Mehr Türken als Palästinenser in Deutschland
Die Bilder von den empörten Protesten in Neukölln oder vor dem Brandenburger Tor, bei denen manche die Vernichtung Israels fordern, sind nur die Oberfläche. Was sich in vielen hunderttausend Familien mit Migrationshintergrund, in Klassenzimmern, auf Schulhöfen und in Moscheen abspielt, beginnt erst ins allgemeine Bewusstsein zu sickern.
Bisher hat sich die Furcht vor einer Eskalation hier in Deutschland auf arabische Zuwanderer, etwa aus Palästina, dem Libanon und Syrien, konzentriert, eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe. Von ganz anderer Dimension ist der Anteil der Menschen mit Wurzeln in der Türkei. Es sind rund drei Millionen, die Hälfte hat die türkische Staatsangehörigkeit.
Erdoğan hat beträchtlichen Einfluss auf sie. Rund zwei Drittel derer, die sich von Deutschland aus an türkischen Wahlen beteiligen, haben für ihn gestimmt.
Erdoğan nutzt seinen Einfluss, um zu hetzen. Er erreicht den Großteil der Türkischstämmigen, die sich über türkische Sender informieren und über Moscheen ihr politisches Urteil bilden. Ob Erdoğan vor Millionen eine Rede zur Lage im Gazastreifen hält oder seine Religionsbehörde Musterpredigten für Moscheen auch in Deutschland vorgibt: Überall tauchen dieselben Versatzstücke auf.
Israel ist „der Kriegsverbrecher“. Israel ist „ein rostiger Dolch im Herzen der islamischen Geografie“. Weil der Westen Israel unterstütze, sei er „der Hauptschuldige an den Massakern im Gazastreifen“. Die israelischen Opfer des Terrorangriffs der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung erwähnt Erdoğan nicht.
Erdoğan: Angriff auf Gaza ist wie Holocaust
Erdoğan zieht eine direkte Linie vom Völkermord an den Juden zu den heutigen Opfern im Gazastreifen. „Gestern noch haben sie Juden in Gaskammern getötet“, heute sei „die gleiche Mentalität in Gaza“ am Werk. Der Westen schaffe eine „Kreuzzugs-Atmosphäre“ gegen Muslime.
Unter dem Eindruck dieser Hetze gehen Hunderttausende Erwachsene mit Verbindungen in die Türkei in diesen Tagen zu ihren Arbeitsplätzen in Deutschland. Und kommen ihre Kinder in Schulen und treffen dort auf andere Kinder aus jüdischen Familien oder aus deutschen Familien, die zuhause über ihr Mitgefühl mit den angegriffenen Israelis sprechen. Man kann nur ahnen, welche seelischen Konflikte das auslöst. Und welches Eskalationspotenzial sich da bilden kann.
Deutschland hat noch nicht einmal begonnen, die Konfliktpotenziale einer Einwanderungsgesellschaft ernst zu nehmen. Und der türkische Präsident lässt mit seinen Hetzreden die Herausforderung noch wachsen.
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