Auf dem Weg zur Volksmacht
Venezuela: Neues Gesetz etabliert rätedemokratische Strukturen
Von Malte Daniljuk, Caracas
Kurz vor den Gedenkfeiern zum vierten Jahrestag des gescheiterten Putsches rechter Militärs am 20. April hat das venezolanische Parlament den Weg zur Etablierung von Stadtteilräten (Consejos Comunales) geebnet. Das entsprechende Gesetz wird als Meilenstein im Ausbau der partizipativen Demokratie in dem südamerikanischen Land gesehen. Unmittelbares Ziel der Stadtteilräte wird es sein, die gravierenden Strukturprobleme der Gemeinden zu bewältigen. Chaotische Verkehrsituationen, unzureichende Strom- und Wasserversorgung, mangelnde Müllentsorgung, oder eine hohe Kriminalitätsrate – solche alltäglichen Probleme sollen künftig mit direkter Beteiligung der Bewohner gelöst werden.
Direkte Teilnahme
Die partizipative Demokratie ist zwar schon seit 1999 in der Verfassung verankert, bislang gab es aber keine ordentlichen Institutionen für die Umsetzung der direkten Bürgerbeteiligung. »Mit dem Gesetz beginnt die Übergabe der Macht an das Volk«, so das prägnante Urteil von Ibrahim Ferrer, Abgeordneter der Regierungspartei Bewegung Fünfte Republik (MVR).
Die neuen Stadtteilräte werden von offenen Bewohnerversammlungen gewählt. In den Städten vertritt ein Rat mindestens 200 Haushalte, auf dem Land und in den autonomen Gebieten der Indigenas können es entsprechend weniger sein. Dabei faßt der Rat bereits bestehende Stadtteiliniativen, Sozialprogramme oder Landkomitees zusammen. Die Versammlung wählt außerdem einen Ausschuß für soziale Kontrolle und Vertreter für die Filialen von lokalen Entwicklungsbanken, die noch einzurichten sind. Aufgabe der Einwohnerversammlung ist es, die im Stadtteil vorhandenen Probleme zu evaluieren, die notwendigen Daten zu erheben und die Projektplanung umzusetzen. Liegt ein Projektplan vor, können die notwendigen finanziellen Mittel von den lokalen Entwicklungsbanken abgerufen und Aufträge an Firmen oder Kooperativen vergeben werden. Aus den Stadtteilräten wird jeweils ein Vertreter in einen übergeordneten Bezirksrat (Consejo Parroquial) gewählt. Diesem Gremium obliegt dann die Koordinierung von übergreifenden Infrastrukturmaßnahmen.
Im Gespräch mit junge Welt wertete der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm das neue System nach einer Rundreise in Venezuela positiv. In ihrer formalen Struktur orientierten sich die venezolanischen Stadteilräte eher an den Konzepten der revolutionären Rätedemokratie in Europa als am Modell der partizipativen Haushalte, wie sie im brasilianischen Porto Alegre praktiziert werde, so Holm. Allein in Caracas wurden bislang 200 Stadtteilräte gegründet. Weitere 500 befinden sich im Aufbau.
Die außerordentliche Bedeutung der Stadtteilräte läßt sich auch an dem Umfang der bereitgestellten Finanzmittel erkennen. Bereits mit dem Inkrafttreten des Gesetzes beträgt der zur Verfügung gestellte Fonds 1,2 Billionen Bolivar, umgerechnet rund eine halbe Milliarde Euro. Die Summe wird nach einem geographischen Schlüssel an die lokalen Entwicklungsbanken verteilt. Zusätzlich können Mittel aus zwei weiteren Fonds abgerufen werden, von denen einer dem Ministerium für Bauen und Wohnen untersteht und der andere von einer präsidialen Kommission verwaltet wird.
Großgeschrieben wird die demokratische Kontrolle der neuen Strukturen. So werden vom Stadtteilrat Mitglieder in autonome Kontrollauschüsse gewählt, die jederzeit Zugang zur Stadtverwaltung und anderen Stadteilräten gewährt bekommen müssen. So werden die Bürgermeisterämter und die verschiedenen lokalen Räte ständig kontrolliert – diejenigen Institutionen also, die staatliche Mittel beantragen und vergeben können.
Debatte um das Gesetz
Widerstand gegen das Gesetzesvorhaben kam vor allem aus der herkömmlichen Verwaltung. Deren Vertreter befürchten nicht zu Unrecht, daß ihre Zuständigkeit in der öffentlichen Planung eingeschränkt wird. Aber auch Vertreter von sozialen Organisationen erhoben den Einwand, daß durch das Gesetz ihre Autonomie beschnitten werde. Ihre Kritik konzentrierte sich auf einen Paragraphen des Gesetzesentwurfes, in dem festgelegt wurde, daß ein Vertreter der Präsidialen Kommission für die Volksmacht (Comisión Presidencial del Poder Popular) an dem Aufbau der Stadtteilräte beteiligt sein wird. In einer älteren Vorlage sollte diese Kommission, die ausschließlich dem Präsidenten untersteht, auch Kontrollfunktionen über die Geldvergabe ausüben. Nach der Anhörung der sozialen Bewegungen in der Asamblea Nacional wurde ihre Aufgabe nun darauf beschränkt, die Stadtteilräte zu registrieren.