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Popeye
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Ahja ich hab was in amnesty international gefunden.
ai-Journal 06/2004 TÜRKEI Zunahme der Ehrenmorde in Südosten der Türkei
::roll:
Chronik eines angekündigten Todes
Nach dem Ende des Ausnahmezustandes verlagert sich die Gewalt in die Familien. Die Zahl der Ehrenmorde nimmt in den südöstlichen Landesteilen der Türkei dramatisch zu.
Die Täter hatten den Mord schon lange Zeit vorher angekündigt. Als die 22-jährige Güldünya Tören im Sommer vergangenen Jahres die Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte, schickte sie ihre Familie zu einem Onkel nach Istanbul. Sie hatte als unverheiratete Frau die Traditionen und das Ehrgefühl der gesamten Familie verletzt. Ein Schandfleck, der nach alten Traditionen geahndet werden sollte: entweder mit ihrem Tod, oder, im günstigsten Fall, mit einer Zwangsheirat.
Zunächst versuchten ihre Eltern, den Vorfall selbst zu regeln. Doch Güldünya Tören weigerte sich, eine Ehe mit dem Vater des ungeborenen Kindes, der bereits mit ihrer Cousine verheiratet war, einzugehen. Diese Weigerung war vor allem für die Männer des Clans ein unverzeihlicher Affront. Denn die Jungfräulichkeit der Braut und die sexuelle Treue der Ehefrauen im Clan-Gefüge spielen eine zentrale Rolle in ihrem Ehrenkodex.
Nach einem Monat kam ihr älterer Bruder nach Istanbul und forderte die Schwester auf, sich umzubringen. Nur so sei die Familienehre wiederherzustellen. Die Schwangere flüchtete und suchte Hilfe bei der Polizei – ein fataler Irrtum, wie sich bald erwies. Denn wie in vielen ähnlichen Fällen benachrichtigten die Beamten sofort die Familie des Opfers. Ihr Onkel und ihr Bruder stritten auf der Wache ab, Güldünya Tören jemals bedroht zu haben. Die junge Frau flehte die Polizisten an, sie nicht ihrer Familie auszuliefern. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden: Die bedrohte Frau zog zu einem pensionierten Geistlichen aus ihrem Dorf, der mittlerweile in Istanbul lebte.
Am 25. Februar diesen Jahres erschien ihr älterer Bruder in Istanbul und lockte sie aus dem Haus. Auf der Straße wartete jedoch der jüngere Bruder, der sofort auf sie schoss und sie schwer verwundete.
Der Geistliche brachte die verletzte Frau in ein Krankenhaus und informierte den Onkel. Als die Polizei erschien und Güldünya Tören fragte, ob sie Anzeige erstatten wolle, lehnte sie dies ab – die Anwesenheit ihres Onkels schüchterte sie ein, ihre Angst vor der Familie war zu groß.
Für die Beamten war der Fall damit erledigt und auch der Geistliche ging nach Hause. Das Krankenhaus fühlte sich für den Vorfall nicht verantwortlich. So blieb nur der Onkel bei dem Opfer. In den frühen Morgenstunden verließ er unter einem Vorwand das Krankenzimmer. Kurz darauf drang einer der Brüder in das Zimmer ein, schoss der Wehrlosen zweimal in den Kopf.
Die Polizei wurde in den türkischen Medien wegen der Tat heftig kritisiert. Güldünya Tören habe die Brüder nicht angezeigt oder die Beamten um Hilfe gebeten, rechtfertigte sich die Polizeiführung.
Der Fall rückte die familiäre Gewalt an Frauen in der türkischen Provinz plötzlich in die öffentliche Wahrnehmung. In der urban geprägten westlichen Türkei sind Sühnemorde wie im Falle von Güldünya Tören nicht mehr vorstellbar. Was sich jenseits der Großstädte abspielte, war hingegen bislang kaum ein Thema.
Dabei berichten Menschenrechtsorganisationen schon seit einiger Zeit darüber, dass in den kurdischen Gebieten der südöstlichen Türkei die familiäre Gewalt an Frauen zunimmt. Seit Ende der achtziger Jahre herrschten in der ostanatolischen Provinz Diyarbakir kriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Separatistenorganisation PKK.
Im vergangenen Jahr wurde der Ausnahmezustand endlich aufgehoben. Doch diese Entwicklung hat „bislang nicht zu einer wirklichen Demokratisierung geführt“, meint Muharrem Erbay, Sekretär des Menschenrechtsvereins in Diyarbakir. Die Regierung „bemüht sich zwar, die Gesetze an die EU-Normen anzupassen. Dennoch gibt es nach wie vor Fälle von Folter und willkürlichen Festnahmen“.
Auch nach dem Ende des militärischen Konflikts hörte die Gewalt nicht auf. Die Folgen des gescheiterten Unabhängigkeitskampfes sind noch überall zu spüren. Kaum eine kurdische Familie, die in den fünfzehn Jahren der Notstandsgesetze nicht mindestens ein Opfer zu beklagen hatte. Während die lokalen Menschenrechtsvereine früher hauptsächlich politische Morde anprangerten, müssen sie sich heute vorwiegend mit Übergriffen auf Frauen beschäftigen. Im vergangenen Jahr wurden in der Region 32 Frauen Opfer von Ehrenmorden, 44 wurden durch Familienangehörige getötet. Hinzu kommen 41 Selbstmorde, deren Umstände ungeklärt sind.
Von einem typischen Fall aus der Region berichtet Nebahat Akkoc, die Leiterin des Frauenzentrums Kamer. Sie erzählt die Geschichte der 15-jährigen Kadriye Demirel in Diyarbakir, die von ihrem Bruder zuerst schwer misshandelt und dann mit einem Stein erschlagen wurde.
Das Mädchen wurde von einem ihrer Cousins in der Zeit vergewaltigt, als der Bruder seinen Militärdienst absolvierte. Nach seiner Rückkehr verspotteten ihn die Nachbarn wegen seiner unverheirateten schwangeren Schwester. Darauf brachte er das Mädchen um. Der Mann erklärte vor Gericht, er habe die Familienehre wieder herstellen wollen. Wegen mildernder Umstände wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt.
Bei Morden im Namen der Ehre können die Täter bislang fast grundsätzlich mit Strafmilderung rechnen. Nach Güldünya Törens Ermordung soll das Gesetz jetzt geändert werden. Frauenverbände kritisieren es seit Jahren.
Angesichts des Ausnahmezustandes stand die Institution der traditionellen Familie über jeder Kritik. Viele suchten angesichts der feindlichen Umgebung einen Halt in überholten Traditionen. Diese Haltung rächt sich jetzt.
Es gibt aber auch einen Hoffnungsschimmer. Im lokalen TV-Sender von Diyarbakir informieren die Frauenverbände täglich über Frauenrechte, andere Initiativen haben inzwischen eine landesweite Mobilisierung ausgelöst.
ai-Journal 06/2004 TÜRKEI Zunahme der Ehrenmorde in Südosten der Türkei
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