Murat kann sich glücklich schätzen. Seine Frau ist keine Schlampe und kann einen köstlichen Döner Kebap zubereiten. Und wenn er das Bier immer freundlich lächelnd serviert, so klopft ihm der rotgesichtige, blonde Schnauz, nachdem er mit der Brille und dem Zigarillo ein paar äusserst originelle Türkenwitze ausgetauscht hat, auch mal freundschaftlich auf die Schulter. Am Ende eines jeden arbeitsreichen Tages schliessen Murat und seine Frau Gülçen ihr Restaurant, gehen dann nach Hause, wo sie ihm ein Glas Raki vom letzten Heimaturlaub einschenkt und sehen sich vielleicht noch einen Actionfilm mit Abdullah Gümüs an, über Satellit. Nachdem Murat seinen missratenen Sprössling zur Ordnung gerufen hat, gehen sie zu Bett, wo sie friedlich, jeder für sich, nach Kebap riechend, einschlafen. Zuhause, in Anatolien, drückt Murat seiner Neffenschar jedem einen Hunderter in die Hand, zwinkert ihnen zu und zerwuschelt ihnen die Haare. In der Dorfkneipe spendiert er ein paar Runden und während er erzählt, dass in der Schweiz Milch und Honig fliessen und das Geld auf Bäumen wächst, wirft er der Serviererin, die von allen liebevoll Schätzchen genannt wird, ein paar unzüchtige Blicke zu. Derweil sitzt seine Frau zusammen mit ihrer Schwester zuhause und beklagt sich, während sie seine Socken stopft.
Murat hatte sieben Brüder. Alle älter. Er hatte mal einen jüngeren, doch der war bei der Geburt gestorben und hatte seine Mutter gleich mitgenommen. Sein Vater starb kurz darauf vor Trauer. Damals war Murat sechs Jahre alt. Von diesem Augenblick an, kümmerten sich seine Grosseltern um ihn und die anderen beiden minderjährigen Brüder. Die schon volljährigen, fünf an der Zahl, kamen zwei Jahre später bei einem Bombenanschlag, den ein paar kurdische Separatisten auf eine Diskothek in Istanbul verübt hatten, ums Leben. Sein Grossvater tröstete die verbliebenen drei liebevoll, indem er ihnen immer wieder eintrichtete, dass sie wenigstens besoffen waren als sie starben, und deswegen sowieso nichts spürten. Der Grossvater trank nämlich selber gerne mal einen über den Durst und verspielte das wenige Geld, das die Familie zum Leben brauchte. Während die Grossmutter für ein paar spärliche Almosen die Wäsche für das ganze Dorf wusch, unten am Fluss, half Murat manchmal oben auf dem Berg, auf dem Friedhof, beim Totengräber aus. Einer seiner Brüder landete später im Gefängnis, nachdem er versucht hatte, die türkische Nationalbank in Ankara auszurauben und dabei drei Wachmänner erschoss. Der andere eröffnete die Dorfkneipe. Als Murat siebzehn war, starb auch der Totengräber, den Murat beerdigte und seinen Posten übernahm. Er heiratete die gleichaltrige Gülçen aus dem Nachbardorf. Die Mitgift waren zwei Schafe und ein Stück Eselsuçuk, sowie eine Flasche selbstgebrannter Raki, den er aber seinem Grossvater stehlen musste, als dieser wieder mal seinen Rausch ausschlief. Murat beschloss ins Ausland zu gehen, da das Geld, das er als Totengräber verdiente, kaum reichte, um sie beide zu ernähren. Er lieh sich von seinem Bruder, der es mit seiner Kneipe zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatte, Geld für die Reise und vertraute ihm dafür seine Frau als Pfand an. Schliesslich machte sich Murat mit einer Unterhose zum wechseln und zwei Paar Reservesocken auf den Weg ins gelobte Land. Die Schweiz. Er hatte nämlich gehört, dass hier Milch und Honig fliesst und das Geld auf Bäumen wächst. Und tatsächlich, die Schweiz empfing ihn mit offenen Armen. Es war in den Siebzigern und es gab genug Arbeit. Das Geld wuchs zwar nicht auf Bäumen und wenn man gelernt hatte, einen Presslufthammer zu bedienen, konnte man sich die Milch und den Honig auch im Laden besorgen. Seine Frau konnte vom Geld, das Murat ihr regelmässig nach Hause schickte, bald die Schulden bei seinem Bruder bezahlen, und musste nun nicht mehr länger mit ihm schlafen. Jeden Winter musste Murat nach Anatolien zurückkehren, da er Saisonier war in der Schweiz. Er tauchte da jedes mal mit einem neuen Anzug auf und bald wuchs ihm auch ein stattlicher, schwarzer Schnurrbart, den er nicht ohne einen gewissen Stolz vor sich hertrug. Nach ein paar Jahren bekam Murat eine Aufenthaltsbewilligung und konnte Gülçen zu sich in die Schweiz holen. Sie bekamen einen Sohn und nannten ihn Ulas. Kein schlechtes Leben. Doch bald kam die Wende. In Osteuropa zerbrach der Kommunismus, und wenige Jahre danach spürte man die folgen auch in der Schweiz. Die Privatwirtschaft war nun nicht mehr zu bremsen. Stellen wurden abgebaut, das Sozialsystem wurde immer weiter ausgehöhlt. Murat wurde arbeitslos. Er nahm bei einem Landsmann, der ein Reisebüro und eine Kreditanstalt betrieb, und nebenbei Geld wusch, einen Kredit auf und eröffnete ein Kebaprestaurant. Es sprach sich bald in der ganzen Stadt herum, dass seine Frau den besten Döner weit und breit zubereitet. Das Geschäft lief so gut, dass sie bald auch noch jemanden einstellen konnten. Murat konnte den Kredit inklusive der horrenden Zinsen bald zurückzahlen. Er war nun sein eigener Chef und konnte von den Einnahmen seine Familie ernähren. Zwar wurden sie davon nicht reich, konnten sich aber ein Haus in Anatolien bauen, leisten sich in der Schweiz eine Vierzimmerwohnung und ihr Sohn Ulas hat die Chance, eine gute Ausbildung zu geniessen.
Ja, Murat kann sich glücklich schätzen. Wenn er nur seinem Sohn irgendwie klarmachen könnte, was er alles auf sich nehmen musste, um ihm ein Leben zu bieten, das er selbst nie hatte. Anstatt seine Chancen wahrzunehmen, hält sich Ulas nämlich für einen Gangsta der seinen wenigen schweizer Mitschülern tagtäglich Ausländerslang beibringt, damit sich diese auch so cool gebärden können wie er. Murat hat auch schon versucht ihn zum Hausafgaben Erledigen zu bewegen, indem er ihm den Fernseher und die Playstation weggenommen hat. Auch die seltsame Pflanze, die ihm den Kopf vernebelt hat er ihm weggenommen. Dies hat aber alles nichts genützt. Stattdessen hält ihn sein Sohn jetzt für einen Hipne (türk. für Schwuchtel) und hat eine Jugendgang gegründet, die sich nach der Postleizahl des Quartieres nennt. Murat wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als Ulas nach Anatolien zu schicken, wo er ihn mit einem Mädchen verheiraten kann. Er weiss auch schon welches. Murat weiss, der Vater des Mädchens wäre bestimmt einverstanden. Dann würde endlich wieder alles in Ordnung, und er und seine Frau könnten sich auf ihren Loorbeeren ausruhn.