Viele schließen sich dem IS an
Nachrichten über ihrer Kinder erhielten die Familien erst durch die Bomben in Ankara. Bei den Selbstmordattentätern handelt es sich um Yunus Emre Alagöz, den Bruder des Attentäters von Suruç. Und eben um Ömer Deniz Dündar, dessen Familie beim Ministerpräsidenten vorstellig geworden war.
Der Rechtsanwalt Osman Süzen kennt die Dündar-Familie gut. In seiner Kanzlei in Adiyaman erzählt der Ortsvorsitzende des Menschenrechtsvereins, wie Mehmet Dündar zu ihm kam, der Vater der Zwillingsbrüder Ömer Deniz und Mahmut Gazi. Die Dündars sind eine linke Familie. Aber sie sind arm, die Söhne nehmen den Vater nicht ernst. Über einen gemeinsamen Freund wurden die beiden Brüder immer religiöser, ihre Ansichten immer radikaler. Im September 2013 tauchten sie ab.
Ihr Vater wandte sich mithilfe des Menschenrechtsvereins an die Polizei. Er machte sich schließlich selber auf den Weg nach Syrien, wo er die Zwillinge in einem IS-Camp bei Aleppo fand. "Gebt mir wenigstens einen meiner Söhne", bettelte er den Kommandanten an. Der höhnte: "Versuch's nur. Wenn sie mit dir kommen, kannst du beide mitnehmen." Sie kamen nicht. Aber im Februar 2014 waren sie plötzlich zurück in Adiyaman. An ihrer Seite Ehefrauen, die sich dem IS angeschlossen hatten: die türkische Staatsbürgerin Merve D. und die deutsche Staatsangehörige Valentina S. Beide stammen aus Mönchengladbach.
Seit ihrer Rückkehr hatte der IS sogar eine Anlaufstelle in Adiyaman: die "Teestube Islam". Wieder wandte sich Vater Dündar an die Behörden und zeigte die eigenen Söhne an. Die Polizei protokollierte ihre Aussagen und ließ sie wieder laufen. Nach den Unruhen in einigen türkischen Städten während der Belagerung von Kobani im Oktober 2014 tauchte die gesamte Dokumaci-Gruppe ab. Mindestens 23 Personen verschwanden. Mehmet Dündar ging erneut zur Polizei – nichts geschah. Der durch Vermittlung eines örtlichen AKP-Abgeordneten zustande gekommene Besuch mit Davutoglu stand am Ende eines langen, verzweifelten Kampfes.
"Warum kommt ihr erst, wo es zu spät ist?"
Und die Dündar-Familie war nicht die einzige, die sich an die Behörden wandte. Da ist zum Beispiel Mohammed Zana Alkan. Seine Familie betreibt ein Geschäft für Kinderbekleidung; seine Mutter steht mit drei weiteren Frauen hinter der Ladentheke. Alle tragen Kopftücher, im Hintergrund läuft religiöse Musik. Fromme Menschen, AKP-Wähler. Mit Journalisten reden will die Mutter nicht. "Warum kommt ihr erst, wo es zu spät ist?", sagt sie verbittert.
Oder Mehmet Tasar. Dessen Onkel Kadir war für die nationalistische MHP Bürgermeister einer Kleinstadt in der Provinz. Inzwischen hat er in Adiyaman ein Geschäft für Baubedarf eröffnet, in Anzug und Krawatte wirkt er, als würde er immer noch amtliche Dinge regeln anstatt Farben und Tapeten zu verkaufen. Er erzählt von seinem Neffen Mehmet und dessen Jugendliebe Demet. Deren Familie stammt ebenfalls aus Adiyaman, lebt aber im europäischen Landesteil, ihr Vater ist Polizist.
"Als sie sich kennenlernten, war Mehmet ein normaler Junge und Demet trug Shirts mit Spaghettiträgern. Dann begann er, regelmäßig zu beten. Am Anfang fand ich das gut. Aber er wurde immer komischer. Irgendwann ging er nicht mehr in die Moschee, weil er für die Imame für gottlos hielt. Auf ihrer Hochzeit saßen Männer und Frauen getrennt; es gab keine Musik, keinen Tanz. Mehmet wollte das so. In unserer Familie hatte es so was nicht gegeben. Demets Großvater sagte mir da: 'Diese Kinder werden sich dem IS anschließen und keiner tut etwas.'"
Oder Orhan Gönder, der Attentäter von Diyarbakir. Seine Großfamilie betreibt mehrere Bäckereien in Adiyaman, hier kennt sie jeder. Kurden, HDP-Wähler – und Aleviten. Ihr Sohn Orhan ist ein Konvertit. "IS, das ist soweit weg von uns", sagt sein 34-jähriger Cousin Ercan Gönder, ein aktives Mitglied der HDP und eine Art Sprecher der Familie. Auch die Gönder-Familie hat lange um den Sohn gekämpft; auch Orhan verschwand nach Syrien, tauchte wieder auf, um dann erneut abzutauchen. Zwei Tage vor dem Anschlag in Diyarbakir wurde er dort in einem Hotel festgenommen. Der Grund: Probleme mit dem Militärdienst. Dass er zugleich als IS-Mitglied gesucht wurde, schien die Polizei nicht zu interessieren.