Importierte Demokratie
Albin Kurti, der Gründer von Vetëvendosje, wurde in den letzten zehn Jahren nicht müde, das EU-Protektorat zu kritisieren. In den Neunzigern, als er Studentenproteste organisierte, trug er karierte Flanellhemden und hatte eine zottelige Mähne. Heute trägt Kurti Massanzüge und gibt sich staatsmännisch. Er will nächster Premierminister Kosovos werden und mit dem politischen Establishment und den Uno- und EU-Missionen aufräumen. Sein Büro liegt da, wo jene Leute zu Hause sind, die er kritisiert: im Diplomatenviertel der Stadt. Von seinem Balkon aus hat man ganz Pristina im Blick.
Kurti, 42, ein schlanker Mann mit glatt rasiertem, jungenhaftem Gesicht und dunklen, leicht grau melierten Haaren, steht am Fenster, die Hände in den Hosentaschen, und sagt: «Ich glaube nicht, dass man einen Staat von aussen aufbauen kann. Demokratie kann man nicht importieren.» Dann setzt er sich, schlägt die Beine übereinander und erzählt, warum der zehnte Unabhängigkeitstag für ihn kein Grund zum Feiern ist. «Drei Dinge haben sich seit 2008 nicht geändert», sagt er: «Erstens die grassierende Korruption im Land; zweitens die Tatsache, dass der Norden Kosovos von Belgrad kontrolliert wird; drittens die Arbeitslosigkeit.»
Kurti spricht pointiert, niemals kommt er ins Stammeln. Der Charismatiker ist ein linker Populist wie aus dem Handbuch. Wenn er vor Publikum spricht, wirkt es, als würde er mit jedem Einzelnen Blickkontakt suchen. Er weiss, wie man Journalisten beeindrucken kann, zitiert Judith Butler und Sigmund Freud, gibt sich als Intellektueller, als Denker. Er sagt Sätze wie: «Wir haben eine Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die wir nie hatten.» Mit solchen Sprüchen, die sich vom technokratischen Einheitsbrei anderer Politiker abheben, beeindruckt Kurti seine Wählerinnen. Das ist die eine, sanfte und bedächtige Seite von ihm. Die andere ist die, dass Kurti immer wieder zu Protesten aufruft, die in Gewalt ausarten: demolierte Autos, Molotowcocktails, sogar Tränengas im Parlament. Junge Wähler hat das gleichermassen verschreckt wie angezogen.
In einem Land, in dem 65 Prozent der jungen Bevölkerung arbeitslos sind, ist Kurti der einzige Politiker, der grundlegende Reformen anstossen will. «Wir brauchen ein funktionierendes Gesundheitssystem und Sozialleistungen. Derzeit ist es die Diaspora, die uns am Leben hält», sagt er. Eine Bewegung, die mit linken Forderungen zu einer der führenden politischen Kräfte im Land aufsteigt – man fühlt sich an die Anti-Austeritäts-Proteste in Spanien und Griechenland erinnert, aus denen Podemos und Syriza als Parteien hervorgegangen sind. «Kosovos Parteienlandschaft ist davon geprägt, kein inhaltliches Programm vorlegen zu können. Vetëvendosje ist die Ausnahme, die als einzige ein Wirtschaftsprogramm anzubieten hat», sagt Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien in Graz.