Kunst zwischen vier Fronten
Der türkische Historiker Cem Özgönül liest die deutschen Akten zum Armenier-Massaker neu und entdeckt erstaunliche Retuschen
von Boris Kalnoky
Es gibt in der Türkei keine Armenier mehr, und vor 1915 gab es sehr viele. Darüber, was mit ihnen geschah, und ob ihre damalige Deportation durch die osmanische Regierung sowie der Tod Hunderttausender von ihnen als Völkermord zu bezeichnen ist oder nicht, darüber wird neuerdings mit frischer Heftigkeit gestritten. Es ist eine der giftigsten historischen Debatten, in die man sich begeben kann.
Vorweg: Nach der Meßlatte heutigen internationalen Rechts ist ein Völkermord wohl gegeben. Aber die sogenannte Genozidthese geht in ihrer radikalsten Ausprägung weiter. Sie behauptet eine Vergleichbarkeit mit dem Holocaust. Ihre Eckpunkte sind "1,5 Millionen Opfer" und eine rassistisch motivierte Vernichtungsabsicht der damals regierenden Jungtürken. Die türkische Seite spricht dagegen von rund 300 000 Opfern, die meist durch Krankheiten und Unterernährung starben, streitet eine Vernichtungsabsicht ab, und sieht die Vertreibung als eine militärisch notwendige Operation, nachdem armenische Freischärler sich gegen die Türken erhoben und teilweise die türkische Zivilbevölkerung massakriert und vertrieben hatten.
Wo die Wahrheit liegt, man wüßte es gern. Vermutlich irgendwo dazwischen. Immerhin wird derzeit, dem türkischen EU-Beitrittsbegehren sei es gedankt, so viel geforscht wie selten zuvor. Zumindest auf türkischer Seite, mit dem klaren Ziel, den Genozidvorwurf zu entkräften. Vergangene Woche richteten türkische Historiker in Istanbul eine Konferenz aus, auf der ein Neuling in der Szene, Cem Özgönül, ein Buch vorstellte ("Mythos eines Völkermordes", Önel-Verlag 2006). Es handelt sich um den ersten umfassenden Versuch eines deutsch-türkischen Historikers, die deutschen Akten zur armenischen Tragödie zu bewerten - die Originale und die oft anders lautenden Versionen in einer Aktenedition (1919) des deutschen Pfarrers und Armenierfreundes Johannes Lepsius. (Diese Dokumente bilden das Fundament der Genozid-These.) Es ist zugleich, trotz mancher Schwächen, wohl das beste Werk in deutscher Sprache, das die türkischen Argumente synoptisch zusammenfaßt.
Özgönüls Buch ist interessant, aber noch interessanter war die Reaktion. Kaum stand ein Artikel über die Konferenz, in dem Özgönüls Buch erwähnt wurde, im Internet, kam es, buchstäblich binnen Stunden, zu heftigen Reaktionen der prominentesten deutschen Verfechter der Genozidthese, Wolfgang Gust und Tessa Hoffmann. Gust räumte dann ein, das Buch nicht gelesen zu haben, verriß es aber gleichwohl im Deutschlandradio in Bausch und Bogen. Tessa Hoffmann meldete sich im WDR zu Wort, und bezeichnete das Werk "bei näherem Hinsehen als alten Hut", aber noch näheres Hinsehen zeigte, daß auch sie das Buch nicht gelesen hatte.
Wolfgang Gust, der eine umfassende kritische Aktenedition der Lepsius-Dokumente herausgegeben hat (
www.armenocide.de), erklärt die teilweise krassen Manipulationen Lepsius' mit dem Wunsch, Deutschland zu entlasten. Özgönül nimmt dieselben Dokumente und andere, die Gust nicht verwendet - etwa Zeugnisse aus dem in Yale befindlichen Jäckh-, sowie dem darin integrierten Humann-Nachlaß - und argumentiert, es gehe Lepsius vor allem um Verzerrungen zugunsten der Armenier, um armenische Autonomie-Ambitionen bei den Friedensverhandlungen von Versailles zu fördern. Die Manipulationen dienten unter anderem der Verharmlosung des armenischen Aufstandes und einer Übertreibung der Opferzahlen des Genozids. Andererseits würden auch besonders übertriebene Opferzahlen nach unten korrigiert, um die Glaubwürdigkeit zu wahren.
Ein Beispiel: Lepsius zitiert den deutschen Vizekonsul Kuckhoff aus Samsun mit folgendem Telegramm: "An deutsche Botschaft, Konstantinopel. Regierung verhängte Ausweisung des gesamten armenischen Volkes nach Mesopotamien." Es fehlt aber der Zusatz des Originals: "(...) wegen allgemeiner Verschwörung und Verrat wie Verwüstung einiger Städte Anatoliens und Tötung von deren muselmanischer Bevölkerung (...)". Damit ist der vorangegangene armenische Aufstand wegretuschiert.
Lepsius äußert sich zu seinen Motiven selbst, wie bereits in Gusts Edition nachzulesen: "Es war eine Kunst zwischen den vier Fronten, Entlastung Deutschlands, Belastung der Türkei, Reservebedürftigkeit des Amtes und Vertrauensgewinnung der Armenier (...)".
Lepsius wurde gleich nach Herausgabe seiner Edition von führenden deutschen Militärs angegriffen, daß seine Fakten nicht stimmten - von eben jenen Leuten also, die Lepsius, Gust zufolge, von einer Mitschuld entlasten wollte. Oberstleutnant Felix Guse, damals Stabschef der III. osmanischen Armee, zweifelte Lepsius' Opferzahlen an, sah sie eher bei "300 000"und schrieb: "Wenn es einige Hunderttausend mehr oder weniger sind, es bleibt gleich grauenvoll. Das Schlagwort von der Ausrottung der Armenier aber ist falsch, denn am Schluß des Weltkrieges gab es immer noch ein starkes armenisches Volk."
Eine solche Aussage überrascht jeden Laien, der entsprechend der vorherrschenden Meinung davon ausgeht, daß es 1917 kaum noch Armenier in den armenischen Gebieten gegeben haben kann (1,5 Millionen Todesopfer). Özgönül zitiert einen verblüffenden Brief von 1918 des Vorstands der von Lepsius gegründeten Deutsch-Armenischen Gesellschaft an Reichskanzler Graf Georg von Hertling. Wortlaut: "Die Wünsche der Armenier gehen auf innere Autonomie, Selbstverwaltung der 6 armenischen (ostanatolischen) Provinzen (...) Wie bereits betont, sind die Provinzen jetzt von Mohammedanern größtenteils entleert; die Armenier (...) bilden jetzt auch in diesen Gegenden, wo es früher keine armenische Mehrheit gab, die Mehrzahl der Einwohner. Die Frage der Autonomie ist daher erheblich leichter lösbar als früher."
Mit anderen Worten: Lepsius' eigener Organisation zufolge bilden die eigentlich "ausgerotteten" Armenier Anfang 1918 die Bevölkerungsmehrheit. Des Rätsels Lösung laut Özgönül (aber er folgt da nur einer Reihe anderer Historiker): Viele der totgesagten Armenier flohen auf die russische Seite und kehrten mit der russischen Armee zurück. Ihren Träumen vom eigenen Staat machte dann der türkische Unabhängigkeitskrieg nach dem Weltkrieg ein Ende.
Einen Genozid hat es gegeben, die Deportation selbst reicht da als Argument völlig, und auch wenn es am Ende "nur" 300 000 Opfer waren, so ist dies furchtbar genug. Das Schlagwort "Genozid" sollte aber nicht in ein Verbot ausarten, sich zu fragen, was wirklich passiert ist.
Artikel erschienen am Mi, 22. März 2006
http://www.welt.de/data/2006/03/22/863253.html