Hier ein bemerkenswerter Versuch des türkischstämmigen Abgeordneten Cem Özdemir, der für die GRÜNEN im Europaparlament arbeitet, diese Debatte zu entemotionalisieren und beiden Seiten gerecht zu werden (Interview aus der TAZ von heute):
Der Linksparteipolitiker Hakki Keskin hat den Völkermord an den Armeniern 1915 angezweifelt - und einen Skandal provoziert. Das Wichtige aber passiert in der Türkei, wo sich das Armenien-Tabu lockert, meint Cem Özdemir.
taz:
Herr Özdemir, der Ex-Chef der türkischen Gemeinde und Linksparteipolitiker Hakki Keskin behauptet, dass es "keine Belege für einen Völkermord" an den Armeniern in der Türkei 1915 gebe. Hat er Recht?
Cem Özdemir:
Die Mehrheit der Historiker bezeichnet das, was 1915 passierte, als Völkermord. Und es gibt keinen seriösen Historiker, der zweifelt, dass es 1915 zumindest ethnische Säuberungen gab. Gerade linke Politiker sollten Empathie für die Opfer zeigen und dem Nationalismus eine Absage erteilen. Das sieht man bei der Linkspartei offenbar anders. Die Linkspartei soll ein ganz großes Bündnis sein, bei dem sich PKK-Sympathisanten als auch türkische Nationalisten wohl fühlen können.
Die Linksfraktion hat jüngst erklärt, dass es einen "Völkermord" an den Armeniern gab: Das ist doch eindeutig.
Trotzdem: Die PDS kalkuliert doch bewusst mit Figuren wie Keskin, um nationalistische türkischstämmige Wähler einzusammeln - und versucht gleichzeitig ultralinke PKK-Sympathisanten zu gewinnen. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie demnächst noch einen Vertreter der armenischen Diaspora aufstellt.
Es geht aber nicht nur um die Linkspartei. Keskin sagt, was die Mehrheit der Deutschtürken denkt. Kein Wunder, dass türkische Gemeinde und Ditib sich mit ihm solidarisieren.
Die repräsentieren nicht automatisch die Mehrheit der Deutschtürken. Aber ich glaube, wir sollten die Debatte vom Begriff des Völkermordes zunächst lösen. Denn das führt zu falschen Solidarisierungen. Wenn man sagt, dass sich 1915 schreckliche Dinge ereignet haben, stößt man in der türkischen Community viel eher auf offene Ohren. Mein Freund Hrant Dink schrieb mal: "Wenn die Armenier heute noch leben würden, wäre Van das Paris des Ostens". Dies verstehen auch konservative Türken, weil sie wissen, dass es stimmt.
Dass sich 1915 Schreckliches ereignet hat, leugnen weder Keskin noch der türkische Staat. Sie sagen: Es sind hunderttausende Armenier gestorben, aber auch viele Türken. Es gab keine geplante Vernichtung, die Armenier wurden letztlich zufällig Opfer der Verhältnisse im Ersten Weltkrieg.
Aber Sie müssen doch sehen, dass sich in der Türkei derzeit viel ändert. In Fernsehdiskussion treten auch armenische Journalisten und Publizisten auf. Dort gibt es vorsichtige Lockerungsübungen, die bei der türkischen und übrigens auch der armenischen Diaspora in Deutschland noch nicht richtig angekommen sind. In der Türkei ist man mitunter weiter als die Keskins hierzulande, die noch immer altes Denken verbreiten. In der Türkei werden heutzutage in TV-Debatten Positionen vertreten, mit denen ich hierzulande in der türkischen Community manchmal auf Unverständnis stoße.
Weiter