Mythos Amselfeldschlacht
Aber Emotionen sind oft stärker als die Vernunft, Legenden lebendiger als die Geschichte. Die Tatsache, dass die Gemahlin Lazars, Fürstin Milica, die Oberhoheit des neuen Sultans Bajezid I. anerkennen musste (nicht lange nach der Schlacht begann der ungarische König Sigismund 1390 oder 1391 einen Feldzug gegen das stark geschwächte Serbien, der nur mit osmanischer Hilfe abgewehrt werden konnte), sowie die Eroberung Serbiens durch die Osmanen 1459, machten aus der Schlacht auf dem Amselfeld eine Niederlage und zugleich den größten Sieg der Serben überhaupt in ihrer Geschichte. Die Legende, die im serbischen Volksepos bis heute weiterlebt, stilisiert das Vordringen der östlichen Heere zu einem Kampf zwischen Gut und Böse. Fürst Lazar habe die Wahl gehabt zwischen einem irdischen und einem himmlischen Reich und hat sich für das ewige Leben entschieden. Da er einen Märtyrertod starb, wird er von der orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt. Fürst Lazar represäntiert zugleich das serbische Volk, da er stellvertretend für alle Serben das Gute wählte und der Welt abschwor, der gleichen Welt, die den Serben Jahrhunderte lang eine brutale Fremdherrschaft aufzwang. Sein Opfer und die seiner Ritter und Soldaten bewahrten Serbien vor einer Islamisierung.
Neben Fürst Lazar ist Milo? Obili? die andere zentrale Gestalt des Amselfeldmythos. War Fürst Lazar der weiseste Herrscher, den die Serben jemals hatten, so war Milo? Obili? ihr größter Held. Zahlreiche Heldentaten werden ihm nachgesagt, und er verkörperte die Ritterlichkeit in Person schlechthin. Nach der Legende kam er aus dem Raum Po?arevac und war ein Feldherr Lazars. Ihm zur Seite standen seine Blutsbrüder Ivan Kosan?i? und Toplica Milan, der eine so groß und der andere so schön wie kein anderer (sie sind Hauptpersonen u.a. im Volksepos Das Mädchen vom Amselfeld, das ihren Verlobten Toplica Milan unter den Gefallenen sucht). Andere Helden der Amselfeldschlacht waren Pavle Orlovi?, der Bannerträger Lazars (ebenfalls Hauptperson im Volksepos Das Mädchen vom Amselfeld, das Mädchen leibt den schwerverwundeten Pavle Orlovi?, der in ihren Armen stirbt), Stefan Musi?, ein edler Ritter (der in wahrer Nibelungentreue seinem Untergang entgegenreitet), der alte Jug Bogdan und seine Söhne, die neun Jugovi?i (eines der ergreifendsten Volksepen ist der Tod der Mutter der neun Jugovi?i), und insbesondere Banovi? Strahinja, der es an Mut und Ritterlichkeit mit Milo? Obili? aufnehmen konnte (so kämpfte er von allen in Stich gelassen alleine gegen die Türken und besiegte sie, als diese ihm seine schöne Gemahlin entführten, während sie ihm untreu wurde; und selbst da bestrafte er sie nicht, vielmehr übergab er ihr seinen ganzen Besitz und ging von dannen). Und weil Milo? Obili? so edel war, hatte er viele Neider, und der Fürst Vuk Brankovi? war einer von ihnen. Von diesem am Vorabend der Schlacht des Verrates beschuldigt schwor Milo?, noch am nächsten Tag den Sultan umzubringen, um so seine Unschuld zu beweisen, selbst wenn er dabei umkommen sollte. Was er auch tat, indem er sich den Türken ergab und einen Überlauf zu ihnen vortäuschte. Der Sultan, darüber erfreut, dass der größte und edelste Held Serbiens ihm huldigen und ihm ein Geheimnis anvertrauen wolle, vergaß alle Vorsicht und ließ Milo? an sein Zelt herantreten. Dort hat sich Milo? demütig in den Staub geworfen. Milo? gab vor, dem Sultan den Fuß zu küssen, und als er nahe genug war, riss er ein verborgenes Kurzschwert aus dem Gewand und stieß es dem Sultan in den Leib. Er selbst fiel unter den Säbelhieben der Leibwache. Wie wahr diese Legende ist, Tatsache ist, dass gleich nach der Amselfeldschlacht die Kunde von einem christlichen Ritter umherging, der den Sultan Murad I. umgebracht haben soll. Dieser christliche Ritter wurde anschließend getötet. Selbst im Fermam (Bulle) von Bajezid I. an den Kadi von Bursa und an den Adeligen Süleyman Beg wird ein Milo? Kupili als Mörder seines Vaters genannt. Die Geschichte selbst kennt nirgendwo einen Milo? Obili? außer in den Überlieferungen, nirgendwo steht etwas über ihn geschrieben, weswegen die moderne Geschichtsforschung u.a. davon ausgeht, dass Milo? Obili? eigentlich Nikola Vratkovi? hieß, mit dem Beinamen Milo? (der Liebliche), und der Bruder der Gemahlin Lazars, der Fürstin Milica war. Als Milo? Nikola war er zu Lebzeiten bekannt. Den späteren Nachnamen Obili? - in frühesten Versionen Kupili, Kobilovi? oder Kobili? - soll Milo? Nikola aus dem türkischen Wort kubila für Mörder bekommen haben. Und tatsächlich nennt der türkische Historiker Idris Bitlisi im 15. Jahrhundert einen gewissen Milo? Nikola als den Sultansmörder.
Wie dem auch, Legende ist nicht gleich Geschichte, und die Legende kennt auch den Verräter Vuk Brankovi?. Steht Milo? Obili? für die Ritterlichkeit in Person, so ist der Fürst Vuk Brankovi? der Verräter schlechthin. Er habe nicht nur aus Neid Milo? Obili? der Untreue beschuldigt, er selbst war die Untreue, der nach der Fürstenkrone Lazars strebte und diesen auf der Amselfeldschlacht verriet. Erst durch den Rückzug seiner Truppen wurde der Sieg der Osmanen möglich und Serbien damit von den Türken erobert. Er, der Verleumder und Verräter, sei schuld für den Untergang Serbiens, er ist der serbische Ephialtes, dessen Namen (fast) jeder Serbe verflucht. Die moderne Geschichtsforschung ist nicht ganz dieser Meinung. Vuk Brankovi? war nicht selbst Fürst und mit einer Tochter Lazars verheiratet, er selbst entstammte einem weit älteren Adelsgeschlecht als der Aufsteiger Lazar und herrschte über die serbische Königsstadt Prizren wie auch über die serbische Kaiserstadt Skopje. Im innerserbischen Machtkampf unter den Fürsten Serbiens war es natürlich, dass sich Vuk Brankovi? gegen eine immer stärker werdende führende Stellung Lazars wehrte. Doch gerade deswegen verkörpert er den machtbesessenen serbischen Adel, dessen Streit um die Kaiserkrone den Vormarsch der Türken angeblich erst ermöglichte. Auch auf der Amselfeldschlacht ermöglichten er und seine Truppen die Bedrängnis der Türken, und ist nicht, wie die Legende berichtet, davon geritten. Doch während der osmanischen Fremdherrschaft mochte das einfache Volk keine komplizierten Erklärungen, es suchte nach klaren Helden und nach klaren Bösewichten. Und neben einem Lazar konnte kein Vuk Brankovi? bestehen.
Eine weitere epische Person, die mit dem Amselfeldmythos in Verbindung gebracht wird, obwohl sie an der Schlacht auf dem Amselfeld nicht teilgenommen hat (zumindest in der epischen Darstellung), ist der Königssohn Marko, serb. Kraljevi? Marko. Neben Milo? Obili? der größte Held aller Zeiten, erschien der Königssohn Marko zu spät auf das Schlachtfeld. Deswegen überlebte er als einziger serbischer Held. Ihm wird von einer Fee prophezeit, der größte Held Serbiens zu werden und zugleich dem türkischen Sultan dienen zu müssen. Historisch ist er der Sohn des Königs Vuka?in Mrnjav?evi?. Nach der Schlacht an der Mariza, wo sein Vater fiel, musste Marko Mrnjav?evi?, der die Königswürde annahm, aber von keinem serbischen Fürsten anerkannt wurde, die osmanische Oberhoheit anerkennen. Er herrschte im heutigen Mazedonien um die Stadt Prilep. Vielleicht hat er auch an der Amselfeldschlacht als osmanischer Vasall teilnehmen müssen. Marko Mrnjav?evi? starb 1393 oder 1394 in der Schlacht bei Rovine, als Bajezid I. einen Feldzug gegen die Walachei führte. Seine letzten Worte waren angeblich, dass er lieber sterben möchte, wenn dafür die Christen siegen würden. Ihm serbischen Volksepos lebt der Königssohn Marko 160 Jahre. Von seiner Burg Prilep reitet er gegen türkische Bösewichte, um Jungfrauen die Keuschheit zu retten. Trotz strengen Verbotes des Sultans trinkt Marko Wein auch zum Ramadan. Er kämpft für den Sultan bis nach Arabien. Er ist der Blutsbruder Filips des Ungarn (historisch Philipus Hispanus de Scolaris, ein Toskaner, der ungarischer Feldherr wurde und das Bündnis Stefan Lazarevi?s mit Ungarn 1402 in die Wege leitete). Er besiegt für den Sultan Musa Kesed?ija, der in Albanien einen Aufstand gegen den Sultan führt (siehe Skanderbeg). Die Fee Radoila (keltisch für Mädchen) beschützt und beratet ihn. Und als er sterben soll, kündigt ihm dies die Fee mit den Worten: Der Tag ist da! Ohne zu fragen und zu zögern köpft Marko sein Pferd und bereitet ihm ein feierliches Begräbnis. Er zerbricht seine Lanze und rammt sein Schwert in einen Fels. Nur der Griff ragt heraus, und erst wenn ein neuer Held kommt gleich ihm, soll das Schwert wieder auftauchen. Er legt sich ins Gras, stirbt nicht, lebt aber auch nicht weiter. Viele Reisende ziehen vorüber, die allesamt glauben, dass Marko nur schläft. Erst der Abt vom Hilandar erkennt, dass Marko gestorben ist, er beweint und beklagt den Helden, und bringt seine sterblichen Überreste ins Kloster Hilandar.
Die Schlacht auf dem Amselfeld leuchtete den Serben wie eine Art Licht durch die türkische Nacht. Neben den alten Griechen vermochte kein anderes Volk Südosteuropas, einen derart emotionalen und komplexen Epos zu schaffen, wie die Serben um die Schlacht auf dem Amselfeld.
Und als im 19. Jahrhundert der erste serbische Staat erneuert wurde, da wurde der Amselfeldmythos zum nationalen Vermächtnis, ganz Serbien zu befreien und das einstige Serbische Reich wieder auferstehen zu lassen.