Erboste Mahnungen aus dem Ausland sind Albanien sicher, wenn es wieder einmal eine mögliche Union mit Kosovo ins Spiel bringt. Hinter der Forderung steckt aber mehr politische Folklore als konkretes Programm.
Wie ein raubeiniger Nationalist tritt Kreshnik Spahiu nicht auf. In elegantem Zwirn gekleidet und mit sorgsam geliertem Haar wirkt er eher wie ein Banker an der Wall Street. Doch das Büro des 44-Jährigen befindet sich in einer Nebenstrasse Tiranas, in der unprätentiösen Zentrale der im März 2012 von ihm gegründeten «Allianz Rot und Schwarz» (AK). Dass der Jungpolitiker, der leise und bedacht spricht, von seinen Gegnern als Gefahr für die Stabilität des Westbalkans bezeichnet wird, erschliesst sich dem Besucher nicht ohne weiteres. Irritieren muss höchstens, dass im Büro des Parteichefs an den Wänden diverse Namen von Städten aufgelistet sind, die eigentlich weit ausserhalb der albanischen Staatsgrenzen liegen, etwa in Kosovo, Griechenland, Mazedonien, Montenegro oder Serbien.
Idee mit Sprengkraft
Spahiu sorgt denn auch vor allem aus einem Grund für Gezänk: Seine Partei, die ihren Namen den albanischen Landesfarben entliehen hat, setzt sich für eine Vereinigung Albaniens und Kosovos ein, und zwar mittels einer Volksbefragung. Dieses von der AK aus dem Giftschrank der albanischen Geschichte gekramte Ansinnen beunruhigt nicht nur die Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft. Auch das westliche Ausland, namentlich die USA und die EU, erachtet die Idee eines Grossalbanien – oder eines erweiterten Nukleus dieser Idee – seit je als Schreckensszenario. Die Furcht ist gross, dass jeder Anflug von Panalbanismus das Potenzial in sich trägt, den demokratisch noch ungefestigten Westbalkan erneut zu destabilisieren, etwa über die Forderung nach weiteren ethnischen Homogenisierungen in der Region.
Spahiu kennt die Vorbehalte. Und er zeigt sich bemüht, die Sprengkraft einer Union von Albanien und Kosovo (die Albaner in Mazedonien, Südserbien und Montenegro bleiben unerwähnt) herunterzuspielen. Es schwebe ihm lediglich eine Föderation vor; mit zwei separaten Verfassungen, Parlamenten und Justizsystemen. Die Grenzen müssten hierzu gar nicht geändert werden. Letztlich gehe es vor allem um eine engere Kooperation in Wirtschaft, Diplomatie und Sicherheit. Durch Abbau der Zölle könne man Monopole zerschlagen und die in beiden Ländern endemische Korruption bekämpfen, sagt der frühere Chef von Transparency International Albanien. Und der Verzicht auf ID-Kontrollen an der Grenze komme dem Tourismus zugute, zumal Albaniens Meeresküste im Sommer primär von Kosovaren bevölkert wird.
Zwei Länder – eine Armee
Die Idee einer engeren wirtschaftlichen Kooperation und einer Ausweitung des engen Binnenmarktes mag überzeugen – und wird in beiden Ländern auch von Ökonomen unterstützt, die keineswegs im Verdacht stehen, grossalbanische Phantasien zu hegen. Wenig ausgegoren wirkt aber die Idee gemeinsamer Sicherheitskräfte. Wie es gelingen soll, unter dem Dach zweier Staaten eine einzige Armee zu befehligen, vermag Spahiu nicht darzulegen. Und auch die Überzeugung des Parteichefs, dass die serbische Minderheit Kosovos in einem grossalbanischen Verbund besser geschützt wäre als jetzt, zumal Albanien mit seiner Einbindung der griechischen Volksgruppe ein regionales Vorbild für wirksamen Minderheitenschutz darstelle, dürften wohl nur die wenigsten Kosovo-Serben teilen. Trotz allen Haken und Ösen: Die Idee der jungen Partei fiel im vergangenen Jahr vor dem Hintergrund der 100-Jahr-Feier der albanischen Unabhängigkeit auf fruchtbaren Boden. Daran hatte auch Ministerpräsident Sali Berisha eine gewichtige Mitverantwortung. Nicht genug damit, dass er ankündigte, albanische Pässe an Kosovaren zu vergeben. In einer Rede in Mazedonien rief Berisha die Albaner auch dazu auf, stetig auf die Einheit hinzuarbeiten. Bei anderen Auftritten ordnete er diverse Städte Mazedoniens, Griechenlands, Serbiens und Montenegros unverkrampft «albanischen Landen» zu. Und an der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München beklagte Berisha eine angebliche Albanophobie und bezeichnete es als inakzeptabel, dass die Albaner in fünf verschiedene Staaten aufgeteilt seien. Die Alternative, so lautet die hochexplosive Botschaft, sei die nationale Einheit der Albaner.
Warnungen aus Washington
Der Westen reagiert gereizt auf solche Aussagen. Das spiegelte sich in einem Mitte Februar publik gewordenen Memorandum des amerikanischen Aussenministeriums, in dem Tirana in ungewohnt direkter Sprache dazu aufgefordert wurde, sich gefälligst aus den inneren Angelegenheiten seiner Nachbarstaaten herauszuhalten und nicht mit nationalistischer Rhetorik den Frieden und die Stabilität zu gefährden. Eine solche Warnung hat Gewicht in einem Land, das keiner anderen Nation grössere Bewunderung zukommen lässt als der Schutzmacht USA. Kommt hinzu, dass auch die EU, die Albanien schon dreimal den Kandidatenstatus verweigert hat, über den Erweiterungskommissar Stefan Füle die rhetorische Frage stellen liess, ob der aus Tirana zu vernehmende Nationalismus wirklich auf euroatlantischen Werten basiere.
Gleitet Albanien tatsächlich in den Nationalismus ab? Shpetim Nazarko, ein auf albanischen Fernsehkanälen omnipräsenter politischer Beobachter, relativiert solche Ängste. Berisha ziehe die Karte des Nationalismus seit Jahren immer wieder einmal aus seinem Ärmel. Das sei typisch für eine Regierung, die vorab improvisiere und die von weit realeren Problemen, etwa der maroden Wirtschaft, ablenken müsse. Letztlich sei dies eher eine Spielerei, die man nicht allzu ernst nehmen dürfe. Auch deshalb nicht, weil Berishas Einfluss auf dem Westbalkan längst nicht mehr so gross sei wie noch zu Zeiten, als Kosovo kein eigener Staat war. Eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Kosovo sei zwar sinnvoll, etwa im Energiebereich, wo sich das wasserreiche Albanien und das über Kohlevorkommen verfügende Kosovo gut ergänzen würden; eine Vereinigung der beiden Länder interessiere hierzulande aber kaum jemanden.
Abgeklungene Jubelstimmung
In der Tat scheinen die nationalistischen Wogen rund um die 100-Jahr-Feier schon deutlich abgeklungen zu sein. Der Festtaumel ist wieder dem Kater ob der miserablen Wirtschaftslage gewichen. Entsprechend schwer tut sich Spahiu, seine Botschaft vor den am 23. Juni stattfindenden Parlamentswahlen unters Volk zu bringen. Seine Partei versucht, sich in einer Parteienlandschaft, die seit dem Kollaps der kommunistischen Diktatur zu Beginn der neunziger Jahre von einer starren Bipolarität zwischen Berishas Demokratischer Partei (PD) und der Sozialistischen Partei (PS) von Edi Rama geprägt ist, als dritte Kraft zu etablieren. Angesichts der tiefen politischen Spaltung des Landes und des knappen Rennens zwischen der PD und der PS um Mehrheiten ist damit die Hoffnung verbunden, quasi als Königsmacher agieren zu können.
Dass die AK, die primär junge Wähler anzieht, diese Rolle wird spielen können, ist aber unwahrscheinlich. Schuld daran ist nicht zuletzt der Entscheid der Parteiführung, trotz langen Koalitionsverhandlungen mit der PS allein in die Wahl zu steigen. Seit der Einführung des regionalen Verhältniswahlrechts im Jahr 2009 kommt dies einem grossen Handicap gleich. So zementiert das neue Wahlsystem die Dominanz der zwei Grossparteien, und Kleinparteien sind de facto zum Beitritt zu einem Wahlbündnis gezwungen, um ihre Chancen auf Mandate zu wahren. Mit Blick auf die Sitzzahl sei der Alleingang zweifellos ein Nachteil, gesteht Spahiu. Für die langfristige Glaubwürdigkeit der aus einer zivilen Bewegung geborenen Partei, die sowohl Berisha als auch Rama als Ministerpräsident ablehnt, sehe dies aber anders aus.
Ablenken von realen Sorgen
Die beiden Grossparteien reagieren gelassen auf den neuen Herausforderer. Nationalismus sei kein wichtiges Thema im Wahlkampf, erklärt Ilir Beqaj, der für die PS, die leicht favorisiert in die Parlamentswahl steigt, das Programm mitverfasst hat. Wenn sich Berisha dennoch mit nationalistischen Aussagen zum Fenster hinauslehne, dann deshalb, weil der seit bald acht Jahren regierende Politiker in der zweiten Amtsperiode kaum noch ein Problem gelöst habe. Bei der Frage einer Vereinigung mit Kosovo repetiert Beqaj gewissenhaft das seit Jahren aus Brüssel zu hörende Mantra, wonach die Ländergrenzen auf dem Westbalkan ohnehin irrelevant würden, wenn alle Staaten der Region irgendwann der EU beigetreten seien. Der EU-Integrationsprozess löse das vermeintliche Problem also wie von selbst.
Ähnlich tönt es bei der regierenden PD. Sie will die Wortmeldungen Berishas nicht allzu wörtlich interpretiert wissen. Die 100-Jahr-Feier sei für Albanien eben ein wichtiges Datum gewesen und der Regierungschef habe den Leuten mit seinen Reden Hoffnung geben wollen, heisst es bei Petraq Milo, einem Berater von Berisha. Niemand in Albanien sei derart dumm, neue Grenzverläufe einzufordern. «Wir mögen wirtschaftlich wenig entwickelt sein, wir sind aber ein gebildetes und sehr realistisch denkendes Volk», doppelt Milo nach. Zudem sei es ein Faktum, dass Albanien im vergangenen Jahrhundert auch Gebiete umfasst habe, die heute auf der anderen Seite der Grenze lägen. «Es ist eine Wahrheit, dass Albaner in verschiedenen Regionen leben.»
Ein Traum – kein Programm
Die Religion des Albaners sei das Albanertum, lautet das oft zitierte Diktum von Pashko Vasa, einem albanischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Auch heute noch, so zeigt die «Allianz Rot und Schwarz», übt die Idee eines Zusammenschlusses albanischer Kräfte eine grosse Faszination aus. Wer in Tirana die Bevölkerung, die ihren Stolz ungeachtet aller sozialen Mühsal nicht verloren hat, darauf anspricht, hört oft Zustimmung. Wer den Faden aber weiterspinnt, merkt, dass kaum jemand für die nahe Zukunft ein Grossalbanien (oder wie es oft heisst: ein «natürliches» oder «ethnisches» Albanien) einfordert. Dass man sich mit dieser Forderung eine euroatlantische Zukunft – das Ziel aller massgebenden politischen Kräfte – verbaut, ist allzu offensichtlich.
Die Union mit Kosovo erscheint mehr als romantische Vision denn als politisches Programm. Dazu passt, dass die AK laut Spahiu keine Kontakte pflegt mit der im kosovarischen Parlament vertretenen Partei Vetevendosje. Dies ist deshalb erstaunlich, weil die vom früheren Studentenführer Albin Kurti angeführte Bewegung sich in Kosovo ebenfalls für eine Vereinigung mit Albanien einsetzt und auch sonst einige Parallelen zur AK aufweist. Man wolle sich nicht in die politischen Angelegenheiten Kosovos einmischen, begründet Spahiu die Zurückhaltung. Das tönt ebenso irritierend wie beruhigend aus dem Mund eines panalbanischen Nationalisten. Wenn nicht einmal die zwei Schwesterparteien den grenzüberschreitenden Schulterschluss wagen, dürfte er auch zwischen Tirana und Pristina nicht so schnell zustande kommen.