Wenn man überall sitzt, sitzt man nirgends (der Fall Aleksandar Vučić)
Geht die serbische Außenpolitik des Sitzens auf vier Stühlen zu Ende?
Enver Robelli
Gut mit Russland. Gut mit China. Gut mit der Europäischen Union. Gut mit den USA. Das war jahrelang das Motto des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić. Man nannte es die Politik des Sitzens auf „vier Stühlen“. Warnungen aus Brüssel und Washington, dass diese Politik Belgrads nicht lange toleriert werden würde, wurden von den serbischen Machthabern nicht ernst genommen.
Vučić versuchte, das Ego der Familie Donald Trumps zu streicheln, indem er ihr ein großes Grundstück in Belgrad versprach, auf dem der Schwiegersohn und die Söhne Trumps ein Luxushotel, 1500 Wohnungen und zahlreiche Geschäftsflächen errichten sollten. Dieses Vorhaben wurde jedoch von der serbischen Justiz gestoppt, nachdem Manipulationen im Verfahren zur Vergabe des Grundstücks an die Familie Trump aufgedeckt worden waren. Am Montag erhob die serbische Staatsanwaltschaft für organisierte Kriminalität Anklage gegen einen Minister und drei weitere Beamte aus dem Bereich des Kulturerbes. Wenige Stunden später teilte Jared Kushner, Trumps Schwiegersohn, mit, dass er beschlossen habe, sich aus dem Projekt in Belgrad zurückzuziehen, das er in den vergangenen Monaten noch in den höchsten Tönen gelobt hatte. In diesem Jahr hatte Vučić Kushner und Trumps Sohn (Donald Trump Jr.) mit großem Tamtam in Belgrad empfangen.
In der Mitteilung von Kushners Firma über das Begraben der Investitionspläne in Belgrad – genauer gesagt an dem Ort, an dem sich heute die Ruinen des Generalstabs der jugoslawischen und serbischen Armee befinden – hieß es, dies geschehe aus Respekt gegenüber dem serbischen Volk und Belgrad. Von Respekt gegenüber Vučić, den Mitglieder der Familie Trump als Partner betrachteten, war keine Rede.
Im Mai dieses Jahres erschien Vučić in Florida mit dem Wunsch, an einer Sitzung der Republikanischen Partei teilzunehmen, wobei er hoffte, Donald Trump zu treffen. Der Besuch wurde plötzlich abgebrochen, mit der offiziellen Begründung, Vučić verspüre starke Schmerzen in der Brust, und der serbische Präsident kehrte nach Belgrad zurück. Das Magazin „Vreme“ fragte damals: Brustschmerzen oder diplomatisches Fiasko?
Die monatelange Umwerbung des Trump-Clans, in der Hoffnung, neben deren Investition in Belgrad auch die amerikanischen Sanktionen gegen die serbische Ölindustrie NIS zu vermeiden – die zu 45 Prozent dem russischen Staatskonzern Gazprom Neft gehört, zu 11 Prozent einer Gazprom-Neff-nahen Firma und zu 30 Prozent dem serbischen Staat –, brachte nicht das gewünschte Ergebnis. Die Sanktionen, zunächst von Präsident Joe Biden angekündigt, traten unter der Regierung Trump in Kraft.
Vučić lehnte die Forderung der Europäischen Union ab, Russland wegen der Aggression Moskaus gegen die Ukraine mit Sanktionen zu belegen. Um Brüssel (und Washington) zu beruhigen, begann der serbische Präsident ein Spiel: Serbische Firmen belieferten die Ukraine mit Munition und Waffen, allerdings nicht direkt, sondern indem sie Waffen an einige europäische Staaten verkauften, die diese anschließend nach Kiew weiterleiteten. Vučić erklärte, er wisse nichts von diesem Geschäft, er sei nicht verantwortlich dafür, wohin andere Länder die Waffen lieferten, und so weiter. Laut der Zeitung „Financial Times“ haben serbische Unternehmen Waffen im Wert von rund 800 Millionen Euro verkauft. Diese Waffen landeten in der Ukraine.
Die Machthaber im Kreml mögen vieles sein, aber weder dumm noch naiv. Vučić wusste, dass in Moskau der Unmut über sein doppeltes Spiel wuchs: Einerseits weigerte er sich, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, andererseits verkauften serbische Firmen Waffen für die Ukraine. Um die Spannungen zu mindern, nahm Vučić Anfang Mai an der Militärparade in Moskau teil, die das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren markierte. Dies war ein Affront gegen die EU, da Serbien Beitrittskandidat ist und die EU gegen den Besuch war. Einige EU-Staaten untersagten Vučić sogar, auf dem Weg nach Moskau ihren Luftraum zu überfliegen.
Falls Vučić mit dem Besuch in Moskau gedacht haben sollte, er könne die Russen täuschen, war dies eine Fehlkalkulation. Denn Ende Mai beschuldigte der russische Geheimdienst SWR Serbien (sprich: Vučić), den russischen Brüdern „ein Messer in den Rücken zu stoßen“. Ziel der Waffenlieferungen aus Serbien an die Ukraine sei es, russische Soldaten und Zivilisten zu töten und zu verstümmeln. „Offenbar hat der Wunsch der serbischen Waffenhersteller und ihrer Unterstützer, vom Blut der brüderlichen slawischen Völker zu profitieren, sie völlig vergessen lassen, wer ihre wahren Freunde und wer ihre Feinde sind“, erklärte der SWR.
In dieser Woche wurde bekannt, dass vor einem Monat (am 17. November) in Moskau Radomir Kurtić auf der Straße gestorben ist. Er war Vertreter des staatlichen serbischen Rüstungsunternehmens „Jugoimport SDPR“. In regierungsnahen serbischen Medien wurden Vorwürfe gegen Moskau erhoben, da die serbischen Geheimdienste keinerlei Informationen von den russischen Diensten über den verdächtigen Tod von Radomir Kurtić erhalten hätten. Eine Kommission von „Jugoimport SDPR“ inspizierte die Büros in Moskau und stellte fest, dass eine Reihe von Dokumenten sowie die Festplatte eines Computers fehlen. Es scheint, dass nicht nur der „serbische Stuhl“ in Washington, sondern auch jener in Moskau zu wackeln beginnt.
Die Beamten in Brüssel haben sich gegenüber Vučić äußerst tolerant gezeigt. Sie haben ihn gelobt, als Hunderttausende Serbinnen und Serben nach dem Einsturz eines Teils des Bahnhofsdachs in Novi Sad (16 Tote) auf die Straßen gingen und gegen ihn protestierten. Sie nannten ihn einen Partner. Sie luden ihn zu Abendessen ein. Sie besuchten ihn in Belgrad. Sie setzten ihn nicht unter Druck, als eine dem Regime nahestehende Terrorbande den Kosovo angriff, einen Polizisten tötete und einen weiteren verletzte. Sie ließen ihn ungestraft spotten, als er sagte, er könne ein Abkommen mit dem Kosovo nicht unterzeichnen, weil ihm die Hand weh tue. Ohne Konsequenzen bleibt auch die jahrelange antieuropäische Kampagne der regimetreuen Medien, die unablässig den Westen beschuldigen, Vučić ermorden zu wollen – während gleichzeitig aus dem Westen Milliarden fließen, um Serbien fit und entwickelt für den EU-Beitritt zu machen. In dieser Woche nahm Serbien nicht am EU-Gipfel mit den Ländern des Balkans teil. „Letztlich ist das seine Entscheidung“, kommentierte eine EU-Sprecherin. Auch dieser „serbische Stuhl“ hat zu wackeln begonnen.
Vorerst scheint nur noch der „serbische Stuhl“ in Peking vier Beine zu haben. In dieser Woche kündigte Vučić einen Besuch in China an. Seinen Worten zufolge sei dieses Land „ein aufrichtiger und stählerner Freund Serbiens“.