Der Mythos von den serbischen Märtyrern
Der Balkan ist seit Jahrhunderten ein Unruheherd – Serben als Nutznießer zweier Weltkriege
Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajewo durch einen serbischen Nationalisten löste den Ersten Weltkrieg aus. Jetzt hat wiederum ein serbischer Nationalist, Slobodan Milosevic, einen Krieg ausgelöst.
In seiner Reichstagsrede vom 5. Dezember 1876 sagte Reichskanzler Bismarck, der Balkan sei ihm nicht die »gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers« wert. Er wollte das Reich aus den dort herrschenden ethnischen und religiösen Wirren heraushalten. Später sollte Kaiser Wilhelm sagen: »Da unten muss endlich einmal Ruhe und Ordnung geschaffen werden.« Über seinen Verbündeten, Österreich-Ungarn, wurde das Reich in die balkanischen Unruhen und in den Krieg hineingezogen.
Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert haftete Europa die Balkan-Frage wie ein ererbtes Gebrechen an. Der Grund lag in der Schwäche des Osmanischen Reichs, des »kranken Mannes am Bosporus«. Der wachsende Nationalismus, der dem zeitgemäßen Freiheitsdrang der vorwiegend christlichen Völker Südosteuropas zusätzliche Schubkraft verlieh, ließ es vor allem dem österreichischen Vielvölkerstaat ratsam erscheinen, die Existenz des türkischen Reichs zu bewahren. Über einen langen Zeitraum hinweg übte man sich daher in den europäischen Hauptstädten in einer Art kalkulierter Resignation. Aber angesichts zunehmender Nationalisierung im 19. Jahrhundert musste diese Rezeptur schließlich versagen. Im Juli 1875 kam es in Bosnien und der Herzegowina, danach in Bulgarien zu Aufständen gegen die Türken. Auch die Serben wollten sich des osmanischen Jochs entledigen. Russische und österreichische Interessen kreuzten sich auf dem Balkan. Mit dem Deutschen Reich aber waren beide Mächte verbündet. Wider Willen wurde es in die Konflikte hineingezogen.
Warum aber war und ist der südosteuropäische Raum so unruhig und unberechenbar? Im 7. Jahrhundert hatten sich in dieser Region die südslawischen Serben niedergelassen, die dann bis zum 12. Jahrhundert fast ununterbrochen unter bulgarischer oder byzantinischer Herrschaft standen. Serbiens Aufstieg zur dominierenden Macht auf dem Balkan begann in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts durch den Niedergang des Byzantinischen Reichs. Es gelang der Zusammenschluss aller serbischen Stämme. Seine größte Ausdehnung erreichte Großserbien unter König Stephan IV. Dusan, der Makedonien, Albanien und Mittelgriechenland gewann. 1346 ließ sich Stephan zum »Zaren aller Serben und Griechen« krönen. Nach seinem Tode blieb der Thron unbesetzt. Die Osmanen nutzten dieses Machtvakuum und stießen nach Südosteuropa vor.
Bereits 1371 wurden Südserbien und Makedonien türkisch. Der serbische Fürst Lazar rief die Serben zum Widerstand auf und sammelte ein Heer auf der Ebene bei Pristina, dem Amselfeld. Etwa dreißigtausend Serben und Verbündete standen einem doppelt so starken Heer der Türken gegenüber. Wie in Glaubenskriegen üblich, war die Schlacht am Veitstag des Jahres 1389 für beide Seiten sehr verlustreich und lange Zeit unentschieden. Aber am Ende konnten die Serben das Amselfeld nicht behaupten und erlitten eine schwere Niederlage. Dennoch begründete diese Schlacht im Kosovo den Mythos des serbischen Widerstandes gegen die Osmanen.
In den folgenden fünf Jahrhunderten türkischer Herrschaft mussten die Serben zweimal, 1690 und 1737, den Kosovo verlassen. Die dort lebenden Albaner, die inzwischen mehrheitlich die islamische Religion angenommen hatten, durften die verlassenen Dörfer und Städte übernehmen. Daraus entstand die Erzfeindschaft zwischen christlich-orthodoxen Serben und den mohammedanischen Albanern, die fast 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo ausmachen. Mehr als 600 Jahre liegen die Ereignisse auf dem Amselfeld zurück, aber sie sind für den heutigen Kriegsherrn in Belgrad, Slobodan Milosevic, gegenwärtiger und wichtiger als alle aktuellen Ereignisse. Er sieht sich in der Rolle des Fürsten Lazar, der die vom Blut der serbischen Märtyrer getränkte Erde des Kosovo gegen die Aggressoren der Nato verteidigt.
Milosevic hat den Amselfeld-Mythos für seine Karriere instrumentalisiert. Er, der überzeugte Kommunist, organisierte 1987 eine Massendemonstration im Kosovo. Als die Polizei des damals autonomen Kosovo eingriff, beruhigte Milosevic die aufgebrachten Serben und sprach den Satz, der ihn zum Hoffnungsträger des serbischen Nationalismus machte: »Dieses Volk darf niemand schlagen!« Das geschichtlich-kulturelle Zentrum der Serben sieht Milosevic im Kosovo. Dort gibt es die meisten orthodoxen Kirchen und Klöster. Hier ist »heiliger nationaler Boden«, hier steht »die Wiege unserer Identität«. Doch die Serben haben es nicht vermocht, ihre Heimat, das »Mahnmal unserer Leiden«, gegen die Albaner ethnisch zu verteidigen. Unterstützt von Russland und den Westmächten, haben die Serben erst gegen die Osmanen, dann gegen die Österreicher gekämpft, andere Volksgruppen unterjocht und ihnen ihre Mythen aufgezwungen. Und sie waren Nutznießer zweier Weltkriege.
Die Albaner, das am schnellsten wachsende Volk Europas, stehen nicht besser da. Es ist ihnen nie gelungen, eine verlässliche nationale Tradition auszubilden. Außer dem Haudegen Skanderbeg haben sie keine überzeugende Integrationsfigur hervorgebracht. Die Großfamilie, der Clan, war ihnen immer wichtiger als Staat, Nation und Kultur. Mafiaähnliche Strukturen dieser Familien bestimmen bis heute das Zusammenleben der Albaner. Ihnen fehlt ein politischer Führer, der Milosevic ebenbürtig wäre. Ihr Sprecher Rugova ist ein eher weltfremder Literaturprofessor, der sich in die Politik verirrt hat. Fürsprecher unter den Großmächten hatten die Albaner früher nie. Nach dem Berliner Kongress von 1878 wurde Serbien erstmals wieder seit dem 14. Jahrhundert ein selbständiger Staat. Die Albanische Liga hingegen konnte den Status einer autonomen Provinz innerhalb Serbiens nicht erreichen. Das geschah dann erst unter Tito nach dem Zweiten Weltkrieg.
Doch zuvor, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, hatte sich der Balkan zur Krisenregion ganz Europas entwickelt. Allgemeine Kriegsgefahr zog herauf, als die Völker und Staaten auf dem Balkan nicht mehr Spielbälle der Großmächte waren, sondern ihrerseits das europäische Zentrum in ihren Bann zogen. Unter russischer Anleitung schlossen Serbien und Bulgarien 1912 den Balkanbund, der sich gegen die Türken, aber auch gegen Österreich richtete. Indirekt prallten Russland und die Donau-Monarchie aufeinander. Nachdem auch Griechenland dem Bund beigetreten war, wurde der Türkei der Krieg erklärt, in dem die Osmanen rasch unterlagen. Deutschland musste darauf achten, nicht in die österreichischen Balkanangelegenheiten verwickelt zu werden. Das galt in noch größerem Maße beim zweiten Balkankrieg, der im Juni 1913 ausbrach. Die Bulgaren griffen an, wurden aber von den attackierten Serben und Griechen geschlagen. Dass Österreich Bulgarien, seinem Schützling, nicht beisprang, ging auf die deutsche Einwirkung zur Mäßigung zurück. Ergebnis war daher, dass Serbien zu Lasten der Bulgaren im Frieden von Bukarest territoriale Gewinne erzielte. Allerdings gelang es den Serben wiederum nicht, sich an der Adria festzusetzen. Hingegen wurde die Gründung eines albanischen Staates beschlossen. Der Kosovo aber blieb dank der Hilfe Rußlands bei Serbien.
Die Großmächte schützten den neuen albanischen Staat gegen serbische Gebietsansprüche und setzten den deutschen Fürsten Wilhelm zu Wied als Herrscher ein. Er konnte sich aber gegen die albanischen Clans nicht durchsetzen und gab entnervt auf. Bis 1939 konnte Albanien seine Unabhängigkeit wahren, ehe Mussolini den Anschluss an Italien erzwang. Nach dem Zweiten Weltkrieg schwang sich der Partisanenführer Enver Hodscha zum Diktator auf, der dort bis 1991 eine Art von Steinzeitkommunismus praktizierte und Albanien hermetisch abschloss.
Der balkanische Nationalismus hatte aber auch unter den Albanern Anhänger. Noch zu Titos Lebzeiten brach im Kosovo ein Aufstand der Albaner gegen die serbische Vorherrschaft aus, der blutig niedergeschlagen wurde. Tito, der versuchte, die vielen Nationalitäten eisern zusammenzuhalten, musste dem Kosovo Autonomie gewähren, die Milosevic 1989 beendete nach dem Motto: »Überall, wo Serben leben, ist Serbien!«
Das eigentlich Schlimme für Europa aber bestand darin, dass nach den beiden Balkankriegen ein bislang noch nie dagewesenes Wettrüsten einsetzte. Wegen der Unruhen auf dem Balkan verstärkte Österreich seine Armee. Russland reagierte darauf entsprechend. Und auf die russische Aufrüstung antwortete Deutschland mit einer erheblichen Vermehrung seines Heeres. Auch England und Frankreich verstärkten ihre Landstreitkräfte. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo war dann der buchstäbliche Funken am Pulverfass. Russland stand zu Serbien, und Deutschland stand zu dem von Russland bedrohten Österreich.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Serbien Teil des neugeschaffenen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen. In diesem Staat, der sich nach 1929 Jugoslawien nannte, spielte das serbische Element eine dominierende Rolle. Es kam zu erheblichen Spannungen mit den Kroaten. König Alexander löste das serbische Parlament auf und errichtete eine serbische Köngisdiktatur. Die Albaner im Kosovo verloren ihre ohnehin geringen Freiheiten. Schon damals sollte die Serbisierung des Kosovo verwirklicht werden. Ende der Zwanzigerjahre gerieten die Balkanstaaten in immer größere Abhängigkeit vom deutschen Markt.
Aus dem Zweiten Weltkrieg wollte sich Belgrad heraushalten. Als aber der deutsche Druck zu stark wurde, trat Jugoslawien dem Dreimächtepakt bei (Deutschland, Italien, Japan), ohne allerdings militärische Verpflichtungen einzugehen. Dem englischen Geheimdienst gelang es, den Luftwaffengeneral Simovic zu einem gegen Deutschland gerichteten Putsch zu bewegen. Hitler reagierte mit der Bombardierung Belgrads und dem Einmarsch deutscher Truppen, die das Land besetzten. Doch kommunistische Partisanen unter Josip Broz, genannt Tito, sowie königstreue Tschetniks verwickelten die Besatzer in einen grausamen Guerillakrieg. Bis 1944 kamen dabei über eine Million Serben und Deutsche um.
Auch dieser Widerstand wurde zum serbischen Mythos überhöht, den nun Milosevic wiederbelebt. Unentwegt laufen zur Zeit im serbischen Fernsehen Filme über den Partisanenkrieg, wird der Angriff der Nato mit dem Angriff Hitlers verglichen. Allerdings wird der Erfolg des serbischen Widerstands übertrieben. Selbst auf dem Höhepunkt der Partisanenbekämpfung 1943/44 hatte die deutsche Armee nie mehr als 100000 Mann eingesetzt, und die Wehrmacht behielt stets die Kontrolle über die großen Verbindungslinien und die großen Städte. Die Härte des deutschen Einsatzes mussten dann die dort lebenden Volksdeutschen büßen. Über sie brach ein von jugoslawischen Stämmen verübtes Strafgericht von unbeschreiblicher Grausamkeit herein.
Unter dem Protektorat Deutschlands und Italiens wurde 1941 der Kosovo Albanien zugeschlagen. Nach dem Krieg gelang es Tito mit Hilfe von Waffenlieferungen an den albanischen Staatschef Enver Hodscha, den Kosovo zurückzubekommen. Eine zentralistische serbische Politik stieß jedoch auf wachsenden Widerstand im Kosovo. Tito musste schließlich den Kosovo-Albanern ein gewisses Maß an Autonomie einräumen. Nach dem Tod Titos im Mai 1980 begann in Pristina ein Aufstand albanischer Studenten, der sich rasch über den ganzen Kosovo ausbreitete. Als Slobodan Milosevic 1987 Präsident der Republik Serbien wurde, setzte er es sich zum Ziel, den Kosovo wieder voll einzugliedern. Am 28. März 1989 wurde der Kosovo »wieder ein Teil Serbiens«. Die 600-Jahrfeier der Schlacht auf dem Amselfeld am 18.Juni 1989 anlässlich der Rückgliederung des Kosovo wurde Milosevics größter Triumph.