NZZ Folio 3/05
Wottsch Puff?
Raser, Schläger, Einbrecher: Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien stehen in der Kriminalstatistik an der Spitze. Doch die
Zahlen sagen nicht alles.
Von Andreas Heller
Leben neben der Spur: Kosovoalbaner unterwegs in Zürich.
Was die Suchmaschine auf der Website der Zürcher Kantonspolizei zutage fördert, bestätigt jedes Klischee. Die Stichworte Serbien, Montenegro, Kosovo, Kroatien, Bosnien, Mazedonien oder Albanien eintippen, und schon erscheinen sie auf dem Schirm, die vielen Polizeimeldungen, die in den letzten Wochen durch den Schweizer Blätterwald rauschten: Der Kosovoalbaner Beshkim Berisha, der beim Streit um einen Parkplatz einen Mazedonier mit Pistolenschüssen niederstreckte; die Einbrecherbande aus dem Balkan, die in Serie Läden und Einfamilienhäuser ausräumte; die Raser aus Serbien-Montenegro, deren Verfolgungsjagd durch Zürich in einem Verkehrsunfall mit drei Schwerverletzten endete; die Mädchenbande aus Serbien-Montenegro, die in der S-Bahn eine Frau mit dem Messer bedrohte, verprügelte und ihr das Natel raubte. Ein Blick ins Polizeiarchiv, und schon weiss man ziemlich genau, was das ist, die «Jugo-Kriminalität».
Straftaten von Ausländern erregen besondere Aufmerksamkeit und besondere Emotionen. Ganz falsch ist das Bild, das die Polizeimeldungen vermitteln, deswegen nicht. «Ich will die Situation zwar nicht dramatisieren», sagt Franz Bättig, Leiter des Bereichs Fahndung und Observation bei der Zürcher Kantonspolizei, «aber es ist eine Tatsache: Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien kommen weit überdurchschnittlich oft mit dem Strafgesetz in Konflikt.»
Was die Polizei beschäftigt, sind zum einen Jugendbanden, die vor allem rund um die Bahnhöfe die öffentliche Sicherheit mehr und mehr beeinträchtigen. Zum andern Einbrecher, auch hier vor allem Banden, die relativ gut organisiert sind und über eingespielte Beziehungen verfügen, um das Diebesgut abzusetzen. «Wir hatten Fälle, da wanderten die Waren ganzer Boutiquen in ein Geschäft auf dem Balkan.»
Drogen hingegen, speziell Heroin, sind vorwiegend das Geschäft der Albaner. Der Stoff gelangt über die sogenannte Balkanroute in die Schweiz, wo albanische Dealer, meist Asylbewerber, für die Feinverteilung zuständig sind. Die Anwendung von Gewalt ist in diesen Gruppen nichts Aussergewöhnliches. Mitte der 1990er Jahre registrierte die Polizei eine Welle von Tötungsdelikten. «Es ist ein Merkmal dieser Gruppen, dass sie Konflikte untereinander selber regeln», sagt Bättig. «Zeugen gibt es häufig keine. Oft stossen wir als Ermittler auf Schweigen.»
Kommt es nach einer Straftat zu einer Anzeige, wird dies in der Kriminalstatistik des Kantons Zürich (Krista) erfasst. Offiziell ausgewiesen wird darin der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen, im letzten Jahr waren das 16 133 Personen oder fast 50 Prozent aller Verzeigten. Aus welchen Ländern diese Tatverdächtigen stammen, sagt die offizielle Statistik nicht. Doch die Zahlen sind vorhanden, und sie werden auf Anfrage auch mitgeteilt.
Aus Italien etwa stammen rund 4 Prozent aller im Kanton Zürich Verzeigten, aus der Türkei 3 Prozent, aus Portugal 1,3 Prozent. Zweistellig sind die Zahlen bei Bürgern aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien, aus Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Slowenien, Kosovo, Mazedonien und Montenegro. 12 Prozent beträgt ihr Anteil bei Verstössen gegen das Strafgesetzbuch insgesamt, gar 18 Prozent bei schweren Delikten gegen Leib und Leben, 22 Prozent bei Einbruchdiebstählen, 25 Prozent bei Raub. Unbeantwortet bleibt die Frage, wie gross der Anteil der einzelnen Länder ist, da die meisten Tatverdächtigen in der Rubrik «Jugoslawien undefiniert» zusammengefasst werden. Fest steht nur, dass Serbien-Montenegro inklusive Kosovo klar an der Spitze steht.
Dass der Kanton Zürich kein Sonderfall ist, zeigen die Kriminalstatistiken anderer Kantone, zum Beispiel jene im Aargau, wo die Polizei von sich aus eine Hitliste der Nationalitätendelinquenz führt. Spitzenreiter sind hier Personen aus Serbien-Montenegro mit einem Anteil von 10 Prozent an allen Verzeigten. Es folgen Italien (4,7), die Türkei (4,4), Deutschland (2,2), Mazedonien (1,6), Bosnien-Herzegowina und Kroatien (1,4).
Statistisch scheint somit alles klar wenigstens auf den ersten Blick. Aber die Zahlen sind, wie selbst die Polizei einräumt, zu relativieren. In der Kategorie der ausländischen Tatverdächtigen mitgezählt sind nämlich die sogenannten Kriminaltouristen, die nicht in der Schweiz ansässig sind; ihre Zahl war in den letzten Jahren zwar deutlich abnehmend, bewegt sich aber immer noch um rund 10 Prozent aller Verzeigten. Dann ist ein Tatverdächtiger noch nicht zwingend der Täter; statistisch gesehen erfolgt eine Verurteilung etwa in 9 von 10 Fällen. Und schliesslich sind bei der Analyse der Tatverdächtigenzahlen auch der Bevölkerungsanteil der einzelnen Nationen und ihre demographische Struktur einzubeziehen.
Im Kanton Zürich stellen Bürger aus den Nachfolgestaaten von Jugoslawien mit rund 70 000 (ohne Asylbewerber) die grösste ausländische Bevölkerungsgruppe, vor den Italienern mit etwa 54 000. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von 5,6 Prozent (gesamtschweizerisch 4,8). 40 000 von ihnen sind Staatsbürger von Serbien-Montenegro, davon 4600 aus Kosovo. Auffallend ist weiter, dass die Zahl der Männer gegenüber jener der Frauen im Verhältnis von ungefähr 3 zu 2 überwiegt.
Dasselbe Bild in den eidgenössischen Erhebungen: Die Gruppe der Personen aus Serbien-Montenegro ist mit 213 000 sehr gross, und der Anteil der 20- bis 29-jährigen Männer ist markant höher als in der Schweizer Wohnbevölkerung. Spitzenplätze belegen Staatsangehörige von Serbien-Montenegro auch in den gesamtschweizerischen Kriminalitäts- und Verurteiltenstatistiken. Für Gabriela Maurer vom Bundesamt für Statistik ist das keine grosse Überraschung: «Nachweislich fallen junge männliche Erwachsene generell häufiger durch gesetzeswidriges Verhalten auf.» Sie warnt deshalb vor voreiligen Schlüssen: «Wirklich aussagekräftige Statistiken gibt es nicht.»
Unbefriedigend ist vor allem, dass in der eidgenössischen Kriminalstatistik unterschiedlich erhobene kantonale Zahlen zusammengefasst sind. «Definitionen, Erhebungs-, Zähl- und Auswertungsregeln variieren je nach Kanton», sagt die Statistikexpertin, «da werden Kraut und Rüben vermischt.» Für aussagekräftiger hält sie die Verurteiltenstatistiken, die allerdings seit längerer Zeit nicht mehr differenziert ausgewertet werden. Im Jahr 2002, so viel weiss man immerhin, entfielen rund 10 Prozent der Verurteilungen auf Personen aus Albanien und dem ehemaligen Jugoslawien.
Die Statistik ist also recht ungenau, sie zeigt aber doch: Einwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien aber auch aus der Türkei kommen überproportional häufig mit dem Gesetz in Konflikt, weitaus häufiger jedenfalls als Schweizer und andere Einwanderergruppen wie Italiener, Spanier, Portugiesen. «Lange Zeit war es politisch unkorrekt, diesen Missstand zu benennen», sagt Mario Tuor, Pressesprecher des Bundesamtes für Migration (BfM). Heute gebe es dieses Tabu nicht mehr. So hält es auch Eduard Gnesa, Chef des BfM. In Interviews machte er deutlich: «Wir haben ein Problem mit der Integration zahlreicher Jugendlicher vom Balkan. Es geht nicht darum, eine Gruppe als die Bösen hinzustellen. Aber dort, wo es Probleme gibt, darf man nun einmal nicht wegschauen.»
Hansueli Gürber ist leitender Jugendanwalt in Horgen und Pressesprecher aller Jugendanwaltschaften des Kantons Zürich. In seinem Büro mit idyllischem Blick auf den Zürichsee türmen sich Aktenstösse, an der Wand hängt eine Landkarte der Balkanregion, die der Jugendanwalt schon mehrmals während der Ferien bereist hat. Er kennt Länder und Leute seit langem, was ihm heute in seiner Arbeit zugute kommt.
Gürber, äusserlich der typische Altachtundsechziger mit Bart und Rudi-Dutschke-Frisur, hatte früher vor allem mit Drogendelikten zu tun, mit Zuwiderhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Heute machen Verstösse gegen das Strafgesetz den Löwenanteil seiner Arbeit aus. Die Spannweite reicht vom Frisieren eines Töfflis und anderen Lümmeleien bis zu Tötungsdelikten. «Alles in allem», sagt Gürber, «sind die meisten meiner Klienten Schweizer, nur etwa 30 Prozent sind ausländische Jugendliche. Rund 60 Prozent beträgt ihr Anteil jedoch bei Raub und Delikten gegen Leib und Leben.» Massiv übervertreten sind auch hier Jugendliche aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien: In Relation zum Bevölkerungsanteil begehen sie dreimal häufiger Straftaten als ihre Schweizer Altersgenossen. Das ergibt eine Analyse der Fälle, die in den Zürcher Jugendanwaltschaften in den Jahren 1995 bis 2000 anfielen.
Die Übergriffe, berichtet der Jugendanwalt, erfolgten vielfach nach dem gleichen Muster: Eine Gruppe provoziert einen Einzelnen «Wottsch Puff?» , der Streit artet in Handgreiflichkeiten aus, und schliesslich ziehen die Täter mit einem erbeuteten Portemonnaie oder einem Natel wieder von dannen. «All dies geschieht heute mit einer Selbstverständlichkeit, die schon erschreckend ist», sagt Gürber. Als Tatmotiv vermutet er den Drang, sich Respekt zu verschaffen, und materielle Begierden, die man ohne Aufschub stillen will.
Gemeinsam ist diesen Tätern, dass sie sich als Aussenseiter fühlen. Oft sind es ausländische Jugendliche, die via Familiennachzug relativ spät in die Schweiz gekommen sind. Sie wuchsen in der Heimat bei den Grosseltern auf, beherrschen die deutsche Sprache nur rudimentär, sind unangepasst und haben miserable Schulzeugnisse junge Leute mit denkbar schlechten Chancen auf dem Arbeitsmarkt, da Jobs für Ungelernte rar geworden sind. Gürber sagt: «Die Arbeitsstellen, die die Väter dieser Kinder noch hatten, gibt es immer weniger. Die Hilfsarbeiten sind wegrationalisiert oder exportiert worden. Das Modell der Integration über die Arbeit funktioniert also nicht mehr, und wer keine Arbeit hat, der wird mit überdurchschnittlicher Wahrscheinlichkeit straffällig.» Perspektivlosigkeit ist für ihn der Hauptgrund für die Straffälligkeit dieser Jugendlichen. «Kein Mensch wird als Verbrecher geboren. Kriminalität hat einen biographischen Hintergrund, ist das Ergebnis mehrmaligen Scheiterns und schliesslich Ausdruck von Resignation. Kriminell wird, wer nichts zu verlieren hat.»
Speziell bei muslimischen Jugendlichen aus Kosovo und aus Bosnien hat der Jugendanwalt zudem ein vollkommen anderes Ehrverständnis festgestellt. Da im Herkunftsland staatliche Strukturen und Ordnungselemente weitgehend fehlen, werden Konflikte traditionell selber geregelt. Die Erfahrungen des Krieges und eine autoritäre Erziehung mit Prügelstrafen dürften ebenfalls Motive für eine erhöhte Gewaltbereitschaft sein.
Dass Gewalt eine Reaktion auf Diskriminierung ist, gehört zu den klassischen Erklärungen der Kriminalsoziologie. Ob das auch zutrifft, ist freilich umstritten. Martin Killias, Kriminologe an der Universität Lausanne, hält die Erklärung in diesem Zusammenhang für wenig stichhaltig, sogar für empirisch widerlegt. Er verweist auf Studien zu italienischen Einwanderern in der Schweiz in den 1960er Jahren, die keine signifikant höhere Straffälligkeit ausweisen. Und auch jene Einwanderergruppe litt unter Diskriminierung die kriminelle Energie förderte das jedoch nicht, im Gegenteil: Die Einwanderer wollten nicht auffallen. Die gingen nicht einmal bei Rot über die Strasse.
Die enorme Zunahme der Gewalt vor allem unter Jugendlichen, so der Kriminologe, sei vielmehr ein europaweiter Trend. Also braucht es dafür auch Erklärungen, die europaweit gültig sind. Killias ist überzeugt, dass das Phänomen nicht allein in der Einwanderung und der Jugendarbeitslosigkeit begründet ist, zu gross sind die Unterschiede in den europäischen Ländern. Ein überall registriertes Phänomen sei hingegen der Trend zur Bandenbildung. In Banden entsteht eine Gruppendynamik, die Hemmschwelle sinkt. «Wenn man einer Jugendgang angehört, erhöht sich die deliktische Tätigkeit massiv, das heisst statistisch um bis das Zehnfache.» Killias erwähnt auch den Einfluss der Medien, vor allem von Gewaltvideos und Computerspielen. Die Kausalität sei zwar schwer zu testen, eine Übereinstimmung sei jedoch erwiesen: Gewalttätige wie auch Raser konsumieren überdurchschnittlich häufig Gewalt in den Medien.
Die Sache ist komplexer, als sie an den Stammtischen verhandelt wird. Entsprechend hilflos sind denn auch Experten und Behörden, wenn es um Massnahmen gegen die Jugo-Kriminalität geht. Martin Killias drängt darauf, das Einwanderungsrecht so zu verändern, dass der Familiennachzug möglichst bald nach dem Zuzug der Eltern erfolgt. Denn je älter die Kinder sind, wenn sie in die Schweiz kommen, desto mehr Probleme haben sie, sich zu assimilieren. Eduard Gnesa vom Bundesamt für Migration möchte vor allem den Druck auf Ausländer erhöhen, damit sie die vom Staat subventionierten Integrationsangebote auch wahrnehmen. Beispielsweise soll der Besuch von Sprachkursen über die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung entscheiden ob man unter Zwang eine Sprache lernt, steht freilich auf einem andern Blatt.
Integration setze einen Willen voraus, sie müsse sich für den Einzelnen irgendwie lohnen, meint Hansueli Gürber. «Damit ein Jugendlicher nicht auf die schiefe Bahn gerät, muss er etwas zu verlieren haben. Viele Balkan-Jugendliche haben aber gar nichts zu verlieren. Viele haben die angebotenen Integrationsprogramme durchlaufen und finden trotzdem keinen Job, weil es auch um ihren Ruf nicht zum Besten bestellt ist. Da gleitet man relativ leicht in die Kriminalität ab.»
«Ich bin sowieso der Jugo, der hier keine Chance hat. Darum werde ich jetzt halt Verbrecher», hat der Jugendanwalt in den letzten Monaten immer öfter zu hören bekommen. Die entsprechenden Polizeimeldungen werden folgen.
Andreas Heller ist NZZ-Folio-Redaktor.
Die Farbfotos im Schwerpunktteil stammen von Alban Bujari, Pristina, Kosovo.
http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/2005/03/articles/heller.html