allem jedoch zunächst einmal Humanist. Würde das kriegsversehrte Bosnien einen Humanisten wählen wollen, kann man sich Finci durchaus als umsichtigen Präsidenten vorstellen.