
Rede zum 80. Befreiungstag des KZ Buchenwald
Sehr geehrte Menschen,
es war eine sehr schwere Aufgabe, eine Rede für heute zu schreiben. Weil ich keine Überlebende bin. Weil ich eine Nachfahrin der Überlebenden bin. Weil ich als Brücke zwischen den Generationen sprechen muss. Zwischen jenen wenigen, die noch bei uns sind, und allen, die das Grauen der Abwertung des Menschen nie erlebt haben. Ich selbst kenne es nur aus Erzählung, aus Schweigen, aus einem beinahe epigenetisch vererbten Schreck, mit dem ich aufgewachsen bin. Aus den Bruchstücken meiner eigenen Identität, irgendwo zwischen jüdisch, russisch, ukrainisch, deutsch, verstreut in alle Winde. Mühevoll studierend, was meine Familie mal ausgemacht hat, worüber mein Großvater schwieg. Was meine Religion ist, was meine Rituale sind. Ich traue mich nur, das hier zu erzählen, weil es so vielen in meiner Generation der Nachgeborenen so geht. Ich bin schon verwirrt, wenn man mich nach meiner Heimat fragt. Nach meiner Identität. Wie sollen wir mit der Verantwortung umgehen, für die Toten zu sprechen? Für unsere Vorfahren? Genau diese Bürde nehmen mehr und mehr von uns an, je mehr der Überlebenden von uns gehen und nicht aus erster Hand mahnen können.
Ich habe lange gehadert, diese Rede zu schreiben. Und dann habe ich die Rede geschrieben, die ich NICHT hier halten werde. Es war die erwartbare, anzunehmende Rede. Über die Schrecken des Faschismus und über die Mahnung zur Verantwortung und über lebendiges Gedenken und darüber, wie „Nie wieder“ jetzt ist. Aber Sie kennen diese Sätze alle schon. Ich kenne sie alle. Ich habe in der Schule jahrelang alles darüber gelernt. Auch wir haben Gedenkstätten besucht.
Und heute stehe ich da und frage mich – hat das alles eigentlich funktioniert? Wieviel haben wir wirklich gelernt, wenn wir heute Faschismus nicht erkennen?
Falls Sie Sorge haben, dass ich auf einer Gedenkveranstaltung politisch werden könnte: ich werde politisch. Das hier ist politisch. Schon immer. Ich würde meine demokratische und meine menschliche Pflicht gegenüber allen Opfern verfehlen, wenn ich gerade hier nicht klar politisch werde. Wir erleben den Aufstieg eines internationalen Faschismus. Zum Beispiel auf das System in Russland und zunehmend auf die USA lassen sich sämtliche wissenschaftlichen Definitionen des Faschismus anwenden. Das zu erkennen und auszusprechen ist genau der Widerstand, zu dem auf solchen Gedenkveranstaltungen immer gemahnt wird und ich will ihn leisten. Wir stehen hier WEIL wir wissen, wohin es führt, wenn man verschiedenen Menschen verschiedene Würde zuschreibt. Wenn man unerwünschte Identitäten definiert. Wenn man den Rechtsstaat zerstört. Das unermessliche Leid des hier erlebten IST unser Mahnmal und es ist die Aufgabe meiner Generation, laut darüber zu sein.
Und ist es nicht bigott, hier zu mahnen und mit dem Finger auf Russland oder die USA zu zeigen, während auch wir uns im Wahlkampf primär damit befasst haben, wen wir alles abschieben können? Wenn wir auf der Schwelle stehen, wieder zwei Klassen der deutschen Staatsbürgerschaft einzuführen? Die einen, die sie ganz selbstverständlich haben dürfen, und die anderen, wie ich, mit Migrationsgeschichte, die Sorge haben müssen, sie zu verlieren für das genau gleiche Vergehen?
marinaweisband.de
Sehr geehrte Menschen,
es war eine sehr schwere Aufgabe, eine Rede für heute zu schreiben. Weil ich keine Überlebende bin. Weil ich eine Nachfahrin der Überlebenden bin. Weil ich als Brücke zwischen den Generationen sprechen muss. Zwischen jenen wenigen, die noch bei uns sind, und allen, die das Grauen der Abwertung des Menschen nie erlebt haben. Ich selbst kenne es nur aus Erzählung, aus Schweigen, aus einem beinahe epigenetisch vererbten Schreck, mit dem ich aufgewachsen bin. Aus den Bruchstücken meiner eigenen Identität, irgendwo zwischen jüdisch, russisch, ukrainisch, deutsch, verstreut in alle Winde. Mühevoll studierend, was meine Familie mal ausgemacht hat, worüber mein Großvater schwieg. Was meine Religion ist, was meine Rituale sind. Ich traue mich nur, das hier zu erzählen, weil es so vielen in meiner Generation der Nachgeborenen so geht. Ich bin schon verwirrt, wenn man mich nach meiner Heimat fragt. Nach meiner Identität. Wie sollen wir mit der Verantwortung umgehen, für die Toten zu sprechen? Für unsere Vorfahren? Genau diese Bürde nehmen mehr und mehr von uns an, je mehr der Überlebenden von uns gehen und nicht aus erster Hand mahnen können.
Ich habe lange gehadert, diese Rede zu schreiben. Und dann habe ich die Rede geschrieben, die ich NICHT hier halten werde. Es war die erwartbare, anzunehmende Rede. Über die Schrecken des Faschismus und über die Mahnung zur Verantwortung und über lebendiges Gedenken und darüber, wie „Nie wieder“ jetzt ist. Aber Sie kennen diese Sätze alle schon. Ich kenne sie alle. Ich habe in der Schule jahrelang alles darüber gelernt. Auch wir haben Gedenkstätten besucht.
Und heute stehe ich da und frage mich – hat das alles eigentlich funktioniert? Wieviel haben wir wirklich gelernt, wenn wir heute Faschismus nicht erkennen?
Falls Sie Sorge haben, dass ich auf einer Gedenkveranstaltung politisch werden könnte: ich werde politisch. Das hier ist politisch. Schon immer. Ich würde meine demokratische und meine menschliche Pflicht gegenüber allen Opfern verfehlen, wenn ich gerade hier nicht klar politisch werde. Wir erleben den Aufstieg eines internationalen Faschismus. Zum Beispiel auf das System in Russland und zunehmend auf die USA lassen sich sämtliche wissenschaftlichen Definitionen des Faschismus anwenden. Das zu erkennen und auszusprechen ist genau der Widerstand, zu dem auf solchen Gedenkveranstaltungen immer gemahnt wird und ich will ihn leisten. Wir stehen hier WEIL wir wissen, wohin es führt, wenn man verschiedenen Menschen verschiedene Würde zuschreibt. Wenn man unerwünschte Identitäten definiert. Wenn man den Rechtsstaat zerstört. Das unermessliche Leid des hier erlebten IST unser Mahnmal und es ist die Aufgabe meiner Generation, laut darüber zu sein.
Und ist es nicht bigott, hier zu mahnen und mit dem Finger auf Russland oder die USA zu zeigen, während auch wir uns im Wahlkampf primär damit befasst haben, wen wir alles abschieben können? Wenn wir auf der Schwelle stehen, wieder zwei Klassen der deutschen Staatsbürgerschaft einzuführen? Die einen, die sie ganz selbstverständlich haben dürfen, und die anderen, wie ich, mit Migrationsgeschichte, die Sorge haben müssen, sie zu verlieren für das genau gleiche Vergehen?

Rede zum 80. Befreiungstag des KZ Buchenwald - Marina Weisband
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