Ja, ich weiß. Es ist lang. Zweieinhalb Seiten lang, um genau zu sein. Ist eine Geschichte, die spontan "aus einer Schreiber-Herausforderung" entstanden ist. Und weil ich den Thread hier viel zu Schade finde, um ihn in der Versenkung verschwinden zu lassen, brauche ich halt einen Grund um ihn wieder hervor zu holen. Also dann, Bühne frei für "Baba"
Sie lässt den Blick über das schweifen, was einmal ihr zuhause gewesen war. Dort hinten kann sie noch die Grundmauern des alten Schuppens erkennen. In dem hatten schon ihre Urgroßeltern Heu und Stroh für das Vieh bevorratet. Jetzt war da nichts mehr, nur Steine, verbranntes Holz, Asche. Daneben hatte einmal ein Haus gestanden. Ihr Haus. In dem hatte sie ihre Kinder großgezogen. Es sind großartige Kinder geworden. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter. Heute sind alle bereits verheiratet, haben Kinder, ihre eigenen Familien. Sie seufzt als ihr in den Sinn kommt, dass keines ihrer Enkelkinder hier jemals über die Wiesen und Felder laufen wird, so wie es ihre Kinder einst getan haben. Ihre Kinder, sie waren damals so tapfer. Sie denkt zurück an das letzte Mal, dass sie hier an diesem Platz den Blick auf Haus, Schuppen, Ställe geworfen hat. Das war vor über zehn Jahren gewesen. Damals waren Soldaten gekommen und haben gesagt, man gäbe ihnen eine Stunde. Wofür bloß, hatte sie gefragt. Na, zum packen, hatte einer der jungen Soldaten geantwortet. Sie kann sich erinnern, dass er kaum älter gewesen sein mochte als ihr jüngster Sohn. Sie mochte den Soldaten, er sah ihrem Jungen sogar ein bisschen ähnlich. Damals, das kam alles so unerwartet. So plötzlich. Und doch hatten sie alle gewusst, dass Krieg herrschte, dass er ausgebrochen war, dass die Männer an der Spitze sie alle über die Klingen springen lassen würden. Aber sie sollte das doch nie treffen. Ja, es herrscht Krieg. Aber bei uns doch nicht. Genau das hatte sie auch dem jungen Soldaten gesagt, doch er hatte sie angeschrien, wenn sie nicht in einer Stunde weg wären, würde er sie über den Haufen schießen. Ihre Kinder haben sie gerettet. Ihre Söhne hatten alles Greifbare auf den Traktor geladen, ihre Töchter so viel Essbares wie möglich zusammen gepackt. Das Vieh hatte sie selbst freigelassen. Heute kann sie sich nicht mehr genau erinnern, ob sie damals geweint hat. In den letzten Jahren hat sie so viel geweint, da wusste sie einfach nicht mehr wann sie damit angefangen hatte. Gut möglich das es an dem Tag war, an dem der junge Soldat mit seinen Kumpanen ihren Hof übernommen hat. An dem man sie aus ihrem Heim vertrieben hat mit nicht mehr als dem, was auf die Ladefläche eines Traktorhängers passt. Und mit fünf Kindern, keiner von ihnen damals älter als achtzehn. Sie geht einige Schritte die Straße entlang. Auf ihr Haus zu. Auf den Fleck verbrannte Erde, auf dem es einmal gestanden hatte. Hier sind sie gründlicher gewesen als beim Schuppen. Nicht mal ein Stein war übrig. Nicht mal ein Stückchen Holz. Auch keine Asche. Nur verbrannte Erde. Sie dreht sich um, schaut an die Stelle wo ihre Felder beginnen, wo früher der Wald war, und auch auf das stinkende Loch im Boden keine vier Meter weiter welches mal ein wundervoller Brunnen mit eiskaltem, klaren Wasser gewesen war. Sie fühlt sich müde, ausgelaugt. So, als wäre sie am Ende eines langen Marsches. Sie lässt sich auf die verbrannte Erde fallen und starrt lange schweigend vor sich. Genau hier hatte sie früher immer morgens gesessen, den ersten Mokka des Tages geschlürft, die Ruhe um sich herum genossen und auf die wuchtigen Berge vor ihr geschaut. Deswegen war die Luft hier so klar. Wegen der Berge. Wegen der Höhe. Sie schließt die Augen und atmet tief ein . Ja, die Luft, diese kristallklare Luft, die hat sich nicht verändert. Fast dachte sie, alles wäre wieder wie es einmal war, wenn sie jetzt die Augen wieder öffnet. Doch ihr Verstand weiß es besser.
Es ist alles fort. Alles. Vernichtet. Wegen nichts. Wegen absolut nichts. Wegen irgendwelcher dummer Menschen, die beschlossen haben, man müsse andere Menschen hassen. Man müsse Unterschiede finden, die Jahrzehnte lang keinen interessiert haben, jetzt aber als Grund für Hass herhalten müssen. Dumme Menschen. Also lässt sie die Augen lieber geschlossen, hört ihrem Herzschlag zu. Langsam ist er. Sie stellt sich vor, wie es wohl wäre wieder hier zu leben. Wieder mischt sich ihr Verstand ein.
Unmöglich. Der Hass sitzt zu tief. Unmöglich. Selbst das du heute hier bist bedeutet Gefahr. Du solltest gehen. Es gibt hier nichts mehr für dich. Niemanden. Nur Tote, auf deren verwachsenen Gräbern du nur erahnen kannst wer dort liegt. Selbst die Grabsteine sind zerstört. Es gibt nichts hier, was dich an dein Leben hier erinnern kann. Oder an das Leben deiner Eltern. Oder an das, ihrer Eltern. Es ist alles weg. Nein, nicht alles. Die Berge sind noch da, die konnten sie nicht zerstören. Und mein Gefühl ist auch noch da. Dieses Gefühl, dass ich hier hin gehöre. Wie ein alter Baum, der seine Wurzeln in heimischer Erde ausbreitet. Das können sie auch nicht zerstören. Niemand kann das. Sie beschließt nicht mehr zu gehen. Einfach die Augen nicht mehr zu öffnen, hier zu bleiben. Wer könnte ihr das heute verbieten? Die Soldaten waren schon lange abgezogen. Hatten alles vernichtet, ihr Leben zerstört, und waren dann einfach in das nächste Dorf gezogen. Heute gab es keine Soldaten mehr hier. Heute sah man höchstens einige seltsame ausländische Menschen von irgendwelchen Hilfsorganisationen, die den Leuten Hilfe versprachen. Doch die kam nicht. Zumindest nicht zu denen, die alles verloren hatten. So wie sie. Mit einem Lächeln hört sie, wie ihr Herzschlag langsamer wird. Sie freut sich.
Wenn ich nur lang genug hier sitze, werde ich meinen Mann wiedersehen. Das wäre schön. Der war nämlich damals nicht mit ihnen auf dem Hof gewesen, als die Soldaten kamen. Der war im Krieg und verteidigte Ehre und Vaterland.
Was auch immer das ist, denkt sie und seufzt.
Ich kann es kaum erwarten ihn wiederzusehen. Also bleibt sie auf dem verbrannten Boden sitzen, mit geschlossenen Augen, und wartet, dass ihr Herz endlich aufhört zu schlagen.