In der kroatischen Stadt, vor dem Jugoslawienkrieg die barocke Perle Slawoniens, leben Serben und Kroaten streng getrennt. Noch immer beherrschen Ruinen das Bild. Nun soll das Schloss wieder erstehen. Kann ein Bauwerk versöhnen?
Ein Freitagabend. Menschenleere Straßen, ein paar wenige Laternen, Dunkelheit bedeckt gnädig die vielen Wunden des Krieges, der noch immer – nach 16 Jahren – präsent ist. Drei Polizisten stehen schwatzend in einem Hauseingang vor dem Marktplatz, auf dem sich in ein paar Stunden das pralle Leben dieser gequälten Stadt abspielen wird. Derzeit gibt es hier nichts zu bewachen, Vukovar liegt wie... – nein, das Wort ausgestorben wäre zynisch in einer Stadt, die vor 16 Jahren ein Ort des Sterbens war und nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurde –, Vukovar liegt wie auf einem Ruhelager, Irrlichtern gleich leuchten Reklametafeln, Hinweise darauf, dass diese Stadt nun wieder versucht aufzustehen, langsam wieder zu neuem Leben erwacht, sich von einer grausamen Geschichte zu befreien sucht.
Wer um diese Zeit Menschen antreffen will, muss eine der „Café“ genannten Kneipen aufsuchen, von denen es nur wenige gibt und die der Ortsunkundige nicht so leicht findet. Einheimische müssen zudem aufpassen, dass sie die „richtige“ finden. Denn wie kaum irgendwo sonst hat sich hier eine Art Apartheid herausgebildet: Kroaten gehen in ihr Café, kein Serbe würde sich hierher wagen, Serben in ein anderes, und dies wiederum ist für Kroaten tabu. Obwohl laut offizieller Politik die beiden Volksgruppen die Schrecken des Krieges zu überwinden trachten – viel ist davon im täglichen Leben nicht zu spüren.
Aber anders kann es wohl auch gar nicht sein in einer Stadt, in der zahllose Ruinen selbst den Gutwilligsten an jeder Straßenecke darauf stoßen, dass hier ein erbarmungsloser Krieg gewütet hat. Das Vukovar des 20.Jahrhunderts war nach dem Ende der Türkenherrschaft 1687 entstanden, die deutschen Grafen Eltz hatten 1736 ein Gebiet mit 35 Ortschaften gekauft und das „neue“ Vukovar gegründet, das in den folgenden zwei Jahrhunderten eine zentrale wirtschaftliche und kulturelle Rolle spielen sollte: Die Stadt wurde im Stile des provinziellen Barock der Zeit Maria Theresias erbaut, das Zentrum prägen einstöckige Wohnhäuser mit massiven Säulenhallen, wo die Werkstätten der Handwerker und die Läden der Kaufleute vom Reichtum der Besitzer zeugten. Vukovar entwickelte sich zur „Perle Slawoniens“.
Das alles wurde ein Opfer der „Logik des Wahnsinns“ (so der Titel eines Buches von Thomas Brey), als im Sommer 1991 die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien ausbrachen. Vukovar, an der Grenze zwischen Serbien und Kroatien an der Donau gelegen, war damit in höchster Gefahr, denn hier lebten Serben, was nach der Ideologie der Führung in Belgrad einen Anspruch auf dieses Gebiet bedeutete. Ab August begann der Bombenkrieg, der sich fast täglich steigerte, bis am 18.November 1991 die damals so genannte „Heldenstadt“ in die Hände der Jugoslawischen Volksarmee und marodierender Freischärler gefallen ist. Die zogen an diesem Tag mit einer schwarzen Totenkopffahne durch die Ruinen und sangen, sie wollten „das Blut ihrer Feinde saufen“.
Drei Monate lang hatte sich diese Stadt gegen den Ansturm der Jugoslawischen Volksarmee gewehrt, die Verteidiger waren schlecht bewaffnet, zahlenmäßig unterlegen, eingeschlossen wie eine Maus in der Falle und ohne Hilfe von außen. Was nach dem 18.November kam, waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Hier fanden die ersten organisierten Massaker in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg statt, hier gab es Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen, hier folgte eine systematische „ethnische Säuberung“.
Bis 1995 herrschten die Serben hier, sie transportierten die Ziegel der zerschossenen Häuser als Baumaterial nach Serbien, aufgebaut, gar renoviert haben sie in dieser Zeit nichts. Ab 1995 wurde Vukovar zunächst noch von der Uno verwaltet, seit 1997 ist es wieder unter kroatischer Oberhoheit. Das ethnische Verhältnis hat sich inzwischen wieder zugunsten der Kroaten verändert, sie stellen heute rund 55 Prozent der Bevölkerung. Aber über Vergangenheit und das Verhältnis der Volksgruppen zueinander wollen die meisten noch immer nicht reden, trotz langjähriger Vertrautheit kommen Gespräche nur schwer in Gang, dieses Thema belastet die Gemüter, man zieht es vor, wortreich zu schweigen. „Die einzige Beziehung zwischen uns und den Serben“, platzt es aus einem Busfahrer heraus, „ist die, dass wir keine Beziehung haben.“ Besonders empört ist man, dass auch heute noch, nachdem die Verbrechen von damals offenkundig sind und zwei der Täter sogar vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verurteilt wurden, von serbischer Seite kein Schuldeingeständnis zu hören ist. „Na ja, jeder hat halt seine Sicht der Dinge“, sagt eine Serbin ausweichend.
Im „kroatischen“ Café ist von einem Zusammenleben, von einer Versöhnung gar, keine Rede. Die Männer, die im Krieg damals blutjunge Soldaten waren und die nun mit leerem Blick die Zeit totschlagen, lässt die Vergangenheit nicht los. „Der Unterschied gegenüber anderen Kriegen ist“, meint einer schließlich, nachdem die anderen überhaupt nicht sprechen wollen, „da standen Armeen fremder Länder gegeneinander, Menschen, die sich nicht kannten. Hier aber hat der Nachbar den Nachbarn getötet. Vergessen Sie nicht, wir haben mindestens 30 Jahre zusammengelebt, zusammen gefeiert, untereinander geheiratet. Und dann kam dieser Nachbar und hat deinen Bruder getötet.“ Ein junger Bursche sitzt dabei, 25 Jahre alt, zum Zeitpunkt des Krieges also neun – aber der Hass gehört hier zum Erbgut. Auch er voller Abneigung gegen Serben, aber eigentlich, so sagt er, wolle er von der Politik nichts wissen. Sein Lebensziel ist Arbeit haben, eine Familie gründen und in Vukovar bleiben.
Am anderen Morgen, Samstag, Markttag. Die Stände brechen fast zusammen unter der Menge von Obst und Gemüse, alles in guter Qualität. Viele Serben bieten ihre Waren an, manche kommen von jenseits der Donau, aus Serbien, die meisten jedoch aus der Umgebung von Vukovar, also aus Kroatien. Wie das Zusammenleben funktioniert? Die Antworten der Serben sind fast identisch. „Bei uns im Dorf gibt es keine Probleme“, heißt es da, „alles in Ordnung!“ Einer meint: „Wir wollen ja mit den Kroaten zusammenleben, aber die nicht mit uns.“ Über die Frage der Schuld will hier niemand sprechen. Eine junge Frau möchte zunächst gar nicht reden, dann spricht sie doch: Ihr Bruder sei von den Kroaten wegen Kriegsverbrechen festgenommen worden, dabei sei er völlig unschuldig, auch Kroaten hätten dies bezeugt. Am liebsten würde sie nach Serbien auswandern, aber drüben habe sie keinerlei Verwandtschaft, hier jedoch fühle sich die Familie verfolgt.
Erstaunlich genug, dass unter all diesen widrigen Umständen noch immer Menschen bleiben wollen, trotz hoher Arbeitslosigkeit, schlechter Zukunftsperspektiven, täglicher Konflikte unter den Volksgruppen. Bürgermeisterin Zdenka Buljan ist um jeden froh, der nicht wegzieht. Stipendien sollen jungen Leuten das Leben hier attraktiv machen. Sie selbst, so sagt sie, war auch in jenem geschundenen Treck, der damals gerade noch mit dem Leben davonkam. Aber nicht mehr zurückzukommen, das wäre Verrat an den Opfern gewesen. „Der Wiederaufbau der Stadt, so schwierig er auch sein mag, ist eigentlich der leichtere Teil meiner Arbeit“, meint sie. „Viel schwieriger ist es, hier ein Zusammenleben im Geiste der Toleranz und der gegenseitigen Achtung zu organisieren.“
Versöhnung – das ist überall zu hören, aber es ist wohl nicht mehr als schöne Rhetorik. Die Abspaltung beginnt schon in der Schule: Die serbische Seite hat durchgesetzt, dass Serben und Kroaten in verschiedene Klassen gehen – die EU-Bestimmung zum Schutz von Minderheiten ausnützend. Bürgermeisterin Buljan sagt verbittert, da wäre auch eine andere Regelung möglich gewesen, aber die Serben hätten auf der Trennung bestanden. Immerhin würden die Schüler im gleichen Gebäude unterrichtet, hätten vielfältige Kontakte, in den Pausen, beim Sport, in der Freizeit. Davon, dass hier ein Miteinander eingeübt wird, kann trotzdem keine Rede sein.
Wie tief die menschlich-geistigen Verletzungen gehen, davon zeugen die Kirche der Heiligen Philipp und Jakob sowie das Franziskanerkloster. Die Kirche, von außen notdürftig repariert, innen Wände ohne Putz, bröckelndes Mauerwerk, Ziegelsteine, die über die Barbarei jener Tage zu klagen scheinen. Diese Ruine soll im nächsten Jahr restauriert werden und ihren barocken Glanz zurückerhalten. Im Kloster zeigt ein Mönch die Bibliothek, besser gesagt, das, was von ihr übrig geblieben ist. 60000 Bände waren es einst, nun sind es 17000. Einige Bücher machen den Hass anschaulich, der sich hier ausgetobt hat: durchschossen und mit einem Bajonett geschändet, die Zerstörungswut der Serben machte auch vor Kulturgut nicht halt.
Die wenigen Zeichen der Versöhnung erscheinen fast wie ein Wunder. Seit dem Spätsommer gibt es eine Fährverbindung zwischen der serbischen Seite der Donau und der kroatischen, einen kleinen Grenzverkehr sozusagen – und damit ein Stück Hoffnung. Täglich pendeln zwischen 50 und 60 Menschen zwischen Serbien und Kroatien, der Fährmann berichtet, es habe bisher noch keine Probleme gegeben. Und es gibt ein Hotel, ein Gebäude aus Glas und Beton. Das „Hotel Löwe“, gedacht als Tagungszentrum, soll der Stadt wieder Leben einhauchen. Der Besitzer Stipan Mijok lebte einst in Frankfurt, ist nun zurückgekehrt und hat in seinem Hotel auch serbische Angestellte. Denn man muss, sagt er, ob man will oder nicht, miteinander leben. „Ich schaue in die Zukunft“, meint er. „Es ist einfach, die Hand zu reichen, solange man eine hat. Und ich habe eine. Nur wer keine Hand mehr hat, kann die Vergangenheit nicht vergessen.“
Zwei Glühwürmchen der Hoffnung, und es gibt seit wenigen Tagen noch mehr: Schloss Eltz wird im Frühjahr restauriert werden, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung hat 130 Millionen Euro bereitgestellt, um dieses Wahrzeichen des barocken Vukovar wieder neu entstehen zu lassen. Das Schloss war eines der ersten Ziele der Serben, bereits im August 1991, offenbar weil in diesem 1751 vollendeten Gebäude das Stadtmuseum untergebracht war. Wenn das Schloss wieder hergestellt ist, so Museumschefin Ruzica Maric, dann wird eine Sammlung zu sehen sein, die die Kulturgeschichte von Vukovar mit einer Zeitspanne von 5000 Jahren umfasst.
Im September wurde bereits das Haus des Nobelpreisträgers Lavoslav Ruzicka (1887-1976) restauriert, einige andere in der Strossmayer-Straße imponieren ebenfalls in neu-altem Glanze. Aber die Mehrheit jener Häuser, die Vukovar zur Barockstadt machten, stehen noch immer da als Trümmerfeld, zerschossene Häuser, die so aussehen, als wäre vorgestern erst der Krieg zu Ende gegangen. Ruinen, wohin man schaut, wie die leeren Augen eines Totenschädels starren die zerschossenen Fensterhöhlen den Besucher an. Insbesondere das ehemalige Grandhotel, in kommunistischer Zeit als „Haus des Arbeiters“ missbraucht, war einst ein Schmuckstück – heute muss man schon froh sein, dass das Dach repariert ist. Ach ja, und da sind noch die Bausünden in der Innenstadt, die gesichtslosen Paläste der Banken, die in jede Großstadt dieser Welt passen – nur nicht nach Vukovar.
Es fällt schwer, in dieser Stadt den Blick nicht zurück zu richten. Eines der Wahrzeichen, der Wasserturm, der wie eine riesige Tulpe nach oben offen scheint, steht noch immer da wie eine Mahnung vor dem Kriege, zerfetzt und doch imposant. Um den Wasserturm herum stehen nun wieder Häuser, 1991 war hier nur eine Trümmerlandschaft. Wer ein Stück weiter in Richtung Stadtrand fährt, kommt nicht an den roten kleinen Schildchen vorbei, die darauf verweisen, dass hier noch immer Landminen eine tödliche Gefahr sind – fünf Jahre wird es noch dauern, bis alle Minen abgeräumt sind. Fünf Jahre, ach, das war schon im Jahr 2004 zu hören: Damals hieß es, in fünf Jahren sei Vukovar wieder aufgebaut. Nun sind schon drei Jahre vergangen, und die Stadt blutet noch immer aus vielen Wunden. Aber selbst wenn Vukovar eines Tages wieder aufgebaut sein wird: Die Barockstadt von einst wird es trotzdem nicht mehr sein.
© Rheinischer Merkur Nr. 1, 03.01.2008