DER SPIEGEL 26/1994 vom 27.06.1994, Seite 142b-144
Albanien
Albaner und Griechen wenden sich gegeneinander. Im ethnischen Gewirr des Balkans flackert ein neuer Brandherd.
Bei Ernestos Stavropoulos schauen Minister und Hochstapler herein, gönnen sich Diplomaten und Neureiche einen Drink, schlemmen westliche Geschäftsleute und einheimische Nachtschwärmer. In seinem Restaurant "Hambo" trifft sich die bessere Gesellschaft der albanischen Hauptstadt Tirana.
Hier gibt es, woran es sonst mangelt - zum Hammelbraten Cola oder deutsches Bier vom Faß. "Hambo steht für Hamburger", erläutert Stavropoulos, "und das heißt Fortschritt."
Der Grieche fühlt sich wohl im Land der Skipetaren. Mit einer Restaurant- und Lebensmittelkette will er dem Armenhaus Europas den Weg zu Freiheit und Wohlstand weisen. "Wie die Eingeborenen in Afrika darbte das Volk unter den Kommunisten", sagt der zugewanderte Erfolgsmensch: "Jetzt sind Kolonialisten wie ich gefragt, um das Erbe der Vergangenheit abzuschütteln."
Der tüchtige Grieche, der noch kein Wort Albanisch gelernt hat, bemüht sich landesweit, ins Geschäft zu kommen - nur nicht im Südzipfel Albaniens, --- S.144 in Gjirokaster. Dort, an der Grenze zu Griechenland, siedeln viele Landsleute. Mit ihnen scheut Stavropoulos den Kontakt, Vorsicht ist geboten.
Denn die Minderheit der etwa 150 000 Griechen ist für Albaniens Präsidenten Sali Berisha und seine rechtskonservative Regierung eine lästige Volksgruppe, die sie schnellstens loswerden möchten. Das regierungskonforme Sprachrohr Republika propagiert unverblümt die Ausweisung jener "hellenophilen Elemente", die sich nicht als "wahre Patrioten bekennen" oder, anders als Unternehmer Stavropoulos, "keine Verbundenheit mit dem albanischen Volk suchen".
Die alte Furcht der Albaner, fremde Mächte könnten am Ende dieses Jahrhunderts erneut die Herrschaft über ihr kleines Adrialand anstreben, steigerte sich zur Hysterie nach einem dramatischen Zwischenfall Mitte April: Unbemerkt drang nachts eine Bande griechischer Extremisten auf albanisches Territorium, stürmte eine Grenzkaserne und erschoß zwei Wachposten.
Athen verweigerte eine angemessene Entschuldigung; eine bis dahin unbekannte "Befreiungsfront für Nordepirus" kündigte weitere Gewaltakte an. Einige griechische Kommentatoren erkannten Parallelen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien: So wie dort die serbischen Glaubensbrüder ihre nationalen Rechte erfolgreich einklagten und in Bosnien durch Landraub die Grenzen neu zögen, sei auch für die Griechen der Tag gekommen, ein über 80 Jahre altes Unrecht wiedergutzumachen.
Nun nährt sich auch in dieser bisher vergleichsweise ruhigen Region ein neuer Balkan-Nationalismus aus den Geschichtsbüchern. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg schlugen die europäischen Mächte den Norden der griechischen Provinz Epirus zu Albanien, ohne einen Austausch der jeweiligen Bevölkerungsminderheiten zu veranlassen.
Im Zweiten Weltkrieg holten sich griechische Truppen die Region gewaltsam zurück; die Alliierten aber setzten die Vorkriegsgrenze durch - Griechen gerieten unter die Diktatur des roten Enver Hodscha, Albaner blieben eine mißachtete Minorität in Nordgriechenland.
Nach dem Ende des Kommunismus brachen die gestauten Nationalgefühle hervor: Griechische Nationalisten erhoben Anspruch auf das verlorene Land, die albanische Regierung wiederum untersagte ihren Hellenen eine eigene Partei - sie durften sich nur im Kulturbund "Omonia" zusammenschließen.
Das ist schon mehr als jemals seit 1913: Die Griechen können abends auf dem Dorfplatz Sirtaki tanzen und sonntags ihrem Popen lauschen. Unter Hodscha war die Kirche geschlossen, der Volksbrauch verboten. Doch in der Schule lernen die Griechenkinder immer noch vorwiegend Albanisch. Den Bürgermeister in Gjirokaster stellt das Staatsvolk der Skipetaren.
"Die Griechen haben sich mit den Serben zum Ziel gesetzt, unser Land zu destabilisieren", klagt Präsident Berisha über die Spannungen. In einer Fernsehansprache warnte er den Nachbarn im Süden, "die Traditionen des Bandentums und Staatsterrorismus vom Beginn des Jahrhunderts wieder aufleben zu lassen". Heute sei Albanien "zum Widerstand entschlossen" und besser gewappnet als einst - vielleicht dachte er an die unter Hodscha für den Partisanenkampf gegen Invasoren errichteten Betonbunker, deren Halbkugeln neben jedem Dorf aus dem Boden ragen.
In den kleinen griechischen Landgemeinden südwestlich von Gjirokaster patrouillieren jetzt paramilitärische Polizeieinheiten rund um die Uhr, herrscht mancherorts Ausnahmezustand. Unter Vorwänden nehmen die Sicherheitskräfte vermeintliche Staatsfeinde fest.
Vorige Woche eröffnete der Staatsanwalt gegen sechs führende Omonia-Vertreter, die angeblich "Kontakte zum griechischen Geheimdienst" unterhalten, einen Prozeß wegen Hochverrats. Die Anklage wirft ihnen vor, dem Überfallkommando im April logistische Hilfe geliefert zu haben.
"Diese Hexenjagd", sagt Piro Misha, 39, "ist ein Spiel mit dem Feuer." Der Schriftsteller, der eine Bürgerbewegung "Offene Gesellschaft" leitet, sieht im Völkerhaß einen "balkanischen Zeitgeist" ohne Aussicht auf Befriedung. "Das nationale Erbe der Vergangenheit schlägt unbarmherzig auf uns ein - wie in Jugoslawien."
Die Fronten sind abgesteckt. Serben und Griechen bilden die christlich-orthodoxe Achse auf dem Balkan; ihnen gegenüber sammeln sich Bosnier, Albaner und Türken als moslemische Brüder. "Ja", sagt Präsident Berisha, "das ist die Realität." Und die kann schon bald zum Krieg aller Staaten auf dem ganzen Balkan führen.
Täglich wandern neue Gruppen bosnischer und serbischer Moslems nach Albanien ein; Angehörige der zwei Millionen Kosovo-Albaner fliehen aus Serbien über die Berge ins Land ihrer Ahnen. Selbst aus Mazedonien siedeln Albaner aus Furcht vor einem serbischgriechischen Militärschlag gegen ihre junge Republik nach Tirana über - und es kommen immer mehr.
Auch der umgekehrte Weg wird eingeschlagen. Petrit Stefa, ein Albaner orthodoxen Glaubens, wurde den Makel seines Bekenntnisses nicht mehr los. Im April legten die Behörden ihm nahe, als unerwünschter Bürger Gjirokaster zu verlassen. Heute lebt Stefa als Stefanopoulos in Athen und lernt Griechisch. "Ich stand vor der Wahl, als Belgrader und Athener Agent ins Gefängnis zu gehen", erzählt der Mechaniker, "oder meine Habe freiwillig einzupacken."
Nur Geschäftsmann Stavropoulos bleibt gelassen. Für ihn hat die Suche nach nationaler Identität in diesem Winkel Europas erst begonnen, ein Ende der Staatswerdung sei noch lange nicht in Sicht. "Auf dem Balkan herrschten immer fremde Mächte", sagt der Grieche, "das darf auch heute nicht anders sein."
Sein Rezept wider die Balkan-Wirren: "Nur westliches Kapital kann diese Hitzköpfe zur Vernunft bringen." Y
Räuberische Brüder - Artikel - SPIEGEL WISSEN - Lexikon, Wikipedia und SPIEGEL-Archiv